Das Jahr des Ameisenbären

2006, das Jahr des Ameisenbären, ich ziehe aus einem arschharten Winter, in dem mein Geburtsort das erste Mal in den BBC-Nachrichten Erwähnung findet, weil unter den Schneemassen reihenweise die Strommasten umknicken und meine Mutter und ihr Hund in Ochtrup ohne Notstrom beinahe erfroren wären, von Hamburg nach São Paulo.

Ein Mafiaboss im Gefängnis mit großer Nase verhängt Ausgangssperre, wegen anstehender Verlegung und Nicht-WM-schauen-Dürfens, und ganz Sampa hält sich dran. Lula gewinnt in zweiter Runde gegen Alckmin die Wiederwahl zum Präsidenten. Lula, von dem die Putzfrauen São Paulos nichts erwarten als Streiks. Unter Marcola, dem Großnäsigen, brannten die Busse, unter Lula fuhren sie kaum, was liegt da näher, als sich auf die Fortbewegung aus eigener Kraft zu besinnen.

Kassab, seit 2006 Bürgermeister von São Paulo, Nunkassab – nunca sabe – niemand kann es wissen,  eine beliebte Formel für jemanden, der gleich mal ein Großwerbeverbot mit der Cidade Limpa (Saubere-Stadt-Kampagne) einführte und die schönsten Unterwäschemodels Brasiliens abhängen ließ, von denen sich nun nichts mehr sagen läßt, außer, dass Adriana Lima ja eh nicht für brasilianische Unterwäsche modelt, genau. Also, Nunkassab erdachte eine Sonntagsradfahrstrecke, die Serra, derzeitiger Präsidentschaftsanwärter und Gouverneur des Staates São Paulo, jüngst mit nicht ordnungsgemäß getragenem Helm eröffnete.

Eine politischere Handlung läßt sich in São Paulo kaum denken, wo die Zebrastreifen sonst nur die Stellen markieren, wo man tot gefahren wird und die schlimmste Guerilla mit Autoteilen dealt, die man vermutlich besser zerstoßen und schnupfen, statt in Autos einbauen sollte.

Also, diese wunderbare Ciclofaixa (Radfahrstrecke), auf der man sich sonntags zwischen 7 und 14 Uhr gut gesichert hinter Trilliarden von Absperrhütchen, an denen Niemandkanneswissen oder größere Nasen, wenn sie ein bisschen geschickt wären, gleich mitverdienen könnten, drahteselselig durch die Stadt bewegt, die sonst nur gepanzertes Blech bevorzugt, ist, ich bin mir sicher, ein unbedachter Akt der Anstiftung zur Konsumverweigerung.

Was, wenn nun selbst der betuchteste Paulista Sonntag für Sonntag einfach Rad fährt von 7 bis 14 Uhr? Er wird seine teuren Sportclubbeiträge nicht mehr entrichten, kein Shoppingcenter mehr vor 14 Uhr aufsuchen und vermutlich auch nicht danach; da zu erschöpft von den Eindrücken einer Stadt, in der er nun nicht mehr nur zu parken hat.

São Paulo 2010, wir schreiben das Jahr des großen Gumminupsis, Ameisenbären üben Slalom; deutsche Landsknechte und Salpetersieder sind längst wieder daheim und erfroren, statt von Tupinambá verspeist worden; Unterwäsche gibt es inzwischen unisex; die Bemühung, eine Population von Zebras anzusiedeln, muss noch immer als gescheitert betrachtet werden, da Putzfrauen gegen Streifen sind; Ölvorkommen kommen in noch ungeahnten Mengen vor; Regen überflutet den Nordosten; Nasen werden immer noch gern operiert, Kokain wird unterdessen über Zahnspangen verrieben; WM schaut man auch im Knast und Brasilien wird mit 2:1 Weltmeister gegen Dingenskirchen. Die Welt wird noch brasilianischer werden und in Folge dessen nichts anderes als schön, bunt und rattenscharf, und Gott bleibt rund wie der Arsch von Adriana Lima, sagt die BBC.

Bisher 1 Kommentar zu 'Das Jahr des Ameisenbären'

  1. Glückwunsch zu deinem Bild der Geschichte, Sabine. Ich habe ihn genossen, vor allem die Figuren, die du geschrieben hast… „der betuchteste Paulista am Sonntag…“, „die Zebrastreifen“ zum sterben. Ich denke auch, dass du ganz toll eine offene Wunde abgebildet hast.