Weder noch

Es sind nur kleine Verschiebungen, es ist, als sei man sehr lange gerannt für einen Sieg, und die Chancen stehen nicht schlecht, und dann verlangsamt man seine Schritte, die Erde rotiert weiter, und man läuft mit einem Mal rückwärts. Das Ziel gerät aus den Augen, und man merkt, wie sehr man es schon während des Laufens eigentlich nicht mehr im Blick gehabt hat. Selbst der Schock über den Verlust der Motivation fällt so gering aus, dass man sich wundert.

Man hat sich vielleicht mit Bob Dylan bemüht, für immer jung zu bleiben, und nicht das physische Altern stünde dem im Weg, wohl aber die abnehmende Bereitschaft zur Investition in die eigene Renitenz und den Willen zum kompromisslosen Geniestreich.

Da steht er nun der Rohbau für all die genialen Gespenster, die man nicht verraten wollte, um den Preis der vorzeitigen Geistesvergreisung, wie es Adorno in der Dialektik der Aufklärung in dem Artikel Gezeichnet androhte, und wirkt gespenstischer als die guten Geister, um derentwillen man ihn hochzog.

Man sitzt vielleicht in einem der oberen Stockwerke und fröstelt, obgleich es warm ist, aber eine schützende Hülle fehlt, und man denkt an die Türme des Schweigens der Parsen, was einem davon zugetragen wurde, und die ihre Toten hier aufbahren könnten, damit sie die Geier holen und vielleicht ein Stück Himmel so zurückgewonnen wäre. Lieder fallen einem ein, von Zeiten, wo man verraten wurde, noch bevor man überhaupt selbst den Verrat an den Idealen begehen konnte.

Lieder des Wanderns, der Unstetigkeit, Georg Kreislers Weder noch. Lieder für das und aus dem Exil: „Man muss nur wissen, man hat niemals ein Zuhause / Und dass man niemals ein Zuhause haben wird / Und dass man, wenn man einmal sagt: Ich geh’nach Hause / Sich höchstwahrscheinlich in der Ausdrucksweise irrt.“

“GEZEICHNET

Im Alter von 40 Jahren pflegen Menschen eine seltsame Erfahrung zu machen. Sie entdecken, daß die meisten derer, mit denen sie aufgewachsen sind und Kontakt behielten, Störungen der Gewohnheiten und des Bewußtseins zeigen. Einer läßt in der Arbeit so nach, daß sein Geschäft verkommt, einer zerstört seine Ehe, ohne daß die Schuld bei der Frau läge, einer begeht Unterschlagungen. Aber auch die, bei denen einschneidende Ereignisse nicht eintreten, tragen Anzeichen von Dekomposition. Die Unterhaltung mit ihnen wird schal, bramarbasierend, faselig. Während der Alternde früher auch von den anderen geistigen Elan empfing, erfährt er sich jetzt als den einzigen fast, der freiwillig ein sachliches Interesse zeigt.

Zu Beginn ist er geneigt, die Entwicklung seiner Altersgenossen als widrigen Zufall anzusehen. Gerade sie haben sich zum Schlechten verändert. Vielleicht liegt es an der Generation und ihrem besonderen äußeren Schicksal. Schließlich entdeckt er, daß die Erfahrung ihm vertraut ist, nur aus einem anderen Aspekt: dem der Jugend gegenüber den Erwachsenen. War er damals nicht überzeugt, daß bei diesem und jenem Lehrer, den Onkeln und Tanten, Freunden der Eltern, später bei den Professoren der Universität oder dem Chef des Lehrlings etwas nicht stimmte! Sei es, daß sie einen lächerlichen verrückten Zug aufwiesen, sei es, daß ihre Gegenwart besonders öde, lästig, enttäuschend war.

Damals machte er sich keine Gedanken, nahm die Inferiorität der Erwachsenen einfach als Naturtatsache hin. Jetzt wird ihm bestätigt: unter den gegebenen Verhältnissen führt der Vollzug der bloßen Existenz bei Erhaltung einzelner Fertigkeiten, technischer oder intellektueller, schon im Mannesalter zum Kretinismus. Auch die Weltmännischen sind nicht ausgenommen. Es ist, als ob die Menschen zur Strafe dafür, daß sie die Hoffnungen ihrer Jugend verraten und sich in der Welt einleben, mit frühzeitigem Verfall geschlagen würden.” (Adorno, Dialektik der Aufklärung)

Nur möchte ich mit Kreisler antworten: “Meinen Sie, das ist schlimm? / Meinen Sie, das ist gut? / Weder noch, glauben Sie mir! // Meinen Sie, man kriegt Angst? / Meinen Sie, man kriegt Mut? / Weder noch, glauben Sie mir! // Man muss nur denken: „Na, was schadet schon das Wandern?“ / Und man darf weder sich noch and’ren Leuten grollen / Denn man muss wissen: Man ist ganz so wie die Andern / Nur dass die Andern grade das nicht wissen wollen.”

Und am allerwenigstens wollte man das je selbst wissen, als man wie Colin kurz vorm Ziel abbremste, unter Befeuerungsrufen und der Hoffnung auf einen Sieg, der schon in der Jugend nicht zum Ideal eines Selbstentwurfs gehörte, und für den man dennoch nicht aufhört zu trainieren.

Es ist, als ob die Menschen zur Strafe dafür, dass sie Ideale haben, mit unaufhörlicher Unrast geschlagen würden und so für Unheil sorgen, das ja bekanntlich daher rührt, dass sie nicht still in ihrer Kammer sitzen können.

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