Zurück zur Natur kann und darf nicht die Lösung sein.
„Doch dann wieder, wenn ich an die unsäglichen Mühen denke, die es mich kostete, in einem fremden Land zurückzufinden zu der Sprache, die sich eingegraben hatte in die tiefsten Schichten meiner Erinnerungen, und dann diese Sprache, ständig umringt von andern Sprachlauten, funktionsfähig zu halten, muss ich diese Sprache als etwas ungemein Gebrechliches, Fragwürdiges ansehen, als etwas, das uns in keiner Silbe gegeben ist, das uns nicht, wie andern, die tatsächlich in ihrer Sprache leben, bei jedem Schritt zufliegt, und das wir uns unaufhörlich selbst schaffen müssen.“ (Peter Weiss, Notizbücher 1971-80, S. 729)
Oder: „Is it politically correct to even be here?“ (Bongwater).
Habe ich mich auch gefragt, damals, als ich von Köln nach Montpellier flog, um meine damalige Freundin zu besuchen. Sollte ich eigentlich hier sein? Ich? Sollte ich nicht lieber die Dekadenz eines Flugs via Paris vermeiden und eine Freundin in meiner Stadt haben? Ja, sollte ich, aber nicht aus diesen Gründen, sondern aus Gründen der Pragmatik.
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Tourismus ist ein Grundübel und Mobilität ein hohes Gut.
Umweltbewusstsein ist ein hehres Ziel und Verzicht eine lustfeindliche Selbstbeschränkung, die dumm ist.
Es sollte ein weltweiter Sozialismus (oder etwas ähnliches, zeitgemäßeres; nennt es, wie ihr wollt) möglich sein, der nicht hinter die Errungenschaften des Kapitalismus zurückfällt. Und ja, die Errungenschaften des Kapitalismus gibt es.
Individualverkehr ist größtenteils überflüssig, und doch sollte es jedem und jeder möglich sein, ihren und seinen Standpunkt zu wechseln. Mit Verkehrsmitteln.
Ich glaube, ich bin nur gegen die Atomkraft, weil sie in den Händen des Kapitals liegt, also in denen der sogenannten freien Wirtschaft. Läge die Atomkraft in Händen des Staates, des Volkes, wie sähe die Sache dann aus?
Und: Ich bin nicht gegen die Genforschung. Bananen aus Brandenburg, warum nicht?
Montpellier 1994: Ich erinnere mich an die Menschen, die wie fremde Radios durch die Stadt sendeten. Ich verstand kaum ein Wort. Ich erinnere mich an Sitten, die andere waren, keine globalisierten. Ich erinnere mich an die Freude, einen Gleichsprachigen zu treffen und mit ihm reden zu können, auch wenn er ein Idiot war. Ich erinnere mich an die Wärme dieser Stadt im Oktober. Ich spüre die Kälte der Stadt Berlin zu dieser Jahreszeit. Ich könnte sagen, dass ich es für ein militärisches Versäumnis halte, für eine Todsünde der Deutschen, dass es ihnen nicht gelungen ist, eine mediterrane Stadt zu halten. (Meine Heimat liegt in der Sprache, aber das Wetter meiner Sprache ist schlecht.) Ich erinnere mich an die Schönheit von Triest. An den Friedhof von Pula (Kroatien) mit den Namen aus drei, vier, fünf verschiedenen Kulturnationen.
Es ist die Sprache, die den Unterschied macht. Solange es ÜbersetzerInnen geben muss, brauchen wir uns über Globalisierung keine Gedanken zu machen. Dass vieles falsch läuft, ist ohnehin klar. Das liegt am Kapitalismus.
In der DDR ist fast alles schief gelaufen, aber eines hat ziemlich gut funktioniert: die Gleichberechtigung der Frau. Sie hatte zwar nicht zur Konsequenz, dass Männer den Frauen die Hausarbeit oder Kinderversorgung abnahmen (soweit ging es denn doch nicht), aber Frauen mussten sich nicht vorschreiben lassen, was sie allein ihres Geschlechtes wegen, zu tun oder zu lassen hatte. Es war eine der wenigen Einschränkungen, unter denen man in der DDR nicht litt. Und so waren die Mädchen meiner Generation schon die Töchter von Frauen, die ihrerseits bereits gelernt hatten, dass eine Frau selbstverständlich autark über ihre Sexualität und ihren Körper bestimmt, dass Chromosomen nicht über technischen Sachverstand entscheiden und der Unterschied zwischen Frau und Mann nur ein Unterschied ist – kein Qualitätsmerkmal. Diese Gewissheit nahm ich mit in mein neues Leben in der westlichen Gesellschaft, deren Sexualmoral nach völlig anderen Spielregeln funktionierte. Ehrlich gesagt, war das der größte Schock überhaupt.
Ich hab eine Weile gebraucht, bis ich verstanden habe, dass mit der klassischen bürgerlichen Rollenzuteilung der Frau als Küchenwunder und unmündiges Lustobjekt stets noch eine andere Diskriminierung einhergeht: die des Mannes als alleiniger Familienversorger. Der Druck, der in dieser Verantwortung liegt, ist kein geringer. An einen Mann werden ganz andere Ansprüche gestellt, er wird viel schneller als Versager wahrgenommen und hat es keineswegs leichter. Er hat nur andere Probleme als eine Frau. Im Grunde haben wir es da wieder: ein Unterschied – kein Qualitätsmerkmal. Für mich gibt es in Mitteleuropa heute keinen Grund aus Vorteilserwägungen etwas anderes sein zu wollen als ich bin. Das Leben bleibt sowieso ein Kampf. Egal, an welcher Front.
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