Angosturabitter

Es heißt, Cuba Libre existiere nicht ohne Angosturabitter. Es klingt nach einem politischen Slogan, doch in Wirklichkeit handelt es sich um ein Rezept für einen Long Drink: Coca-Cola, Rum und ein Spritzer des aromatischen Bitterlikörs, der zum ersten Mal in Angostura hergestellt wurde, jener Stadt, in der Simón Bolívar  seine berühmten schlaflosen Nächte verbrachte, weil ihm ein Traum keine Ruhe ließ: der Traum von Groß-Kolumbien. Es heißt, es müsse in jeder respektablen Bar ein Fläschchen dieses Bitterlikörs aus dem alten Angostura geben, einer heute besser unter dem Namen Ciudad Bolívar bekannten Stadt, wie diese seit 1846 heißt.

Ich erinnere mich kaum an das heutige Ciudad Bolívar, es ist zwei oder mehr Jahre her, dass ich seine überfüllten Straßen entlang gelaufen bin. Doch wenn ich aus der Ferne versuche, mir die Stadt ins Gedächtnis zurück zu rufen, erscheint zuerst das Bild des unhörbaren Orinocos, wie er von dem ausufernden Straßenlärm, den schallenden Händlern, den mit Billigware voll gestopften Läden, den überdachten Gassen, den Balkonen, Zäunen und Gittern überlagert wird. Ich erinnere mich auch an ein Boot, das den Fluss überquerte, um die Bewohner eines verlorenen Dorfes von der anderen Seite des Ufers über den Flusses zu transportieren. Dieses Boot war nicht viel mehr als eine Nussschale mit Motor, die zwischen Steinen in einem improvisierten Hafen anlegen musste. Ich erinnere mich, dass die Leute wie Jongleure aus den Booten stiegen. Mit Koffern und Taschen in den Händen balancierten sie über die holprigen Steine. Früher jedoch fuhren beachtlich große Schiffe bis hier her den Orinoco hinauf, umschifften Strudel, Strömungen und Delphine. Sie legten in einem aus Holz gebauten Hafen an und die Passagiere mussten beim Aussteigen keine Akrobatikübungen machen. Es waren Schiffe, die über das Flussdelta hineinfuhren, sie kamen aus dem Karibischen Meer, von Trinidad, aus England. Sie verschifften Güter hin und her. Sie brachten Menschen, viele Menschen: englische Söldner, deutsche Ärzte, Abenteurer, die vom El Dorado träumten, Kreolen und Spanier. Einige Schiffe importierten Bücher, Musikinstrumente, Arbeitskraft oder Waffen. Andere exportierten, was immer sie konnten.

Es ist mehr als 150 Jahre her, dass eines dieser großen Schiffe den deutschen Arzt Johann Gottlieb Benjamin Siegert mitbrachte, der hier an Land ging, um sich der Choleraepidemie anzunehmen, die in der Ortschaft grassierte und um die Kriegsverletzten zu verarzten, welche die Bürgerkriege im Anschluss an die nationale Unabhängigkeit forderten. An der engsten Stelle des Flusses wurde dieser Arzt von Simón Bolívar höchstpersönlich zum Chefchirurg des Militärkrankenhauses ernannt. Und an diesem Ort, inmitten der Barbarei der Kriege, erfand dieser Deutsche ein Tonikum aus Obst, Wurzeln, Samen und Rinden, um den brennenden Schmerz der Cholera und anderer damals noch unbekannter Seuchen zu lindern. Die Zubereitung aber war so beliebt und gefragt, dass der Arzt dem Lazarett den Rücken zukehrte und sich nur noch der Herstellung seines Geheimtrunks widmete. Die Fläschchen wanderten kistenweise in den Schlund der Holzwale, folgten dem Lauf des Flusses, schüttelten sich in den Stromschnellen des Deltas und gelangten so schließlich in die Karibik. Manche machten auf Trinidad Zwischenstopp, bevor sie ihre Reise nach Caracas fortsetzten. Andere fuhren weiter, mit Kurs auf irgendeinen europäischen Hafen. Und so kam es, dass dieses Gebräu aufhörte, lediglich als Heilmittel benutzt zu werden und mehr und mehr zum Abschmecken von Suppen und Aromatisieren von Cocktails eingesetzt wurde.

Viele Jahre später reiste das Angosturabitter zweifellos denselben Fluss hinauf, der einst auch seinen Erfinder dort hin befördert hatte. Die Kinder des Deutschen flohen aus Venezuela – vor all den Kriegen und all den caudillos (politischer Anführer), von denen einer den anderen ablöste. Sie gelangten nach Trinidad und ließen sich dort nieder. Und mir ist so, als habe auch das Angosturabitter die Stadt verlassen und als sei mit ihm auch eine gewisse Sanftheit und der Traum von einer kosmopolitischen Stadt, mit dem sich das alte Ciudad Bolívar tröstete, der Stadt abhanden gekommen. Einige Zeit später versandeten die Schiffe im Fluss. Der Handel schlief ein, der Schmuggel versiegte und die großen Schifffahrtsrouten nach Ciudad Bolívar wurden eingestellt. So scheint es, als gäbe es heute nur noch Boote, die Personen von einem Ufer zum anderen bringen, Personen, die zum Arbeiten kommen oder um Lebensmittel einzukaufen. Sie gehen ohne Hafen an Land und wahrscheinlich trinken sie ihren Cuba Libre auch ohne Angosturabitter.

Übersetzung: Anne Becker

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