Ich lebe im Zentrum der Geschichte, und obwohl auf den Feldern frisch ausgetriebene Saat glänzt, bewahrt die Erde sehr alte Geheimnisse. Vor ein paar Wochen machten wir mit den Kindern einen Ausflug, wir wollten Enten angucken gehen an einem wilden Weiher mitten in den Obst- und Gemüsefeldern, und wir fanden zerbrochene Fliesen. Sie waren alt, aber nicht so alt. Ich dachte, es handelte sich um einen archäologischen Fund, aber mein Mann holte mich in die Realität zurück: Sie konnten nicht so alt sein, sie befanden sich schließlich auf der Erde wie ein kaputter Boden oder Stücke Granit. Eine zerbrochene Geschichte am Ufer eines dickflüssigen Sees. Vor über 60 Jahren gab es in dieser Gegend ein arabisches Dorf. Der älteste Mann aus dem Kibbutz, in dem wir wohnen, berichtet, dass die Bewohner des Dorfes sich erschraken und ganz von alleine die Gegend verließen nach der Staatsgründung Israels. Die zerbrochenen Fliesen, jedoch, scheinen einem entgegen zu schreien, dass der Exodus nicht so sanft gewesen ist.
Hier hört niemand mehr die Stimmen von Burayr, dem verwüsteten Dorf. Ein paar Alte wiederholen die offizielle Geschichte mit der Überzeugung derjenigen, die sich auf bibliographische Angaben stützen können. Ein oder zwei erzählen mit Scham von einer nebulösen Exkursion von fünf Männern mit Gewehren, oder eher Jungs in Todesangst. Die neuen israelischen Historiker behaupten felsenfest, dass die Bewohner dieses Dorfes gewalttätig vertrieben wurden. Es könnte so aussehen, als würden die zerbrochenen Mosaike, die wir auf unserem Ausflug aufs Land finden, dies bekräftigen. Aber dann gibt es da noch die Geschichte von den zu Tode verängstigten Jungen.
Ich lese auf Wikipedia, dass jenes Dorf einmal jüdisch gewesen ist und Beror Hayil hieß. Später wechselte es seinen Namen und seine Hände: Buraryr, Buriron und noch einmal erneut Beror Hayil. Jedem dieser Wechsel ging ein Konflikt voraus, mit seinen jeweiligen zerbrochenen Fliesen. Ich glaube Wikipedia in der selben Art und Weise, wie ich der Geschichte glaube: wohlwissend, dass die Tatsachen beweglich, konstruiert, verformt sind. Die Geschichte ist eine Knetmasse, die jeder nach seinem Belieben zurecht formt. Ein uraltes Wikipedia, das immer wieder von den Siegern neu geschrieben wird. Die Sieger, die vormals die Besiegten gewesen waren. Die Besiegten, die später die Sieger sein werden.
Wenn man irgendetwas von der viel betatschten Geschichte lernen kann, dann, dass all das, was heute eine Gewissheit darstellt, morgen ein tiefer Weiher voller Zweifel sein wird, umgeben von den Spuren der Gewalt. Ich frage mich und mich überkommt Schüttelfrost, ob dieser Kibbutz weiter seinen Namen wechseln wird. Werden womöglich die Fliesen von diesen Häusern in vielen Jahren von einer Familie auf einem Sonntagsausflug gefunden werden?
Übersetzung: Anne Becker
Hermoso y verdadero!!! Leon Gieco escribio:“ si la historia la escriben los que ganan, entonces debe haber otra historia !
Spandeutsch (Anne):
Wunderschön und wahr. Leon Gieco schrieb; „Wenn die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, dann muss es eine andere Geschichte geben!“