Lektionen des Vergessens

cuadro del pintor Arturo Borda

Als ich acht Jahre alt war, erzählte uns ein Lehrer im Geschichtsunterricht von dem Pazifikkrieg. Zuhause hatten sie mir schon das Wesentliche erzählt: 1879 hatte Bolivien seinen Zugang zum Meer verloren. Unser Lehrer sah schon tief betrübt aus, bevor er überhaupt zu reden anfing. Zu Beginn der Stunde malte er ein Bild an die Tafel, so als wolle er die Spannung erhöhen. Ich erinnere mich nicht mehr an seine Einleitung (manche Bereiche der kindlichen Erinnerung sind von Nebel umwoben), aber die Erzählung begann damit, dass Chile uns wegen unserer Bodenschätze (Guano und Salpeter) den Krieg erklärte. Sie liegen in einem Gebiet (welches, so betonte der Lehrer mit Nachdruck, schon immer zu uns gehört habe), dessen Grenzverlauf über Jahre hinweg umstritten war.

Da gerade Karneval war, wurde die Kriegserklärung auf die leichte Schulter genommen, um das Fest in Frieden zu Ende zu feiern. Als die chilenischen Truppen kurz davor waren, die Stadt Calama einzunehmen, stellte sich ihnen ein bolivianischer Bewohner des umkämpften Gebiets, der ein improvisiertes, dem Feind klar unterlegenes Heer kommandierte, entgegen. Der Held mit ausladendem Bart hieß Eduardo Abaroa. Abaroa und seine Leute leisteten erbitterten Widerstand trotz der Unterlegenheit, sagte der Lehrer. Als nur noch er übrig geblieben war (alle anderen waren tot oder gefangen genommen), feuerte er weiter Schüsse ab, bis er von chilenischen Soldaten umringt wurde, die – voller Bewunderung für seine heldenhafte Standhaftigkeit – die Waffen auf ihn richteten und ihn aufforderten, sich zu ergeben. Auf den Befehl „Ergeben Sie sich!“ von dem chilenischen Kommandeur, habe Abaroa erwidert: „Ich, mich ergeben? Soll sich doch verdammt nochmal Ihre Großmutter ergeben!“ Im Laufe einer zaghaften, den Krieg verlängernden bolivianischen Verteidigung, wurden die Bolivianer schließlich – rasend schnell und nun ohne aufopferungswillige Helden – geschlagen. Seitdem haben wir keinen Meereszugang mehr und sind deshalb arm. All das sagte jener von mir fast vergessene Geschichtslehrer, der seine Traurigkeit schon an uns weitergegeben hatte, und selbstsicher wiederholte, was er als Schüler gelernt hatte.

Jahre später (auch in Hörsälen, aber dieses Mal aus eigener Entscheidung) würde ich lernen, dass alles komplizierter gewesen ist. Dass es sich beim Pazifikkrieg nicht nur um einen weiteren Krieg (an dem später auch Peru teilnahm) zwischen zwei Ländern, sondern um einen „Streit um den Überschuss“ gehandelt hatte, der von ausschließlich kommerziellen Interessen angekurbelt worden war, eine weitere blutige Schlacht, die von dem seelenlosen Geist des Kapitalismus ausgelöst wurde. Dass die herrschende Klasse, die seit Generationen den Staatsapparat unter sich aufteilte und weiter vererbte (und das noch fast weitere 100 Jahre lang so machen würde), das noch amorphe Land als ihr Familienerbe auffasste und Gebiete gering schätzte, die sich weitab von ihrem Herrschaftszentrum befanden, welches sich auf die Diskriminierung und Ignoranz gegenüber der indigenen Bevölkerung gründete. Dass diese Gebiete sich selbst überlassen wurden und die Herrschenden sich nicht die Konsequenzen dieser Amputation ausgemalt hatten. Dass mit dem Verlust der Küste eine erfolgreiche, aus der Zeit vor der Eroberung stammende Logik der räumlichen Organisation und Nutzung, die transversale Kontrolle mehrerer ökologischer Kreisläufe, zerstört wurde, was sich als ein ebenso schwerwiegendes Problem herausstellte, wie das Unvermögen, mit der Welt Handel zu treiben oder mit großer Verspätung in die Moderne einzutreten. Dass das Ressentiment gegen Chile eine weitere Fiktion des Nationalismus der Revolution von 1952 ist. Dass der Pazifikkrieg der Gründungsmythos der nationalen Schmach ist, der Beginn unserer Tradition als Gescheiterte, das Stigma des Unglücks. Dass alle Geschichte für politische Zwecke – zum Guten oder zum Schlechten – das Vergangene manipuliert. Dass uns die Selbstbeobachtung über so lange Zeit hinweg traurig und solipsistisch gestimmt hat. Dass uns manchmal die Kenntnis der Geschichte nicht nur nicht davor bewahrt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, sondern uns auch daran hindert, uns aus unserer Gegenwart zu befreien.

Aber die Zeit ist auch unsere Lehrerin. Heute wissen wir, dass man nicht nur auf die Rekonstruktion der Vergangenheit zurückgreifen soll, um ein nationales Bewusstsein auszubilden oder uns minderwertig zu fühlen, dass aber auch der Rückgriff auf die Vergangenheit nicht ausreicht, um Utopien zu kreieren. Aus diesem Grund darf man nicht aufhören, Schiffe zu bauen.

Übersetzung: Anne Becker

9 Kommentare zu 'Lektionen des Vergessens'

  1. Liliana Lara sagt:

    Dices que la enseñanza de historia en las escuelas forma la conciencia, pero se trata siempre de una conciencia manipulada de acuerdo a requerimientos del estado. Estás de acuerdo con la conciencia histórica que se está formando en las escuelas bolivianas hoy en día?

    La metáfora de construir barcos en un país sin mar me encanta.

    Saludos!

    Spandeutsch (Anne)
    „Du sagst, dass der Geschichtsunterricht in der Schule das Bewusstsein formt, aber es handelt sich immer um ein manipuliertes Bewusstsein, das auf die Bedürfnisse des Staates ausgerichtet ist. Bist du mit dem historischen Bewusstsein einverstanden, das heutzutage in den bolivianischen Schulen geformt wird?

    Die Metapher des Schiffe-Bauens in einem Land ohne Meer gefällt mir sehr.

    Grüße!“

  2. :
    Liliana,
    exactamente: la escuela forma una conciencia histórica manipulada, y casi siempre con un sesgo que, como decía cierta catedrática, en vez de promover la „liberación“ consolida cierta visión (y por lo tanto los cursos de acción) que es conformista. en mi país el tema del mar ha sido machacado en las escuelas formando una conciencia triste y derrotista. y en estos tiempos de cambio muchos ya no queremos ni melancolía ni pesimismo.
    saludos

    Spandeutsch (Anne):
    „Liliana,
    exakt: die Schule formt ein manipuliertes historisches Bewusstsein, und fast immer mit der Wendung, dass, so wie eine Professorin immer sagte, anstatt die „Befreieung“ zu fördern, eine konformistische Sicht (und folglich entsprechende Handlungsmuster) gefestigt werden. In meinem Land ist das Thema des Meerzugangs in der Schule so breit getreten worden und hat in uns ein trauriges und Verlierer-Bewusstsein herausgebildet. Und in den heutigen Zeiten des Wandels wollen wir weder Melancholie noch Pessimismus mehr.
    Grüße“

  3. Yo haría, más que lecciones de olvido, lecciones de recreación, de reinvención de la historia. Además de la versión manipulada -que no es más que el acentuar o relatar lo que se quiere sea recordado mientras se elimina y silencia toda voz que se prefiera ininteligible- hay otra estrategia que viene bien a los poderes hegemónicos luego de meter la pata de manera visible: la del borrón y cuenta nueva. La historia, se quiera o no, es una larga cadena de ejemplos de meteduras de pata. Entre sus líneas de épica y gloria puede leerse cuán mal lo hemos hecho hasta ahora, y en sus silencios puede verse también lo que no hemos probado. Hay muchas voces que estamos acostumbrados a silenciar siguiendo la inercia de discursos ajenos que nos enseñan a cultivar como propios. Incluso el cuerpo que somos, el animal que somos, está silenciado en nuestras páginas más veneradas de relatos históricos a contracorriente… Sólo la literatura se ocupa de narrar no la invención de un ethos nacional o ciudadano -esa que es la misión constructiva de la Historia-, sino los acontecimientos minúsculos y sin nombre de la cotidianidad de un individuo agazapado tras la megaficción de las ciudades y el consumo como sino irrebatible. Por eso la reinvención es mi propuesta; una mezcla de literatura e historia. Literatura e historias menores. Relatos construidos a partir de las tachaduras y borrones del historiador y el periodista exitosos.

    Spandeutsch (Anne):
    „Ich würde eher Lektionen der Rekonstruktion, der Wiedererfindung denn Lektionen des Vergessens vorschlagen. Neben der manipulierten Version – die ja nichts weiter ist, als das zu erzählen oder zu betonen, was erinnert werden soll und das zu verschweigen oder auszulöschen, was lieber nicht vernommen werden soll – gibt es eine weitere Strategie, die den hegemonialen Kräften zugute kommt, nachdem sie sichtbar ins Fettnäpfchen getreten sind: die vom Schlussstrich und Neuanfang. Die Geschichte, will man es oder nicht, ist eine lange Anreihung von Tritten ins Fettnäpfchen. Zwischen den Zeilen der Herrlichkeit und Epik können wir herauslesen, wie schlecht wir es bis jetzt angestellt haben und in den Auslassungen können wir erkennen, was wir alles bisher nicht versucht haben. Es gibt viele Stimmen, die wir gewöhnt sind zu unterdrücken, aus der Bequemlichkeit heraus, uns fremden Diskursen zu unterwerfen, die wir gelernt haben als unsere eigenen zu kultivieren. Sogar der Körper, der wir sind, das Tier, was wir sind, wird in auf den Seiten unserer gepriesensten gegenhegemonialen Geschichtserzählungen tot geschwiegen. Nur die Literatur beschäftigt sich nicht mit der Erfindung eines nationalen oder staatsbürgerlichen Ethos – was die Konstruktionsarbeit der Geschichte ist – sondern mit den kleinen, namenlosen Geschehnissen des Alltags eines Individuums, das sich vor der Megafiktion der Städte und dem unbestreitbaren Konsum duckt. Aus diesem Grund schlage ich die Wiedererfindung vor: eine Mischung aus Literatur und Geschichte. Literatur und minoritäre, kleine Geschichten. Geschichten gestrickt aus dem aussortierten Material des Historikers und des erfolgreichen Journalisten.“

  4. Pedro sagt:

    Fernando !pues ya tienes a un aliado para construir barcos!

    Spandeutsch (Anne):
    Fernando! Hier hast du schon einen Allierten für das Boote bauen!

  5. Agustín Calcagno sagt:

    ¿no habrá lugar en algún barco para Abaroa? – muy interesante. saludos cordiales

    Spandeutsch (Anne):
    Gäbe es nicht vielleicht in irgendeinem Schiff einen Platz für Abaroa? – Sehr interessant. Herzliche Grüße

  6. :
    eso, Lizabel, yo también apuesto por la historia de lo invisible, la „historia menor“. y creo que como propones serían muy fructíferas unas lecciones de recreación histórica. creo que no atiné, pero quería hablar de „olvido creativo“ (de olvidar ciertos pasaje y resaltar otros, de cambiar la perspectiva de los hechos, etc) en pos de la liberación. justamente ese cliche de que si conoces la historia no la repites: y si la desconoces y vas liviano y esperanzado para adelante? (o para atrás, depende de la cultura)
    construyamos una super arca para todos!!!
    saludos!

    Spandeutsch (Anne):
    „Genau so, Lizabel. Ich setze auch auf die Geschichte des Unsichtbaren, auf die „kleine Geschichte“, die „minoritäre Geschichte“. Und ich glaube, wie du vorschlägst, dass ein paar Lektionen in historischer Rekonstruktion (recreación) sehr fruchtbar sein würden. Ich wollte, aber ich glaube ich habe es nicht ganz getroffen, von dem „kreativen Vergessen“ sprechen (davon einige Passagen zu vergessen und andere hervorzuheben, die Perspektive auf das Geschehen zu verändern etc.) mit Blick auf die Befreiung. Genau dieses Klischee des Wenn du die Geschichte kennst, wiederholst du sie nicht. Und wenn du die Geschichte nicht kennst, verkennst und leichtlebig und hoffnungsvoll nach vorne gehst? (oder zurück, das kommt auf die Kultur drauf an)
    Lasst uns eine Super-Arche für alle bauen!
    Grüße“

  7. edante dante sagt:

    manos a la obra!
    solo falta que llueva durante 40 dias y noches

  8. Nele Urbanowicz sagt:

    Lo que dice Fernando en cuanto al olvido y la re-interpretación es importante, pues por más que nos quieran hacer creer en los colegios sola versión blanquinegra de la histora, fácil y lógica de decifrar, no permiten que nosotros construyamos la relación entre la historia y nuestras vidas. El “olvido creativo”, las clases de historia participativas: ¿Cómo sería eso? Sería, en vez de “la historia” pues ¡básicamente “las historias”! Las historias que cuentan nuestros abuelos son tan “historia” como los hechos históricos en los libros, pero ellas son más verdaderas para nosotros como hijos de familia y ciudadanos del “ahora”. Tenemos que interpretar cada vez de nuevo el pasado de acuerdo a lo que estmos viviendo ahora. La historia es un proceso y el presente es parte de ello, tal como lo será el futuro. Construir barcos significa seguir soñando y estar bien atentos a lo que está ocurriendo en este momento. En las escuelas esto implicaría crear cada uno su punto de vista, ya no culpar o lamentar a los muertos sino cuestionar los procesos sociales: ¿Qué ha pasado con los sueños de nuestros abuelos y cuáles son los nuestros? Y después, camino de la escuela a sus casas, recrear su mundo, y construir, conscientes, miles de barcos de papel. Tal vez: barcos voladores. Tal vez.

    Spandeutsch (Anne):
    „Das, was Fernando über das Vergessen und die Re-Interpretation der Geschichte sagt, ist wichtig. So sehr sie uns in der Schule auch die schwarz/weiß-malerische Version der Geschichte, logisch und einfach zu entziffern, beibringen wollen, so wenig erlauben sie uns, die Verbindung zwischen der Geschichte und unserem Leben herzustellen. Das „kreative Vergessen“, der partizipative Geschichtsunterricht: Was wäre das? Es würde vor allem bedeuten, statt „der Geschichte“, „die Geschichten“! Die Geschichten, die unsere Großeltern erzählen, sind so sehr Geschichte, wie die historischen Tatsachen in den Geschichtsbüchern, aber als Familienangehörige und Bürger des Heute sind die Geschichten für uns wahrhaftiger. Wir müssen jedes Mal wieder die Vergangenheit neu interpretieren mit Bezug auf das, was wir im Heute erleben. Die Geschichte ist ein Prozess, von dem die Gegenwart ein Teil ist und die Zukunft einer sein wird. Schiffe zu bauen, bedeutet, weiter Träume zu verfolgen und sehr aufmerksam zu sein dafür, was um uns herum passiert. In der Schule würde das beinhalten, dass jeder seinen eigenen Standpunkt entwickeln kann und dass man nicht mehr die Toten beklagt und sich ihrer gegenseitig beschuldigt, sondern soziale Prozesse in Frage zu stellt: Was ist mit den Träumen unserer Großeltern passiert und welches sind die unsrigen? Und danach, nach dem Weg von der Schule nach Hause, erschaffen sie ihre Welt neu, bauen, bewusst, Tausende von Schiffen aus Papier. Vielleicht: Fliegende Schiffe. Vielleicht.“

  9. francisco astete sagt:

    Sueño con un viaje en barco a Perú, desembarcar y dejar anclado ahí el Huascar, sueño con compartir el mar con Bolivia y por su puesto, soy el primero en embarcarme en un BARCO boliviano hasta Talcahuano.

    Francisco
    chileno