Mein unglaublichster Sommer

Die schwerste Übersetzungsaufgabe findet in diesem Moment statt. Das wird mir schlagartig klar, jetzt, wo ich hier vor dieser weißen Word-Seite sitze und euch von meinen letzten Monaten und von meiner Erfahrung als Übersetzerin für die Superdemokraticos berichten möchte.

Schon das Schreiben an sich impliziert ja eine Übersetzungsarbeit: der Text als eine Art evoziertes Echo von etwas anderem, das vielleicht Erlebnis, Eindruck, Spur oder so ähnlich genannt werden kann. Im Falle der Übersetzung in eine andere Sprache wäre das Übersetzen dann der Versuch, dieses Echo in einer anderen Sprache neu hervorzurufen. So hat zumindest Walter Benjamin einmal die Aufgabe des Übersetzers beschrieben.

Wie etwas übersetzen, das eigentlich unfassbar ist? Dass ich selbst vielleicht noch vor nicht all zu langer Zeit als unmöglich eingestuft hätte, was mir zumindest aber vollkommen unbekannt gewesen wäre.

Ich würde gerne etwas in Worte und Mitteilung übersetzen, was mir in den letzten Monaten widerfahren ist. Ich möchte das schon eine Weile – aber die Übersetzung will noch nicht so richtig. Die Worte geraten ins Stocken, ins Zweifeln, werden misstrauisch, luken mal kurz über die Lippen nach draußen, aber schrecken dann doch unsicher zurück. Sie schnüren mir die Kehle zu, bleiben wie ein Kloß im Hals stecken. Dann wollen sie alle auf einmal raus und verhaspeln sie sich in meiner Zunge und sind dann wieder plötzlich weg, wenn man gerade noch ein letztes Mal tief Luft holt.

Um es offen und ehrlich zu sagen: Die Superdemokraticos gerieten, wie so vieles aus meinem „normalen“ Leben, in diesem Sommer nach und nach in den Hintergrund. Wenn ich an die letzten vier Monate denke, faden sie in meiner Wahrnehmung aus, wie es manche Musikstücke tun, und werden zugleich als Anker sichtbar. Als ein Anker in die mir bekannte Welt, in den Alltag – den es wochenlang eigentlich gar nicht gab.

Stattdessen gab es einen Ausnahmezustand. Die Folgen der rituellen Gewalt und systematischen Folter. Und den Versuch, mit dieser dunklen Welt zu brechen. Und eine Person, die all dies erlebt, überlebt hatte. Wenn man zum ersten Mal mit diesem Thema in Kontakt kommt, „und das nicht selbst überlebt hat, dann ist dafür nichts abrufbar“, formuliert die Trauma-Therapeutin Monika Veith in einem Interview ihre eigene Erfahrung mit der Arbeit mit Überlebenden ritueller Gewalt in Deutschland und schenkt mir damit Worte, die ich selbst noch nicht finde. Oder nur so halb.

Einen Umgang mit etwas finden, für das nichts im eigenen Gedächtnis abrufbar war, darin bestand ein großer Teil meines Sommers. Da half erstmal nur Intuition, ausprobieren, allen Mut zusammen nehmen und vom Steg ins kalte Wasser springen, dem Schrecken trotzen, aber auch Grenzen wahrnehmen und vor allem Vertrauen, um schließlich dabei auch die Erfahrung zu machen, wieviel Verwandtes doch abrufbar ist, wieviel schönes Gemeinsames und Teilbares es gibt und wieviel jede für sich und man zusammen über sich hinaus wachsen kann.

Und das erinnert mich an Ingeborg Bachmann, die in vielerlei Hinsicht Patin stand in diesem Berliner Sommer. „Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an; daß wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt“, sagte diese kluge Schriftstellerin in ihrer Rede „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, die mich, seit ich sie das erste Mal vor Jahren las, nie wieder los ließ.

Systematische Folter und Straflosigkeit ist etwas, dass man hierzulande gemeinhin mit Lateinamerika und anderen fernen Kontinenten verbindet. Dabei existiert es auch hier vor der Tür. Und die Täter und Täterinnen ritueller Gewalt genießen auch hier fast absolute Straffreiheit. Und kaum jemand scheint in diesem Land überhaupt zu wissen, das so etwas hier existiert.

Und so höre ich auf einmal das große Schweigen, vernehme ich plötzlich das große Unvernehmen, und weiß nicht, was tun, wohin damit?

Und dennoch: Es war bei weitem nicht alles Grauen. Und so möchte ich diesen Sommer nicht missen.

„Und wer“, sagt Ingeborg Bachmann weiter, „wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, daß unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, daß man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, daß man enttäuscht, und das heißt ohne Täuschung, zu leben vermag.“

Links zum Thema rituelle Gewalt:

Renate Rennebach-Stiftung

Vielfalt-Info

Michaela Huber

Claudia Fliss

Vater unser in der Hölle

4 Kommentare zu 'Mein unglaublichster Sommer'

  1. Liliana Lara sagt:

    Espero que ahora estés bien, mi querida traductora! Un abrazo muy fuerte.

  2. Paula Weber sagt:

    Manchmal können Worte Wunden sichtbar werden lassen, deren Urheber sich sicher fühlen hinter einem Schleier, der sich aus der Angst und Schahm der Opfer und dem Nichtwissen wollen der anderen zusammensetzt.

  3. Paula Weber sagt:

    Hallo, ich würde mich freuen, wenn du den Link zur Homepage vielleicht mit aufnehmen könntest. Grüße, Paula

  4. Anne sagt:

    @ querida Liliana, gracias por tus palabras. Estoy bien, sigo un poco exhausta pero enriquecida también.
    @ Paula, sehr wahr deine Worte…Aber von welchem Link sprichst du? Der ist nirgends zu sehen…