Zur Kritik der Gewalt

Der Durchbruch der Sonne ist im Berliner Alltag immer ein großes Ereignis. Ihre Strahlen kündigen der kalten Stadt die Ankunft von Wonne, Genuss und Freude an. An sonnigen Tagen geht man in einem anderen Takt spazieren und die allgemeine gute Stimmung lässt Toleranz zu etwas Glaubwürdigem werden. Die Stadt scheint in einem unvergleichlichen Ausmaß zu jubeln. Die Liebe würde dann in jedem Augenblick aus dem geringsten Glaubensbeweis entstehen, sich überallhin verstreuen.

Sabine ging an diesem Tag raus, um durch die Stadt zu spazieren. Der Glanz ihres goldenen Haars in der Sonne würde alle Geliebten von Sjöfn, der nordischen Gottheit der Liebe, in ihren Bann ziehen. Aber es war Dienstag und Tyr, der Gott des Krieges, blickte durch ihre Augen.

Daniel versprüht Jugend. Er ist ein Jahr jünger als Sabine und seine Haut schimmert in der Sonne wie schwarzer Marmor. Er fühlt sich hier zuhause, auch wenn für ihn Sjöfn Vishnu und Tyr Shiva heißen würde.

Beide wurden in Berlin geboren, aber die Stadt gehört weder dem einen noch der anderen auf die selbe Art und Weise. An diesem Tag nehmen sie nicht ihre Fahrräder, sondern nutzen lieber die öffentlichen Transportmittel. Die U-Bahnhaltestelle Schlesisches Tor ist wie jede andere auch, etwas dreckig, mit eisigem Licht und sonderbarem Geruch. Eine Sicherheitskamera zeigt uns diese Jugendlichen voller Leben. Er steht einen halben Meter von den Gleisen entfernt, als sie den Bahnsteig betritt und sich ihm nähert. Sie stellt sich neben ihn, sagt etwas zu ihm. Sie gestikuliert und scheint zu schreien. Es ist früh am Morgen, möglicherweise hat er sich erschrocken, ich hätte das getan.

Er versucht ihr den Rücken zu kehren, sich taub der Situation zu entziehen. Sie sucht Streit. Sie stürzt sich auf ihn und schubst ihn auf die Gleise. Der Zug kommt in zwei Minuten. Einige Menschen, die in der Nähe stehen und den Vorfall mitbekommen haben, durchbrechen die morgendliche Benommenheit und versuchen, ihn von den Gleisen zu bekommen. Daniel wird später erzählen, dass sein Training als Verteidiger bei der ansässigen Fußballmannschaft ihm dabei geholfen hat, schnell zu reagieren. Auf fast allen Gesichtern steht Schweiß. Alles geht sehr schnell. Die Frische ist verflogen, die Atmosphäre von Entsetzen erfüllt. Es ist unwichtig, ob er sich selbst von den Gleisen gehievt hat oder ob andere ihn hochgezogen haben: Er lebt. Tiefer als die körperliche Verletzung sitzt der Schock. Alle sind ergriffen. Durch den Zoom der Sicherheitskamera kann man das Gesicht von Sabine sehen, es zeigt keine einzige Regung. Tyr fühlt für sie. Sie rennt auf die andere Seit des Bahnsteigs und springt in die Bahn, die in die andere Richtung fährt. Sie entfernt sich…Keiner der Anwesenden hat bis jetzt reagiert. Dann ruft jemand die Polizei, sie werden sie festnehmen und verhören. Sei zeigt keine Reue, nur Hass… Warum?

Es ist sieben Uhr morgens und Thilo Sarrazin schreibt an seinem Buch: Deutschland schafft sich ab. Sein Bruder, Nicolas Chauvin, unsterblich geworden durch “La Cocarde tricolore” diktiert ihm den Text. Das, was er schreibt, trägt nicht das Feuer des Lebens in sich, sondern die Asche der Niederlage. Ein moderner Heine würde Folgendes zu ihnen sagen:

Die Berliner Weber

Sie gehen durch die Stadt mit der Stirn in Falten.
Sie setzen sich vor ein Bier und fletschen die Zähne;
Deutschland, wir werden dein Leichentuch nicht weben.
Und damit weben wir unseren eigenen Fluch.
Wir weben nicht, wir weben nicht!

Gesegnet sei unsere Religion, die Religion der Intoleranz.
In Vereinsamung und Lynchmorden,
An dich glauben wir und dich zwingen wir auf.
Wir betrügen uns, wir vernichten uns.
Wir weben nicht, wir weben nicht!

Gesegnet sei die Regierung, die Regierung der Reichen,
Die unsere Not nicht lindern konnte,
Die uns auch der letzten Hoffnung beraubt
Und uns wie Hunde sterben lässt.
Wir weben nicht, wir weben nicht!

Gesegnet sei das falsche Vaterland,
Wo die Demütigung und die Schande Hand in Hand laufen,
Wo jede Blume schon beim Knospen knickt,
Wo die fauligen Würmer über dem Festessen schwelgen.
Wir weben nicht, wir weben nicht!

Im durstigen Auge keine Tränen.
Deutschland, deine Weber weben nicht,
Weder bei Nacht, noch bei Tag.
Neues Deutschland, deine Weber weben nicht mehr!


Übersetzung: Barbara Buxbaum

Kommentare geschlossen