Die Straßen, erneut…

Foto: Cammila Gómez Grandoli - 25 de Mayo de 2010 en Av. 9 de Julio - Buenos Aires - Argentina

Die 200-Jahrfeier Argentiniens verbrachte ich damit, in der Menge eingetaucht durch Buenos Aires zu wandern und mir darüber den Kopf zu zerbrechen, was das denn nun sei, das „Vaterland“. In der Universität hatten sie uns eingetrichtert, dass dieses Gefühl kollektiver Zugehörigkeit der Vorstellungskraft einiger Herren im fernen 19. Jahrhundert entsprungen sei, dass die Geschichte, jede Geschichte, nur eine Erfindung der Macht sei, ein Zuschnitt der Realität, entworfen, um uns zu schwächen. Aber inmitten dieser Menschenmenge erschien es mir unmöglich, die Emotionen anhand dieser blöden Bücher herauszufiltern, die ja auch dazu geschrieben worden waren, um bestimmte Subjektivitäten zu formen. In unserer Nationalhymne heißt es: „Ewig sei der Lorbeer, den wir zu erlangen wussten“ und ich bin davon überzeugt, dass sich niemand beim Singen jemals darüber Gedanken gemacht hat, um welche Lorbeeren es eigentlich geht. Jedenfalls schwören wir alle aus tiefstem Herzen „ruhmreich zu sterben“, wir spüren, dass diese große Farce uns so eigen ist wie unsere Augen und unsere Hände, so eigen wie eine geteilte Geste und so weit entfernt von der Welt der Wahlen wie unsere Eltern, Geschwister und unsere Physiognomie.

Als das Fest zu Ende war, stellte ich fest, dass ich mich mitten auf der Avenida 9 de Julio befand, dem Sinnbild Argentiniens. In Buenos Aires sind politische Demonstrationen, manche von ihnen Massendemonstrationen, an der Tagesordnung, so dass es für uns zur Normalität gehört, auf die Straße zu gehen, um tausende von Dingen einzufordern. Doch es ist alles andere als normal, zum gemeinsamen Feiern auf der Straße zusammen zu kommen, es sei denn, wir gewinnen ein Fußballspiel.

Bei manchen Ereignissen so wie 2001, als es zu dem großen sozialen Aufstand kam, der als Argentinazo bekannt wurde und der mit der Regierung Fernando de la Rúas aufräumte, konnte man auf derselben Straße Szenen des Jammers, des Geschreis und sogar des Gefechts beobachten, die Gänsehaut hervorriefen – zumindest bei einem kleinen Studenten, der bereits damals Sehnsucht nach Aufruhr und Revolution hatte. Ich arbeitete mitten im Zentrum in einem städtischen Museum, wenige Blöcke von der Plaza de Mayo entfernt. De la Rúa hatte soeben den Notstand ausgerufen, um anschließend alle Ersparnisse der Bevölkerung zu beschlagnahmen. Unmittelbar nach der Verkündung seiner Entscheidung, den argentinischen Staatsbürgern alle bürgerlichen und politischen Rechte zu entziehen, begannen die Menschen, auf die Straße zu strömen, auf die Boulevards, die Plätze oder vor die Häuser einiger Minister, die dafür verantwortlich waren, dass in unserem Land fast 50 Prozent der Menschen in Armut lebten. Die Volksvertretung war zusammen gebrochen und die Mittelschicht ging mit Kochtöpfen in der Hand auf die Straße und rief die Parole: „Haut alle ab, keiner soll bleiben!“ Währenddessen umzingelten in den ärmeren Vierteln ganze arbeitslos gewordene Familien die Supermärkte, um Nahrungsmittel einzufordern, und die ganz Verzweifelten hielten Fleischtransporter an und teilten den erbeuteten Mundraub unter sich auf. Die wenigen sozialen und politischen Organisationen, die weiter handlungsfähig blieben, waren jene, die schon immer am Rande der Ämter und der Bürokratie agiert hatten, wie die linken Parteien und die organisierten Arbeitslosen, die so genannten „Piqueteros“. In den Tagen vor dem 19. Dezember 2001 gingen tausende von irritierten und verärgerten Menschen, die es nach den 23 Uhr-Nachrichten Leid waren, schlechte Neuigkeiten, schlechte Entscheidungen mitgeteilt zu bekommen und es vor allem satt hatten, keine anderen Lösungsvorschläge als die des Internationale Währungsfonds zu hören, auf die Straßen, schlugen auf Kochtöpfe und verbrannten Gummi, um die Straßen zu blockieren. Die Frauen der Mittelschicht, die Markenkleidung aus den Einkaufszentren trugen, die während der Präsidentschaft Menems entstanden waren, schrieen mit aufgeregter Stimme: „Piquete (Barrikade) und Kochtopf, der Kampf ist derselbe!“ Damit gaben sie vor, eine vermeintliche Einheit mit den unteren sozialen Schichten zu bilden. In den Vierteln jedoch, in denen die Piqueteros lebten, hörte man keine solcher Parolen. Die unterprivilegierten Schichten wussten bereits zwischen ihren Alliierten zu unterscheiden und ihre Organisationen waren sich der Kurzlebigkeit solcher Freundschaften bewusst.

Buenos Aires ging in Flammen auf und niemand vermochte es, Kontrolle über die Situation zu erlangen. Als mittags verkündet wurde, dass der restliche Arbeitstag ausfallen würde, hatte die Polizei bereits mehr als 20 Personen getötet. Ich lief durch die Straßen in Richtung Zentrum, um zur Plaza de Mayo zu gelangen. Die angrenzenden Blöcke sahen aus wie ein Kriegsgebiet. Improvisierte Barrikaden an den Kreuzungen sollten die politische Repression abwehren; dahinter hatten sich alle möglichen Leute – von Militanten bis hin zu Kurieren samt ihren Motorrädern – verschanzt. Der Krach der Schreie, der Sirenen, der Tränengasgranaten, der Gewehrschüsse und die Gesänge der Masse, wenn sie auf die Polizei zustürmte, war schaurig und Angst erregend, und machte gleichzeitig Lust daran teilzunehmen. Als ich nach Hause kam, war die Zahl der – vorwiegend jugendlichen – Toten bereits auf 39 angestiegen. Die Straßen waren im wahrsten Sinne des Wortes mit Blut beschmiert und das Fernsehen zeigte immer wieder die verzweifelten Augen derjenigen, die die Toten auf der Straßen betrachteten. Die Epoche des extremen Liberalismus, die mit der Diktatur 1976 begonnen hatte, endete mit diesem großen Knall, den die faktische Macht mit allen Mitteln der Repression und des Trugs zu verhindern gesucht hatte.

Diese schäbige Realität scheint im Laufe der Jahre immer mehr in der Vergangenheit geblieben zu sein und heute drängen sich die Menschen auf der Straße, um nicht nur das Jubiläum der Revolution vom 25. Mai 1810 zu feiern, sondern auch den Triumph des Lebens über den Tod, der Freude über die Wut. Sechs Millionen Menschen bevölkerten den ganzen Tag und die ganze Nacht alle Ecken und Enden der Stadt, um am Spektakel teilzunehmen, auf Partys, in Kneipen, Diskotheken und Restaurants, ohne dass ein einziger gewalttätiger Zwischenfall sich ereignete. Obwohl die monopolistischen Medien zu Beginn versucht hatten, den Unabhängigkeitsfeierlichkeiten die Bedeutung abzusprechen, ist es eine der wesentlichen Erfolge unserer Regierung, dass es ihr gelungen ist, dass sich die Menschen wieder für Politik interessieren. In jeder nur erdenklichen Kneipe werden heute konkrete Themen diskutiert, Strategien, Möglichkeiten, Pläne, die umgesetzt werden müssten usw.. Auch wenn die Medien ständig versuchen, den Klatsch und Tratsch zum Thema zu machen, kehrt die Politik immer wieder auf die Bildfläche zurück.

Diese vier Tage der Feierlichkeiten waren auch Tage des Waffenstillstands in den alltäglichen Schlachten, die seit 2001 andauern. Die Menschen umarmten sich, lachten und redeten miteinander. Ganze Familien vermischten sich mit anderen, die Mädchen blendeten uns mit ihrem Lachen und die Jungs sangen in voller Lautstärke und sprangen hin und her, als ob die ganze Stadt ein großer Fußballplatz sei. Nachdem wir viele Jahrzehnte wie hypnotisiert nach außen und nach oben geschaut haben, beginnen wir nun, nach innen und nach unten zu schauen, unsere Aufmerksamkeit auf die blutigen, dunklen und gealterten Straßen zu lenken und zu versuchen, sie mit unseren Unmengen von Schritten zu säubern.

Übersetzung: Marcela Knapp

5 Kommentare zu 'Die Straßen, erneut…'

  1. Liliana Lara sagt:

    Cuando comenzó el „argentinazo“ estábamos en Caracas, lo vimos en el televisor de una panadería. Mi esposo, que es argentino, no lo podía creer. El resto de la gente recordó el „caracazo“ con escalofríos. Yo del „caracazo“ sólo tengo memorias ajenas y algunas imágenes de la tele: la gente gritando, arrasando con todo y siendo arrasada por tanques militares. Desde entonces en mi país la gente está siempre en la calle protestando. Siempre sufriendo y viviendo en un mar de violencia inaudito. Ojalá en las celebraciones bicentenarias de Venezuela se encuentren todos los bandos con ese ambiente de alegría que describes en tu artículo. Un gusto leerte.

    Spandeutsch (Marcela):

    „Wir waren in Caracas, als der „Argentinazo“ begann, wir sahen ihn im Fernseher einer Bäckerei. Mein Mann ist Argentinier und konnte es nicht glauben. Alle anderen erinnerten sich mit Schaudern an den „Caracazo“ (sozialer Aufruhr in Caracas im Jahr 1989). An den „Caracazo“ habe ich nur vage Erinnerungen und einige Bilder aus dem Fernsehen: schreiende Menschen, die alles zerstören und durch Panzer zerstört werden. Seitdem sind die Menschen in meinem Land immer auf der Straße, um zu protestieren. Sie leiden und leben in einem noch nie dagewesenen Meer der Gewalt. Hoffentlich treffen sich auch hier alle Parteien zum 200jährigen Jubiläum Venezuelas in einer solch freudigen Atmosphäre, wie du sie in deinem Artikel beschreibst. Es ist eine Freude, ihn zu lesen.“

  2. Agustín Calcagno sagt:

    Liliana. Me alegra mucho que te haya gustado mi artículo, pero me veo en la obligación de aclararte que yo creo que las tensiones y la confrontación son algo sumamente bueno y natural. En sociedades profundamente injustas, es evidente que las disputas van a ser más graves que en aquellas en las que la desigualdad es menor. Como síntoma para nuestros países, la gente reclamando calle es algo bueno desde mi punto de vista. Y claro que en simultáneo también se hicieron actos en los cuales participó toda la oligarquía local pregonando por la „unidad nacional“, pero no me interesa hablar de ellos. A mi me interesa la gente que transita la calle con sus pies y no en automóviles. Creo que esa es la gente que murió en 2001 y que hoy puede festejar porque tiene dinero para tomar un colectivo y una renovada dignidad para cantar. Para ellos es mi homenaje y para nadie más, tal vez es porque creo, no sin soberbia, que „mi bando“ es el de las mayorías. Te mando un cordial saludo desde Buenos Aires y ojalá que en los festejos venecos se junte mucha gente feliz también.

    Spandeutsch (Marcela):

    „Liliana, es freut mich, dass dir mein Artikel gefallen hat, aber ich würde gerne noch klarstellen, dass ich glaube, dass Spannungen und Konfrontation etwas grundlegend Gutes und Natürliches sind. Offensichtlich werden die Auseinandersetzungen in besonders ungerechten Gesellschaften ernster sein als in jenen, in denen die Ungleichheit geringer ist. Aus meiner Sicht ist es in unseren Ländern etwas Gutes, wenn die Menschen auf die Straße gehen, um etwas einzufordern. Und natürlich kam es gleichzeitig zu Handlungen, an denen die gesamte lokale Oligarchie teilnahm und die „nationale Einheit“ ausrief, aber von ihnen möchte ich nicht sprechen. Mich interessieren die Menschen, die die Straße zu Fuß entlang laufen und nicht mit Autos befahren. Ich glaube, dass es jene Menschen sind, die 2001 gestorben sind und heute feiern können, weil sie Geld haben, um die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen und eine neue Würde errungen haben, um zu singen. An sie richtet sich meine Hommage und an niemand anderen, vielleicht weil ich glaube – nicht ohne eine gewisse Überheblichkeit – dass „meine Überlegungen“ die Meinung der Mehrheit wiedergeben. Ich schicke Grüße aus Buenos Aires und hoffe, dass auch bei den venezolanischen Feierlichkeiten viele Menschen miteinander feiern werden.“

  3. Excelente artículo donde encontrar la historia de un suceso reciente que parece ya olvidado es para mí una muestra más de cómo el pasado y la historia se manipulan desde el borrón, una práctica para mirar hacia otra parte cuando aparecen aquellas cosas que han sobrevivido en el presente y que no queremos reconocer. Una historia no contada es como una historia que no ocurrió. Por eso los discursos de poder se preocupan tanto por la historia. Y por eso es tan importante relatar las versiones de quienes no escribieron el libelo oficial.

    Me encantan imágenes finales de tu artículo. Hacia dentro y hacia abajo… buenas direcciones para enfocar el ojo corvo de un país.

    Spandeutsch (Marcela):

    „Ausgezeichneter Artikel, in dem sich die Geschichte eines Ereignisses der jüngsten Vergangenheit, die schon vergessen scheint. Für mich ist das ein Beispiel dafür, wie die Vergangenheit und die Geschichte mit Hilfe des Ausradierens manipuliert werden, eine Methode, um in eine andere Richtung zu schauen, wenn Dinge auftauchen, die in der Gegenwart überlebt haben und die wir nicht anerkennen möchten. Eine nicht erzählte Geschichte ist eine Geschichte, die nicht geschehen ist. Deshalb sind die Diskurse der Macht so besorgt um die Geschichte. Und genau deshalb ist es so wichtig, jene Versionen zu erzählen, die nicht in offiziellen Pamphleten stehen.

    Ich bin begeistert von den abschließenden Bildern deines Artikels. Nach innen und nach unten zu schauen… das sind gute Richtungen, um auf sie den Blick des gekrümmten Auges eines Landes zu richten.“

  4. Agustín Calcagno sagt:

    Gracias Lizabel. La verdad es que me enorgullece que hayas captado tan certeramente las intenciones del artículo y me encanta lo de „el ojo corvo de un país“…coincido plenamente. Te mando un afectuoso saludo.

  5. Rox sagt:

    Tu texto me movió y mucho.

    Soy mexicana y este año también es nuestro bicentenario. El gobierno ha elaborado una campaña muy idiota (a mi parecer) en torno a la historia y nuestras raíces. Atascada de clichés, pretenden un unión que, entre más urge, más lejana se ve.

    Conozco tu país y a su gente y me siento muy feliz que lo hayan celebrado así.

    Enhorabuena.

    Spandeutsch (Marcela):

    „Dein Text hat mich sehr bewegt.
    Ich bin Mexikanerin und in diesem Jahr feiern auch wir unser 200jähriges Jubiläum. Die Regierung hat eine total idiotische Kampagne gestartet (zumindest empfinde ich sie als solche) zu unserer Geschichte und unseren Wurzeln. Angefüllt mit Klischees behauptet sie eine Einheit, die sich immer weiter weg ist, je mehr sie nach ihr drängt.
    Ich kenne dein Land und seine Leute und freue mich darüber, dass sie miteinander gefeiert haben.
    Glückwunsch!“