Theater ist mein Leben. Ich glaube, es gibt keine dramatischere, melodramatischere, klischeehaftere Art, einen Text zu beginnen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mit 18 Jahren beschloss ich, dass ich mich dem Theater widmen würde und seitdem hat mein Leben nicht aufgehört, sich zu verändern. Theater ist nicht das, was ich in meinem Leben mache, sondern das Theater ist mein Leben. Ich denke und handle beim Aufstehen und ins Bett gehen in dem Koordinatensystem des Theaters. Ich erlebe die Stadt, das Land, die Welt durch die theatralische Linse, für die ich mich in meinem Leben entschied. Ich mache Theater und das Theater macht mich. Das klingt ein bisschen pupsig, simpel und billig, aber so ist es.
Ich kann Veränderungen in meinen Gedanken und in meinen alltäglichen Haltungen feststellen, die im Zusammenhang mit dem stehen, was in meinen Proben oder in einer Inszenierung passiert. Szenische Lösungen, die sich oft in Problemlösungen in anderen Bereichen meines Lebens übersetzen und viceversa. Wenn es mir in meinem Leben gut geht, mache ich besseres Theater, und wenn ich eine schlechte Zeit habe, erschaffe ich nur miserable Beziehungen in meinem Kreationsprozess. Ich denke nicht, dass das Allgemeingültigkeit besitzt, es ist einfach bei mir so.
Ich mache Theater nicht mit dem Ziel, dass es allen gefällt. Im Gegenteil, ich versuche verschiedene Geschmacksurteile zu erzeugen, Unterschiede zu fördern, und schon im Publikum vorhandene zu vertiefen. Ich tue nicht so, als ob ich nicht, wie alle Welt auch, geliebt werden möchte. Aber ich verfolge das nicht im Theater. Heiner Müller hat gesagt, dass die Zuschauer schon mit großen Unterschieden den Theatersaal betreten würden, und dass es vollkommen sinnlos sei, wenn das Theater danach streben würde, dass alle Zuschauer gleich dächten. Dass das faschistisch sei, und dem stimme ich zu.
Mir gefällt jenes Theater, das Differenzen vergrößert, so wie mir auch die Demokratien gefallen, die auf der Unterschiedlichkeit ihrer Bürger gründen und nicht auf deren Ähnlichkeiten. Ich glaube, dass eine Demokratie, die versucht, mit den Ähnlichkeiten zu arbeiten, die Unterschiede versteckt und verschiebt. Aus diesem Grund kehrten wir letztendlich zur Arbeit für Toleranz und Diversität zurück. Denn wir sind nicht alle gleich und wir sollten nicht alle gleich behandelt werden. Es gibt Menschen, die verwundbarer sind als man selbst, die angreifbarer und schwächer sind. Und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die stärker, mächtiger, stabiler sind.
Das Theater ist im Wesentlichen identisch mit den Beziehungen, die es herstellt, sowohl zwischen den poetischen Elementen der Inszenierung (Schauspieler, Kostüme, Beleuchtung, Bühnenbild, Musik) wie auch mit dem Zuschauer. Ich nehme die Welt, die mich umgibt, über diese Beziehungen wahr, definiere mich und vieles von dem, was ich fühle und denke anhand dieser Beziehungen. Wenn ich zu einer Gruppe von Beziehungen und folglich von Personen gehöre, kann es passieren, dass sich ein anderer, der nicht zu diesem Beziehungssystem gehört, aus dieser Welt ausgeschlossen fühlt und sich sodann eine Ideologie und Argumentationsweise zurecht legt, die begründet, warum es schlecht ist, zu meinem Beziehungsgeflecht zu gehören.
Zu einem Netz von Beziehungen dazuzugehören, ist einer der größten Wünsche überhaupt auf der Welt. Wir wollen alle zu einer Gruppe dazugehören, zu einer Klasse, zu einer Firma, zu einem Sektor. Und viele Menschen bauen ihr Glaubens- und Wertesystem auf dieser Gruppenzugehörigkeit auf. Ich habe es schon tausendmal erlebt, dass Personen aus dem einfachen Grund schlecht von anderen Gruppen reden, weil sie nicht Teil dieser Gruppen sind. Im Theater passiert es andauernd, das jemand schlecht von einem Stück spricht, weil er nicht dabei ist, oder man redet schlecht über einen Regisseur, weil dieser einen nie engagiert. Das Interessante daran ist, zu beobachten, wie das, was als ein Gefühl, ein Ressentiment beginnt, sogleich in eine ablehnende Argumentation verwandelt wird, bis man dann sagt, dass man nicht an einem bestimmten Ort oder in einem Stück mitarbeitet, weil man nicht einverstanden ist mit…bla…bla. Aber die Erfahrung zeigt, wie die Argumentationsweisen, die auf schwachen Überzeugungen fußen, bei vielen von uns dazu führen, dass wir am Ende etwas machen oder kreieren, was wir früher abgelehnt hätten. Und es geht nicht darum, das System von Beziehungen auszutricksen oder zu lockern, sondern darum, keine falschen argumentativen Eckpfeiler zu errichten, die auf Empfindlichkeiten gründen und nicht auf klugen Gedanken.
Dasselbe habe ich in meinem Leben beobachtet. Leute sprechen schlecht von einem Ort, weil sie nie dorthin eingeladen worden sind, Personen argumentieren gegen eine Kultur, nur weil sie nicht die ihre ist. An irgendeinem Punkt ist es so, als würde die Existenz des Anderen ein Angriff auf meine eigene Existenz darstellen, nur weil er existiert. Tschechow fragte es bereits: Warum schubsen sie sich, wenn doch Platz für alle da ist?
Mir gefällt es, wenn mein Theater (falls so etwas existiert) Ärger und Missfallen im Publikum auslöst. Sollen sie sich mit mir streiten und mit ihren eigenen Überzeugungen, unter sich und über ihre Ideen. Die Herausforderung besteht nicht darin, gutes Theater zu machen. Gutes Theater – das, welches gefällt, unterhält, beruhigt – zu machen, ist einfach und es gibt Hunderte von Kreisen, die damit ein gutes Geschäft machen. Die wahrhaftige Herausforderung besteht darin, ein Theater zu machen, das uns vor den Kopf stößt, das uns bewegt, das uns stört, das uns motiviert, alles zu überdenken … alles. Ein Theater, an dem wir zweifeln, so wie wir an uns selbst zweifeln. Ein Theater, das die tiefsten Wurzeln unser Überzeugungen umgräbt. Ein Theater, das uns dazu bringt, verärgert aus dem Saal zu gehen – nicht aus Langeweile – sondern, weil wir nicht einverstanden sind. Ein Theater, das sich mit uns als Zuschauer streitet und kein Einverständnis gibt. Theater, Leben, Theater, Leben.
„Der Rest ist Schweigen.“
Übersetzung: Anne Becker