Mein genetisches Muster für Migration

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Wenn man – wie ich – mit Ende 30 auf einmal von einem Beamten im Berliner Senat offenbart bekommt, dass man durch die Eltern Migrationshintergrund habe und das im Antragsformular für ein Stipendium auch ankreuzen solle, wankt erst einmal gehörig das Selbstbild. Bis dahin hatte ich angenommen, einfach nur deutsch zu sein (in meiner Kindheit wurde ich nie wie ein Migrantenkind behandelt, weil die DDR diese historische Fußnote in den Lebensläufen meiner Eltern, die beide nach dem Krieg aus den Ostgebieten vertrieben oder umgesiedelt oder was weiß ich worden sind, lieber unter den Teppich kehrte). Aber auf einmal wurde alles viel komplizierter. Von da an brauchte ich für die Wiederherstellung meines kognitiven Gleichgewichts das Wort: Heterogenität.

Jo Schneider hat schon in seinem Essay auf die gerade in Deutschland geführte, leidige Debatte um Anstieg und Fall des gesamtdeutschen Intelligenzquotienten durch (muslimische) Migrantenfamilien aufmerksam gemacht. Nicht allein, dass eine solche Diskussion selbst schon lächerlich ist, aber geht sie mir (als frisch gebackene Deutsche mit Migrationshintergrund) an dem eigentlichen Problem vorbei: nämlich des verqueren politischen Selbstverständisses des „deutscher Bürger-Seins“ als scheinbar homogenes. Darin liegt nun auch eine Art von angenommener genetischer Vererbung des Deutschseins, dass latent in der momentanen Debatte mitschwingt, aber von der Seite in den Medien überhaupt nicht diskutiert wird. Wenn kein Gen den Fortbestand einer Nation oder Volksgruppe etc. maßgeblich bestimmt, dann auch nicht den der Deutschen. Somit schränkt ein Staat die Individualität seiner Bürger ein, wenn er ihnen einen Hintergrund bescheinigt, der ein Menschenrecht für jedes Individuum darstellt, denn jedes Individuum ist doch frei, sich von hier nach da zu bewegen, sich aus einem kulturellen Zusammenhang zu lösen und sich wieder in einen anderen einzufügen. Oder gilt die Globalisierung nur auf wirtschaftlicher Ebene?

Die Emsigkeit der deutschen Medien um Aufklärung zum Stand der aktuellen genetischen Forschung zeigt umso mehr: Deutscher Bürger kann jeder werden. Wenn deutsch zu sein heißt, gewisse Bräuche, einen distinktiven Habitus, die deutsche Sprache zu beherrschen und eine (weitgehend idealisierte) Bildung genossen zu haben, dann heißt das nur, durch das Wirken eines kulturspezifischen Musters (oder Umfelds meinetwegen) geprägt worden zu sein. Ich behaupte mal frech, dass viele so genannte „homogene Deutsche“, also die ohne Migrationshintergrund, es nicht selten an den einschlägigen Prägungen dieses Musters fehlen lassen. Die Bildungsmisere in Deutschland ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen politischen Versagens, Herumwurschtelns und fehlender Durchsetzungskraft auf diesem Gebiet und einer immer weiterführenden Abschiebung der Bildungsverantwortung in den Privatraum der Familie. Aber eine Bildungsverantwortung, die eine Volksgruppe prägt und sie überhaupt als eigenständige ausweist, sollte nicht auf den jeweiligen heterogenen und individual geprägten Campus der einzelnen deutschen Familien abgeschoben, sondern unabhängig von ihnen, von der bündelnden Systemkraft dieser kulturellen Gemeinschaft geleistet werden. Dazu müsste man diese Gemeinschaft aber erst mal als offene, individualisierte und vor allem heterogene und veränderliche begreifen und sich klar darüber sein, dass jeder zu Hause das sein kann, was er will – nämlich Individuum, mit welchem Kopftuch, mit welchem Haarschnitt oder womit auch immer er sich spirituelles Gleichgewicht verschafft. Deutschland ist per Grundgesetz ein säkulares Land, da sollte eine Religionszugehörigkeit in politischen Debatten eigentlich keine Rolle mehr spielen, es sei denn, wir machen uns hier alle etwas vor.

Meinen Migrationshintergrund und damit meine deutsche Heterogenität rechne ich mir zu meinem kulturellen Vorteil an. Ich bringe noch etwas mit, eine Farbe über dem Horizont. Wenn es mir finanziell möglich sein wird, mein Genom entschlüsseln zu lassen, werde ich das tun und sehen, ob sich bei mir ein spezifisches genetisches Muster für Migration nachweisen lässt, das ich vielleicht sogar an meine Tochter weitergegeben habe. Womöglich wird auch sie sich irgendwann in diesem Land anhören müssen, dass sie zur zweiten Generation einer Migrantenfamilie gehört. Vielleicht aber wenden wir dann aus besserem Wissen den Begriff nicht mehr an. Jetzt, da ich als Deutsche mit Migrationshintergrund bezeichnet werde, fühle ich mich auch so.

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