Ich bin deutsch. Für mich klingt dieses Adverb völlig normal, ich muss es in Formularen angeben, es steht so auf meinem Pass, es scheint mich zu definieren. Wenn ich aber überlege, was an mir deutsch ist, komme ich wirklich ins Grübeln. Seit zwei Wochen denke ich darüber nach, was ich darüber schreiben könnte. Über Deutschland, mein Land. Mein Land? Dein Land? Kein Land? Wessen Land? Meine Vorfahren kommen aus Böhmen, wo das Pils herkommt, das gehört heute zur Tschechischen Republik. Bin ich deutsch, weil ich gerne pünktlich bin? Das sind auch die Finnen. Ich esse gerne Kohl, aber das tun auch die Koreaner. Ich esse auch gerne Döner Kebap, ein Essen mit Migrationshintergrund. Ich lebe in Berlin und liebe die Stadt, aber Berlin ist nicht Deutschland. Die Mauerreste sehe ich, wenn ich zum Bahnhof fahre, und erinnere mich, wie ich als Kind von der BRD nach West-Berlin die von der DDR erlaubte Transitstrecke mit meinen Eltern im Opel Kadett fuhr („Jeder Popel fährt nen Opel“), und schaute am Brandenburger Tor von der Aussichtsplattform rüber in den Osten. Dort begrüßte man noch im Sommer 1990, vor allem auf dem Land, die deutschen Schwestern und Brüder mit: „Kaffee und Kuchen für Wessis umsonst“. Schön, oder? Deutschland ist eigentlich nicht bekannt für Gastfreundschaft.
Wer bin ich als Deutsche? Ich muss mich von außen betrachten, als Teil einer „Kohorte“, wie die Soziologen sagen. Da erscheine ich mir vor allem postkolonialisiert, von den Befreiungsmächten nach 1945.
In der Schule lernte ich im Geschichtsunterricht das meiste über die Französische Revolution, die Industrielle Revolution in England, den Civil War in den USA und die beiden Weltkriege, die Deutschland verursacht hat, insbesondere über das Dritte Reich, den Holocaust, und die Vernichtungen in Russland und im Osten Europas. Ich sah als 14-Jährige im Geschichtsbuch die Fotos von Leichenbergen aus Auschwitz, die zur „Reeducation“ der deutschen Bevölkerung an öffentlichen Orten ausgehängt wurden. Ich sprach als Schülerin mit meinen Großeltern, die sich an marschierende Zwangsarbeiter erinnern konnten, selbst in Kriegsgefangenschaft gewesen waren und sich in den 1980ern vorwarfen, als größte Schuld in ihrem Leben, nichts gegen Nazideutschland unternommen zu haben, diese menschenverachtende und todbringende Diktatur zugelassen zu haben. Ich dachte: Ich bin Kind von Überlebenden, von überlebenden Mitläufern der Nazis. Meine Eltern werden aggressiv, wenn ich so spreche. Denn meine Großeltern waren natürlich gute Mitläufer. Und ich reiste nach dem Abitur nach Israel, mit einer deutsch-jüdischen und einer biodeutschen Freundin, die für eine Jüdin gehalten wurde, sprach mit englischen Kibbuz-Arbeitern und isrealischen Partypeople in Tel Aviv, mit arabischen Markthändlern in Akko und Pilgerern in einem christlichen Hostel in Jerusalem. Und dachte: Hab ich als Deutsche Schuld für den fehlenden Frieden hier? Im Ausland denken viele wegen meines harten English-Akzents, ich sei aus Südafrika. Deutschtum verleugnen ist manchmal ganz angenehm. Besonders, wenn man mir zum Frühstück Bier hinstellt. Ist alles schon passiert.
Und wenn ich schon nicht selbst, weiß, wie ich als Deutsche bin, was ist Deutschland für mich, für andere? Viele sagen, ein Vorbild für die „Aufarbeitung der Geschichte“ und für das kollektive Erinnern daran, dass Patriotismus schnell zu Nationalübermut werden kann. Andere wollen endlich wieder ganz normal ihr Deutschsein leben, seit der WM 2006 sieht man wieder Nationalbeflaggung, auch in Gesichtern als Schminke. Wiederum andere wollen eine neue, vielkulturelle deutsche Identität definieren, die sich aus Immigranten-Perspektiven speist und anreichert, denn bereits ein Fünftel der deutschen Bevölkerung hat einen sogenannten Migrationshintergrund, den die „Betroffenen“ gerne in Vibrationshintergrund umdichten.
Wir sind Papst, haben einen schwulen Außenminister und eine Bundeskanzlerin, unser liberaler Finanzminister ist adoptiertes Kind vietnamesischer Flüchtlinge. Achtung: Vielfalt! Der Wohlfahrtsstaat fährt talwärts, die soziale Schere geht immer weiter auseinander, die Eurozone kriselt. Achtung: Prekariat! Und ich weiß gar nichts mehr. Ist das deutsch oder global oder egal? Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich braune Blätter auf dem Boden und ich erinnere mich daran, dass mal wieder Herbst wird. Woanders wird gerade Frühling. Und die Sonne scheint auf uns alle. Mal mehr, mal weniger. Aber nie in Nationalfarben. „Deutschland sind“, wie der Dichter Heinrich Heine 1833 schrieb, „wir selber“. Und das bemerkt er erst, als er aus dem Pariser Exil, von Ferne, auf sich schaut. Vielleicht ist das sehr deutsch, kritische Distanz zu sich zu nehmen. Und alles in Frage zu stellen…
Liebe Nikola!
ein Rundumschlag zu deutsc; abwechslungsreich, perspektivereich, unterhaltsam, regt zum Nachdenken an, dein Artikel. Gefällt mir! Deutsch ist eben Vieles, auch z.B., dass ich dir nach dem Lesen gleich antworten möchte! Danke!
Liebe Grüße
deine Ingrid
SpanDeutsch (Natalia)
Querida Nikola!
una crítica general a lo alemán, lleno de impresiones, con perspectivas y divertido, invita a pensar tu artículo. Me gusta! alemán es en realidad muchas cosas, también, por ejemplo, el hecho de que yo te quiera responder a penas leo el artículo!
Gracias, saludos, Ingrid.
Dankeschön! Was ist denn für dich deutsch? Das würde mich interessieren!
Gracias! ¿qué es para tí alemán? me interesaría mucho saberlo!
Deutsch ist z.B.:
– sich zu sietzen bis zum Umfallen
– schrecklich gern darüber zu reden, wo was billiger und günstiger ist als anderswo
– beim gemeinsamen Essen zu viert, zu acht, nicht in der Lage sein, beim Bezahlen einfach durch vier oder acht zu teilen, sondern lieber „seins/ihrs“ bezahlen, weil die eigene Suppe billiger war als die Steaks der Anderen
– Unpünktlichkeit mit Unfähigkeit zu verwechseln
und schließlich: sich schrecklich unwohl zu fühlen bei der Vorstellung deutsch zu sein.
SpanDeutsch (Natalia)
Alemán es por ejemplo:
-ustearse hasta el cansancio
-hablar con un placer horroroso sobre dónde y qué es más barato, que en ningúna otra parte.
-al comer juntos, cuatro u ocho personas, no ser capaces de dividir la cuenta entre 4 u 8, sino que cada uno pague „lo suyo“, porque la sopa de uno es más barata que la carne del otro.
-confundir el no ser puntual, con el no ser capaz.
y por último: sentirse horrorosamente incómodo con la idea de ser alemán.
Hi Susana, du hast Recht, dem Deutschsein schreibt man viele negative Eigenschaften zu. Selbst die guten, die also andere an den Deutschen so klischeeartig mögen (wie Pünktlichkeit, Genauigkeit, Ordnungssinn, Verlässlichkeit), werden ja oft belächelt, weil sie weder Spielerei noch Humor noch Improvisation zulassen. Was ist zu tun? Unpünktlich sein??
SpanDeutsch (Natalia)
Hola Susana, tienes toda la razón, a los alemanes se les atribuyen muchas características negativas. Incluso las positivas, o sea las cosas que a otros les gusta de los alemanes de un modo tan kliché (como la puntualidad, la exactitud, el sentido del orden, la fiabilidad) son a menudo motivo de burla, porque no dan espacio para el juego, el humor o la improvisación. ¿Qué se hace entonces? ¿Ser impuntual?
Hallo Nikola,
als Ausländer, Nicht-Deutscher, als Pole – quasi als Aussenansicht – möchte ich Dir kurz umreißen, was mir zu Deinen Gedanken ums Deutschsein auffällt, einfällt – vielleicht ist es ja interessant und im besten Fall sogar ein Gedankenanstoß.
Was mich seltsam anmutet, ist die Tatsache, dass man sich hierzulande überhaupt Gedanken darüber macht, was „deutsch“ ist!? Irgendwie ist damit aber (so mein Eindruck) nicht Staatsangehörigkeit oder Nationalität gemeint, sondern ein Sammelsurium an Eigenschaften, die hoffentlich gut sein sollen. – Warum dieses Buhlen um Sympathie, um nicht zu sagen um Liebe? – Beispiele zeigen, dass es ein „deutscher Charakterzug“ schon immer war (Heine) und es nicht nur mit Holocaust zusammen hängt. – Aber die Frage trifft vielleicht (so denke ich) wirklich den Kern: Es fehlt eine deutsche Identität. – Gäbe es sie, würde die Frage gar nicht gestellt, es wäre selbstverständlich, es wäre normal.
Gerade weil die Identität fehlt, auch ein Selbstbewußtsein als Deutsche/r, wird vermutlich die Frage adjektivisch gestellt: man verscuht sie mit Eigenschaften zu unterfüttern.
Was ich hier merke, ist auch, dass eine Einheit fehlt (wo gibt es schon eine homogene Gemeinschaft?!). Eher sagen mir die Leute: Ich bin ein Schwabe, ein Bayer, ein Berliner als ich bin deutsch. Sage ich einem Karlsruher, du bist Schwabe, dann ist er beleidigt, denn er ist Badenser und hält sich dafür etwas zugute. Auch ist ein Schwabe mehr auf Spätzla gepolt als auf pluralistische deutsche Gesellschaft. Kürzlich las ich bei einem Metzger (ich lebe in Stuttgart): Fleischküchle 80 Cent, Frikadelle 1 Euro – von wegen Deutsche haben kein Humor:)
Auch sprechen die Menschen verschiedene Sprachen: (als Ausländer sage ich) die Dialekte sind ein Graus! Aber es scheint auch für Deutsche intern ein Graus zu sein. – Aber ein Phänomen sind tatsächlich in der Sprachgeschichte die Lautverschiebungen. – In Polen alle sprechen gleich: In Stettin genauso wie in Zakopane: das „R“ wird gerollt und die Vokale sind kurz. Eine Einheit in der Sprache (womöglich damit auch eine gleiche Denkstruktur) fehlt aber in Deutschland. Wirklich! Ich glaube, ein Schwabe denkt anders als ein Hamburger.
Aber es fehlt auch eine politische Einheit: Denke an die Duodezfürstentümer bis hin zu den Bundesländern (Leute sagen auch: Landesvater zu Ministerpräsident aber niemand sagt zu Frau Merkel „big Mama“). – Vielleicht erst die Nazis haben mit der „Volksgemeinschaft“ eine unterschiedslose Masse (aber homogen) erzeugt – freilich mit Terror und mit Reinwaschen von allen nichtarischen Elemente und mit furchtbaren Ergebnis für Europa.
Als Linguist interessiert mich Sprache aber auch als kommunikative Funktion. Sie besitzt einen Sender und einen Empfänger. So kann im Ausland, wenn dir jemand sagt, du bist ja deutsch, das sehr schmerzlich vorkommen, weil es ein Begriff ist, der ausgrenzt, auf absolute Weise: Du gehörst nicht dazu!
Aber hier sind „super-democraticos“ und alles „super“, so ist mein Gedanke, vielleicht sollten wir, nein, nicht super, aber „übernational“ hier sein. Akzeptanz von Menschen auf individueller Ebene, nicht nationaler.
Und noch ein abschließender Gedanke in diesem viel zu langen Kommentar: Meiner Meinung würde sich auch einmal eine Diskussion lohnen zu Begriffen wie Heimat und Vaterland. Und allem, was damit zusammen hängt. Vielleicht sagt dann sogar ein Deutsche/r einmal: Ich liebe mein Land!
In diesem Zusammenhang: so ein Wort wie „Heimweh“ fehlt in slawischen Sprachen (natürlich kann man es übertragen – aber nur als Nostalgie oder Sehnsucht, aber das ist eigentlich etwas anderes).
Viele Grüße, Janusz
Hallo Janusz, ich denke auch, dass wir unsere Identitäten heute als übernationale verstehen sollten; solch eher konservativen Begriffe wie Vaterland (warum nicht Mutter- oder Schwesterland) verlieren dann an Bedeutung. Meine Überlegungen zum Deutschsein sollten das Deutschsein in Frage stellen, aber weniger die regionalen Identitäten (die ich wichtig finde), als die Zuschreibungen von außen und das unkritische Annehmen eines solchen Nationalkonzepts. In meinem Text sage ich ja auch, dass Deutschsein heute wahrscheinlich vor allem bedeutet, dieses kritisch zu sehen. Und das ist doch etwas Gutes, nachdem wir wissen, wohin Nationalismus führen kann und immer noch führt. Übrigens: Ich bin mir sicher, dass sich ein Pole aus Krakau auch als Krakauer von einem Warschauer oder einem Kattowicer abgrenzt. Besonders Krakauer fühlen sich, so weit ich weiß, als Bewohner der insgeheimen intellektuellen, kulturellen Hauptstadt Polens.