Democracia = Demokratie?

Wir schreiben seit ein paar Monaten in diesem Blog mit dem Titel „Los Superdemokraticos“. Aber: Bedeutet Demokratie für die deutschen und die lateinamerikanischen Autoren überhaupt über das Gleiche? Wenn doch schon der Begriff bei einem Kolombianer und einem Argentinier völlig unterschiedliche Assoziationen auslösen kann! „Die Rückkehr zur Demokratie“ ist für einen Argentinier ein Meilenstein, ein Aufatmen. „La seguridad democrática“ in Kolumbien ist ein Sicherheitskonzept der harten Hand, entworfen unter Ex-Präsident Alvaro Uribe.

Das beste ist immer, jemanden zu fragen, der Bescheid weiß. Roberto Gargarella zum Beispiel. Er ist Anwalt und Soziologe, Master in Political Sciences, hat zu verschiedenen Aspekten der Funktionsweise demokratischer Systeme gearbeitet. Er unterrrichtet in Buenos Aires an der Universidad Di Tella, war Gastprofessor in Spanien, Norwegen und Ungarn. Im November fliegt er nach Hamburg, um dort im Rahmen eines Seminars des GIGA-Instituts über Verfassungsänderungen in Lateinamerika zu sprechen.

Meinen Argentinier und Deutsche das Gleiche, wenn sie über „Demokratie“ sprechen?

Wir sprechen oft über völlig verschiedene Dinge, wenn wir einen Begriff definieren. Es kann zum Beispiel etwas völlig anderes bedeuten, wenn man sagt: „Ich bin links“, „Ich bin rechts“, „Ich bin Liberaler.“ In Argentinien ist ein Liberaler rechten Ideologien nah, sogar der letzten Diktatur, während der Liberalismus z.B. in den USA als fortschrittlich gilt, sich auf die Linke bezieht.

Welche Rolle hat der Staatschef in den beiden Ländern?

In Argentinien haben wir ein Präsidialsystem, das zu einem Hyper-Präsidialsystem geworden ist. Die Grundlage für die meisten lateinamerikanischen Verfassungen ist das nordamerikanische Modell, aber unsere Präsidenten haben verfassungsmäßig mehr Macht als in den USA. Ein argentinischer Präsident kann in die Politik der Provinzen eingreifen, den Ausnahmezustand erklären, durch diesen die Bürgerrechte einschränken, er kann nach Gutdünken Minister ernennen und absetzen. In parlamentarischen Systemen hat ein Präsident längst nicht so viele Vollmachten.

Deshalb steht die Figur des Präsidenten im Mittelpunkt, er ist der große Entscheider. Ich kritisiere das Hyper-Präsidialsystem, weil es ein großes Risiko gibt: Das System der Gewalten und Gegengewalten, kann durch eine sehr starke Exekutive gestört werden.

Wenn man den Statistiken glaubt, funktioniert die Demokratie in Deutschland besser als in Argentinien.

Wenn wir die Demokratie als ein System von Gewalten und Gegengewalten verstehen, mit freier Meinungsäußerung, regelmäßigen Wahlen, steht Argentinien im Vergleich schlechter da.

Wenn man aber näher hinschaut und auf die Kontrollmöglichkeiten achtet, die die Bürger gegenüber ihren Volksvertretern haben, funktionieren beide Modelle, das argentinische und das deutsche, nicht gut. Ich ziehe es vor, ein Demokratie kritisch zu beurteilen.

In einem Punkt liegt Argentinien übrigens vorne, es gibt eine große Beteiligung der Bürger in der Tagespolitik. Die Leute interessieren sich, handeln politisch, gehen auf die Straße, protestieren, und zwar mehr als in europäischen Ländern. Das ist meiner Meinung nach einer der interessantesten Züge, die die lateinamerikanische Politik vorzuweisen hat: Dass die Bürger sich für etwas einsetzen und versuchen, selbst politische Kontrolle auszuüben.

Trotzdem herrscht in Argentinien Wahlpflicht.

Das ist kein Problem, sondern eine Tugend unseres Systems. Eine freiwillige Stimmabgabe ist ein Risiko, vielleicht gehen die Leute nicht wählen, weil sie denken: „Meine Stimme zählt nicht viel, was macht sie schon aus, eine von 50 Millionen.“ Die Wahlpflicht ist ein kleiner Schubs, den der Staat gibt. Es heißt, dass Nichtwähler eine Strafe zahlen müssen, aber das wird nicht durchgezogen. Die Wahlpflicht ist ein wichtiger Anreiz, schließlich steht etwas Bedeutendes auf dem Spiel: „Wie definieren wir die politische Organisation in den nächsten Jahren?“

Das Vertrauen in die Institutionen ist gering. Wie schätzen Sie deren Leistung ein?

Es gibt eine Tradition der Staatsstreiche, aber das Militär hat nicht mehr viel Einfluss auf die Politik. Ich würde mir in Argentinien, und auch in anderen Ländern, mehr Sorgen um die Rolle der Polizei machen. Sie ist nach wie vor korrupt und in Verbrechen verwickelt. Die Justiz ist besser geworden. Es war lange üblich, dass eine Regierung versuchte, eine Mehrheit im Obersten Gericht zu erreichen. Deshalb variierte die Qualität und die Rechssprechung wechselte oft. Wir hatten liberale Gerichte, konservative, korrupte, und in diesem Moment ist das Oberste Gericht respektabel, mit guter akademischer Bildung, unabhängig.

Wieviel Einfluss hat die so genannte „fünfte Macht“?

Der Einfluss großer Unternehmen ist ein großes Defizit der Demokratie in Deutschland und in Argentinien. Bei uns kommt ein wirtschaftliches Ungleichgewicht dazu, das dafür sorgt, dass die Mächtigen noch mächtiger sind. Bis in die 70er und 80er Jahre war Argentinien sehr egalitär, mit der letzten Diktatur änderten sich diese Strukturen. Die Ungleichheit ist ein Problem, für das wir noch lange keine Lösung haben.

Wie frei ist die Presse?

Journalisten werden in Argentinien nicht verfolgt, es gibt oppositionelle Medien und keine direkte Zensur. Es gibt indirekte Zensur, vor allem in der Art und Weise, wie die Regierung Anzeigen von Staatsseite verteilt. Das sind enorme Summen, die nach Gutdünken vergeben werden. Abgesehen davon haben wir das gleiche Problem wie alle Länder mit ungleichen Stukturen: Es gibt Stimmen, die nicht gehört werden, weil sie nicht genug Macht oder Geld haben, an die Öffentlichkeit zu kommen. Das kann auch in Deutschland passieren, zum Beispiel müsste man überprüfen, ob die verschiedenen Einwanderergruppen Zugang zur öffentlichen Meinungsbildung haben.

Woher kommt die große Apathie in einigen Ländern?

In Europa hat die wachsende Apathie damit zu tun, dass die Leute merken, dass die Entscheider von Lobbygruppen beeinflusst sind. Die großen Unternehmen haben leichter Zugang zur Macht als die Bürger, der Einfluss der Interessensgruppen ist größer als der von hunderttausenden von Bürgern. Die Türen des Systems sind verschlossen, wenn die Menschen Druck machen. Aber die Systeme sind sensibel für den Druck von Machtgruppen, von Lobbyisten.

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