Gipsfiguren

Manchmal ist die Wahrheit nicht gut genug. Manchmal verdienen die Menschen mehr. Manchmal verdienen die Menschen, dass ihr Vertrauen belohnt wird. Batman in „The Dark Knight“

Lügen ist im Spanischen ein intransitives Verb. Das bedeutet, dass es für sich allein stehend eine Bedeutung hat und keine weitere grammatische Bestimmung benötigt. Miento, das ist ein schönes Beispiel, und ich glaube, ich habe das erste Mal mit etwa acht Jahren gelogen. Absichtlich. Ich stamme aus einer sehr katholischen Familie, von einer Großmutter, die neben einer lebensgroßen Marien-Statue im Schlafzimmer schlief. Ich verstehe Buñuel und Bataille und die europäischen Surrealisten. Ich verstehe sie ganz und gar, da meine Kindheit voll von Horrorszenarien war. Die Kindheit beschützen – so ein Quatsch. Die 1980er Jahre in der bolivianischen Provinz. Die Pfarrer in meinem Land erzählten uns bis ins kleinste Detail von all den Wunden auf Jesus‘ Körper. Meine Oma verstand die Tränen, die dicken Tränen der Trauer tragenden Maria. Dank der Enzyklopädie „Lo Sé Todo“ (dt. „Ich weiß alles“) bin ich schon sehr früh zum Atheismus konvertiert. Ich ertrug die Nachbildung der zerstückelten Heiligen, die in einigen Kirchen wie Trophäen aufbewahrt wurden, einfach nicht.

Ich log mit acht Jahren zum ersten Mal, als meine Eltern von einem Tag auf den anderen, mit ihrer Scheidung, beschlossen, meine Erziehung zur jungen Dame, angelehnt an den Opus Dei, zu unterbrechen. In dieser Zeit war Gott im Haus meiner Großmutter allmächtig und allgegenwärtig, und würde ich nicht gehorchen, würde ich auf dem direkten Weg in die Hölle kommen. Das Perfide daran war, dass mein toter Großvater ihr Spion war. Er begleitete mich bis in meine intimsten Gedanken, und alles was über die gesetzte Normalität hinausging, wurde sofort meiner Oma gemeldet, mit der mein Opa und Gott von Zeit zu Zeit redeten. Meine Großmutter hatte einen Kontrollzwang. Sie musste kontrollieren, was wir lasen, was wir machten, was wir anzogen und was wir dachten. In jenen Jahren waren ihre Versuche brutal, das wilde Tier, das in uns allen wohnt, zu zähmen. Sie versuchte das mit dem Schmerz der Gipsfiguren, durch das Opfer und durch den äußeren Anschein zu erreichen, denn bei mir zu Hause logen alle, inklusive meiner Oma, mit den besten Intentionen, wild durcheinander.

Die Gehirnwäsche, der sie uns unterzog, war sehr effektiv. Der komplexe Aufbau dieser Horrorgeschichte, mit welcher sie uns zu dem Glauben verleitete, wir würden permanent observiert werden, führte dazu, dass ihre Autorität jahrelang weder von meinem Cousin noch von mir jemals in Frage gestellt wurde.

Ich wusste, dass die anderen Kinder lügen, ich war absolut sicher, dass sie das taten, aber es erschien mir nicht möglich, dass der komplette Diskurs über die Hölle und über meinen Opa eine einzige Farce sein könnte. In unserer katholischen Schule hingen überall Kreuze an den Wänden. Wir waren an dem Punkt angelangt, an dem die Kinder in Uniform sich damit vertraut machen mussten, die Beichte abzulegen, denn in ein paar Monaten würden wir die Erste heilige Kommunion empfangen.
Sünde, Buße und Reue waren die am häufigsten benutzen Wörter in meinem Umfeld, jetzt, wo sich die Welt nur noch um das Kleid drehte, das ich am Tag der Zeremonie tragen würde. Zu Hause die Schwarz-weiß-Fotografie der lächelnden Großeltern, die für uns Cousins beunruhigend war. Es sah so aus, als würde mein Opa dir direkt in die Augen sehen, egal wo man sich im Raum befand. Wenn wir uns schlecht benommen hatten, wagten wir nicht mehr es anzusehen. Das ist definitiv der Moment, in dem ich mich der Angst vor dem „Big Brother“ von Orwell am nächsten fühlte, und ich muss gestehen, dass ich diesem großen Druck nicht standhalten konnte.

Mit acht Jahren entschied ich eines Tages, die Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Ich erzählte, ich hätte keine Hausaufgaben, und verbrachte den Nachmittag damit, im Gemüsegarten zu spielen. Am Abend lernte ich die Schlaflosigkeit kennen, entdeckte die Vielfalt der Albträume, und am nächsten Morgen stellte ich beim Frühstück fest, dass alles in Ordnung war. Ich fühlte absolut gar keine Reue. Ich dachte immer, dass mein Großvater ein beeindruckender Mann war, dann begann ich seine Lebensgeschichte in Frage zu stellen – über die Erzählungen meiner Oma hinaus. Ich erinnere mich nicht mehr an ihn, als er noch am Leben war und aus den Bildern, die von ihm blieben, lässt sich nicht schließen, dass er ein besonders gläubiger Mann war. Außerdem fand ich in der Enzyklopädie das Wort Atheismus und beschloss, nicht mehr regelmäßig am Religionsunterricht teilzunehmen. Obwohl es mir nie gesagt wurde, störte dies niemanden. Meine Eltern hatten sich ja scheiden lassen.

Also begann ich, in den Freistunden Basketball zu spielen. Ich machte die Erstkommunion, weil Pfarrer Manuel Einfluss hatte, und er wollte, dass ich ins Team komme. Ich schätze ihn sehr, wir begrüßen uns auf der Straße und gehen etwas trinken, jedes Mal wenn wir uns sehen. Er ist jetzt kein Pfarrer mehr, er war nie ein großer Theologe und seine Interpretation der Frage dreht sich um einen einfachen Satz: Der Mensch lebt durch seine Taten, nicht durch seinen Glauben. Wenn man also bewusst handelt und weiß, warum man das tut, ist alles gut. Atheismus ist eine weitere Möglichkeit, die uns der Glaube bietet.

Meine Erstkommunion war eine Pantomime. Hier in Berlin lache ich über mein panisches Gesicht, das ich genau vor dem Gang zur Kommunion machte, weil ich die ganze Welt damit belog. Ich wusste nie, wie es bei großen Feierlichkeiten zugeht, aber mit acht Jahren entdeckte ich die Macht des Wortes und die Notwendigkeit, wasserdichte Geschichten zu erfinden, die auch scharfsinnigen Rückfragen standhielten. Genau damit hat man vor allem Macht, wenn man in der Lage ist, andere dazu zu bringen, Fehler oder irgendeine Handlung zu begehen. Und freiwillig auf diese Macht zu verzichten, ist vielleicht der einzig wahre, revolutionäre Akt, den wir von uns selbst erwarten können. Die Doppelmoral, die darauf ausgerichtet ist, den Anschein zu retten, ist wie ein Parasit, und häufig hält sie nur die Angst, mit der wir erzogen wurden, am Leben.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

Bisher 1 Kommentar zu 'Gipsfiguren'

  1. Marie F. sagt:

    Muy bien descrito!

    Apropos Gipsfiguren: Ich werde nie den blutenden, lebensgroßen Jesuskopf mit Dornenkrone vergessen, der bei meinem Arzt in Guayaquil über dem Zimmer hing, in das ich als Jugendliche regelmäßig zum Blutabnehmen hineingehen musste. Bei diesem Anblick fällt wirklich jeder in Ohnmacht! Aber anschließend gab´s immer „un caramelito, para que a la niña se le regule la circulación.“ 😉

    SpanDeutsch (Natalia):

    Muy bien descrito!

    Apropósito de las figuras de yeso: Nunca voy a olvidar la cabeza de Jesús en tamaño real, sangrando con la corona de espinas, que colgaba en el consultorio de mi médico en Guayaquil, al que de joven tenía que ir regularmente para que me sacaran sangre. Viendo esto se desmaya de verdad cualquiera. Pero al final siempre había “un caramelito para que a la niña se le regule la circulación” 😉