Ich gucke mir die Fotos meiner Freunde und der Freunde meiner Freunde in den digitalen sozialen Netzwerken, in den Blogs, den Fotologs und so weiter an. Ich kenne ihre Häuser, ihren Geschmack, ihre Haustiere. Von den Wagemutigsten habe auch ihre depilierten Geschlechtsteile gesehen, ihre Verwüstungen, ihre Miseren. Ich bin eine digitale Voyeurin, die sich an der Intimität der anderen erfreut. Ich gucke von meinem Fenster-Bildschirm ihren entfernten, fremden Leben zu. Ihren Lebensumständen, ihren Freunden, den ersten Schritten ihrer Kinder.
Manchmal bin ich Augenzeugin von Streits und Missverständnissen. Manchmal bekomme ich noch vor meiner Mutter den neusten Familienklatsch mit. Ab und zu habe ich das Glück, dass meine Freunde und deren Freunde alte Fotos hochladen: Auf diese Weise lerne ich ihre Geschichte kennen, ihre Windeln, ihre Schuluniformen, ihre Pubertätsakne. Ich bin eine Wächterin inmitten eines panoptischen Gefängnisses – jener Idee von Jeremy Bentham vor abertausenden von Jahren, die von Michel Foucault im letzten Jahrhundert aufgegriffen wurde, um die Techniken der Überwachung zu erklären, die der hegemoniale Staat, die „Disziplinargesellschaft“ erfindet. Den Techniken ging es nicht um die Erforschung des Realen, sondern um Kontrolle. In diesem Bau der Überwachungsarchitektur war alles, was eine Person tat, dem Blick eines Wächters ausgesetzt, der selbst nicht gesehen werden konnte. Der Unterschied heute ist, dass auch ich gesehen werde. Wächterin und Überwachte zugleich, stelle ich meine Intimsphäre zur Schau und gucke mir die Intimsphäre der anderen an. Foucaults Begriff des Panoptikums ist in letzter Zeit wieder entstaubt worden, um die verblüffendsten Phänomene des Web 2.0 zu erklären: die Zurschaustellung/Beobachtung der Intimsphäre.
Nichtsdestotrotz glaube ich, dass dieser Begriff zu kurz greift, oder dass man zumindest von einem Panoptikum in einem weiteren Panoptikum sprechen müsste – so wie die russischen Babuschka-Puppen. Wir überwachen die Intimsphäre von anderen, und werden zugleich von anderen überwacht, die auch überwacht werden. Es mag sein, dass am Ende dieser Kette von Wächter-Voyeuren die Disziplinargesellschaft und die invasive Gesellschaft steht, die uns in Schranken halten will. Zumindest glauben das die Abtrünnigen der digitalen sozialen Netzwerke und des semantischen Webs.
Wie dem auch sei: Man darf nicht vergessen, dass es sich in dieser neuen Situation, in der unsere Intimität zur Schau gestellt und überwacht wird, um eine absichtliche Zurschaustellung handelt. Ich zeige das, was ich will, dass der andere sieht. Es handelt sich nicht um eine in flagranti aufgeschnappte Intimität, eine offene Tür mitten in der Nacht oder die aufgeschlagene Seite eines zufällig gefundenen Tagebuchs, sondern um die Intimsphäre eines Exhibitionisten, eines Megalomanen, eines Egozentrikers. Einer Person, die weiß, dass sie gesehen wird, mehr sogar, die angeschaut werden will. Der digitale Exhibitionist konstruiert seinen Avatar wie jemand, der sich eine fiktive Geschichte ausdenkt. Eine Autofiktion, ein der Literatur entlehnter Terminus oder viceversa. Die zur Allgemeinheit gewordene Lust, in die Intimsphäre eines anderen einzudringen, hat die Literatur erreicht: Nicht umsonst weisen Autobiographien und Bücher des Genre „Autofiktion“ die höchsten Verkaufszahlen auf. In den letzten Jahren boomen diese in der ersten Person erzählten Romane, in denen der Erzähler denselben Namen trägt wie der Autor, oder seine Initialien oder einen ähnlich klingenden Namen und in denen die dramatische Wendung der Romane sehr viele Berührungspunkte hat mit realen Begebenheiten aus dem Leben des Autors.
Die digitale Intimsphäre ist konstruiert: Wir suchen die Fotos und Sätze aus, die wir zeigen wollen. Wir ziehen uns aus vor der Kamera, aber wir zeigen uns von unserer besten Seite. Wir wissen, dass wir angeguckt werden. Wir wollen gesehen werden. Und wir wollen auch das Simulakrum der Intimität angucken, welches uns die anderen zeigen. Lacan hat gesagt, dass das Begehren immer das Begehren des Anderen ist, dass es einen Appetit des Auges gibt, der nur gestillt wird mit dem Zeigen-um-angesehen-zu-werden. Dieses Zeigen-um-angesehen-zu-werden ist nicht unschuldig.
Zu dem verallgemeinerten Bedürfnis, die Intimität eines Anderen zu beobachten gesellt sich das Bedürfnis, eine digitale Identität zu erschaffen, um sie zu zeigen. Blogs kommen mir weniger wie Aktualisierungen der alten Tagebücher vor, denn wie Multimediaversionen der Reality Shows, von denen es im Fernsehen wimmelt. Klar, es handelt sich um wesentlich interessantere und vielseitigere Reality Shows: die rosafarbene Jugendliche, die von den Details ihres ersten Liebeskummers berichtet; der große Intellektuelle, der Bücher rezensiert und sich versteckt hält; die theoretischen und praktischen Mütter des spanischen Post-Pornos; der Schriftsteller, der sich für alles und mit allen Mitteln des Web 2.0 verkauft. Alle machen sich vor meinen Augen frei und meine Augen gelüsten nach ihnen. Ich folge ihnen, ich etikettiere sie, ich füge sie zu meinen Favoriten hinzu, zu meinem google reader, zu meinen feeds. Ich kenne sie besser als meine Nachbarn.
Übersetzung: Anne Becker
Donde está el botón de me gusta??? Simplemente genial!!
Spandeutsch (Anne):
Wo ist der Gefällt-mir-Knopf??? Einfach genial!!!
Me gusta, es verdadero lo que escribes, siempre deseamos que alguien nos mire y nos tire un piedrita.
Spandeutsch (Anne):
Gefällt mir gut, es ist wahr, was du schreibst, immer wünschen wir uns, dass jemand uns anguckt und uns mit einem kleinen Steinchen beschmeißt.
Gracias por aclarar mis dudas plantedas de esta manera: Esto que leo, ¿es una novela autobiográfica o una autobiografía novelada? Ahora se qué existe el género „Autoficcional“.
Spandeutsch (Anne):
Danke, dass du auf diese Weise meine Zweifel zerstreust: Ist das, was ich hier lese, ein autobiographischer Roman oder eine noveleske Autobiographie? Jetzt weiß ich, dass es das Genre „Autofiktion“ gibt.
Sencillamente genial!!!!!!!
Hola Liliana,
Tienes razón, los blogs no son ni fueron nunca una sustitución del diario íntimo. Peter Sloderdijk dice que los libros son como cartas enviadas a ciegas a un amigo. Los blogs no hacen sino eso, enviar cartas a ciegas, a ver si los amigos se encuentran. Sin embargo, estoy de acuerdo contigo en que la comunicación ha cambiado, y la manera de relacionarnos es mediante ese exhibicionismo que mencionas, presente cada vez más en Internet. Esto lleva a que nos mintamos diciendo que no hay dobleces, puesto que debemos esforzarnos a diario por mostrar(nos), incluso en nuestras dimensiones privadas. Sin embargo, y paradógicamente establecer contacto, establecer relaciones ya no es tan necesario. De ahí que es cierto que vivimos en la ficción del panóptico más que en el panóptico mismo. Pero aquí hay un punto interesante: el panóptico existe, y se perfecciona cada día más. Cada minuto que pasa es más fácil acceder a la información privada, que se desarrolla a través de aparatos electrónicos en red. Es decir, que vivimos y nos creemos que vivimos en la manera en que ficcionamos nuestras vidas y vemos las ficciones de vida de los otros, pero al mismo tiempo olvidamos -quizá porque es preferible olvidarlo y porque otros prefieren que olvidemos y hacen incapie en nuestro „control“ de la información- que nuestra vida está cada vez más en manos de aquel que es capaz de vernos cuando nosotros no somos capaces de verlo a él. El problema de este panóptico contemporáneo es que se ha perfeccionado muchísmo y continúa perfeccionándose en manos de ciertos poderes aquellos que controlan y disciplinan, mientras nos hacen creer que nosotros somos los que estamos detrás del ojo de vidrio.
Spandeutsch (Anne):
Hallo Liliana,
du hast recht damit, dass die Blogs niemals die alten, intimen Tagebücher ersetzt haben oder ersetzen. Peter Sloterdijk sagt, dass Bücher wie blind verschickte Briefe an einen Freund sind. Die Blogs sind genau dass, blind veschickte Briefe, ob sich Freunde finden, wird sich erst zeigen. Aber ich stimme mit dir überein, dass die Art der Kommunikation sich verändert hat, und dass dieser von dir beschriebene Exhibitionismus, der im Internet immer präsent wird, unsere zunehmend Beziehungen bedingt. Das führt dazu, dass wir uns anlügen, wenn wir sagen, dass da keine Falten sind, da wir uns gezwungen fühlen, uns tagtäglich zu zeigen, sogar in unserer Privatsphäre. Dennoch und paradoxerweise wird es immer weniger notwendig, Kontakt aufzunehmen, Beziehungen einzugehen. Hierbei gibt es einen interessanten Aspekt: Das Panoptikum existiert und es wird jeden Tag perfekter. Jede Minute ist es einfacher, Zugang zu privaten Informationen zu bekommen, die über die elektronischen Geräte ins Netz gelangen. Das heißt, wir leben und glauben, entsprechend unseres ausgedachten Leben zu leben, und wir sehen die fiktiven Leben der anderen, aber zugleich vergessen wir auch – und vielleicht weil es vorteilhaft ist zu vergessen oder weil andere wollen, dass wir vergessen und darauf bestehen, dass wir die „Kontrolle“ über die Information haben – dass unser Leben immer mehr in der Hand desjenigen liegt, der in der Lage ist, uns zu sehen, während wir nicht in der Lage sind, ihn zu sehen. Das Problem mit diesem zeitgenössischen Panoptikum ist, dass es sich sehr perfektioniert hat und sich jeden Tag in den Händen gewisser Mächte weiter perfektioniert, denen der Kontrolle und Disziplinierung, während uns glauben gemacht wird, dass wir es sind, die durch die Linse gucken.
Lizabel! Hermoso tu comentario! Me encanta eso de que vivimos en la ficción del panóptico más que en el panóptico mismo. Así es! Nos hacen creer que somos los que vemos!
Reyna! Me alegra aclararte esa duda, aunque las diferencias entre todos esos géneros que mencionas son sumamente ténues.
Gracias a todos por leerme y comentar!!!!
Spandeutsch (Anne):
Lizabel! Wunderschön, dein Kommentar! Mir gefällt diese Idee sehr, dass wir in der Fiktion des Panoptikums leben mehr denn im Panoptikum selbst. So ist es! Sie machen uns glauben, dass wir es sind, die sehen!
Reyna! Es freut mich, diesen Zweifel von dir zu zerstreuen, obgleich die Unterschiede zwischen all den Genres, die du nennst, extrem fein sind.
Danke an alle fürs Lesen und Kommentieren!!!
Articulo de caracter moderno aplicable al mundo de la tecnologia actual. Comentarios cultos, de profundo contenido intelectual.
!!!Que viejo y distante me siento!!!
Spandeutsch (Anne):
Ein moderner Artikel, der auf die aktuelle Welt der Technologie anwendbar ist. Belesene Kommentare von tiefem intellektuellen Gehalt. Wie alt und weit weg ich mich fühle!!!!