Wir sind gekommen, um über die anderen zu sprechen….Venezuela in Worten

Es war weder ein runder Tisch, bei dem sich die Zuschauer einen Einblick in die Geschichte der venezolanischen Literatur verschaffen konnten, noch eine Performance, noch eine kritische Improvisation. Es war all das und viel mehr. Gestern präsentierten die jungen Schriftsteller und Intellektuellen Elena Cardona, Willy Mckey und Roberto Martínez Bachrich im Mariano Azuela Saal der FIL eine poetische Kurzbiografie über die Literatur ihres Landes und sprachen über die Gründe, die dazu führten, dass die venezolanische Literatur noch kein breites Publikum erreicht hat und die Grenzen des Landes noch nicht überschritten hat. Ein Land in dem die Schriftsteller “mit tausend Revolutionen pro Minute rasen, ein Land, das auf eine Revolution pro Jahrhundert drängt“ (Willy Mckey)

Wesentlich unterhaltsamer als eine Vorlesung, wesentlich ironischer als eine Comedy Show. Die Präsentation der Venezolaner kennzeichnete sich durch ihre Chor-ähnliche Struktur und die Schlichtheit, mit der die Autoren sich in den alten Stammbaum der Autoren, welche die Geschichte überlebten, einreihten. All das an einem Ort, der sich bislang weigerte, die Schriftsteller in ihrer vollen Dimension anzuerkennen und an dem Lesen weiterhin ein von Divisen abhängiges Problem bleibt. Wo ein Buch ein Luxusartikel ist, wo die Autoren mit den Jahren fantastische Fotokopiotheken ansammeln, mit all den Schätzen, die ihnen in die Hände fallen. Wo die fehlenden Divisen die jüngerer Generation dazu zwingen ihre Vorgänger zu lesen.“ „Wo Poeten ein riesiges Heer aus Einzelgängern sind“, so Willy Mckey.

Der Zuschauer hatte während der 45 Minuten die Gelegenheit, einer Kurzfassung der Literatur des 20. und 21. Jahrhundert aus dem Land des Erdöls zuzuhören, mit all dem Respekt und der Bewunderung, die diese jungen Künstler der Literatur zollen. Dadurch haben sie ihr Engagement für die Literatur gezeigt, ihre außergewöhnliche Bescheidenheit und eine noch seltsamere Klassensolidarität, Schriftstellersolidarität gegenüber den Autoren, die vor ihnen den Standard der venezolanischen Literatur gesetzt haben. Eine bewegende und unterhaltsame Lesung, die uns mit dem Verlangen entließ, Yolanda Pantin, Camilo Pino, Rufino Blanco Fambona, Lourdes Sifontes und viele weitere Autoren zu lesen und besser kennenzulernen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

Schreiben…

Aus Notwendigkeit oder zum Vergnügen? Schreiben – wofür? Schreiben – wozu ? Es gibt so viele Arten Schriftsteller, wie es verschiedene Menschen gibt. Schüchterne, extrovertierte, plaudernde, ernste, pedantische, schlichte, freundliche, mürrische. Die gesamte Palette aller möglichen Adjektive. Es gibt welche, die seit ihrer frühsten Kindheit wissen, dass ihr Schicksal sie zur Literatur führt, wie Borges. Anderen wurde zu Hause die Mission erteilt, sich mit Worten auszurüsten, wieder andere bemächtigten sich des Wortes durch fleißige Arbeit, in Stunden um Stunden um Stunden in Schreibworkshops, Literaturunterricht, um Kontakte aufzubauen. Wieder andere fanden entgegen aller Vorhersagen im Wort ihren Rettungsanker. Es gibt Schriftsteller als Beruf und Schriftsteller aus Berufung, die trotz der unvorhersehbaren Dinge, die das Schicksal ihnen zuwies, ihre Bestimmung fanden. Und es gibt auch Schriftsteller aus Berufung, welche die Zeit zu zuverlässigen Arbeitern des Wortes machte. Zu Figuren des Jet-Sets.

Gestern unterhielten sich zwei der bekanntesten Köpfe der Welt über das Schreiben und das Im-Wort-Sein. Das Gespräch zwischen Mario Vargas Llosa und Herta Müller wurde als das beste verbale Wrestling, das sich die Literaturkritik nur vorstellen kann, angekündigt und tatsächlich war es das auch, es fehlten nur die passenden Poster. Es fehlte nur die Ankündigung des Zusammentreffen der beiden Nobelpreisträger mit Lucha-Libre Masken, auch wenn es weder Diskussion noch Debatte gegeben hatte.

Tatsächlich waren die Standpunkte beider zum Thema Schreiben so offensichtlich unterschiedlich, dass ein Monolog dem nächsten folgte.
Für Vargas Llosa ist die Literatur eine große Lüge, die in der Lage ist Gesellschaften zu gestalten. Als Lateinamerikanerin ist es schwierig, ihn ehrlich zu schätzen, denn obwohl er zweifelsfrei ein großer Schriftsteller ist, sind seit seinen besten Romanen schon einige Jahre vergangen. Seitdem macht er nichts anderes, als sich zu wiederholen und einen politischen Standpunkt zu verteidigen, der ihn davon abhält, den Totalitarismus der lateinamerikanischen Militärregime anzuerkennen. Vargas Llosa träumt weiterhin von Fidel Castro.

Für Herta Müller kann die Literatur hingegen lediglich die Wahrheit vermitteln und mit ihr und ihrer zitternder Stimme lässt sie uns Bücherliebhaber bis ins Knochenmark erschauern. Sie sprach aus ihrer Erfahrung über das Schreiben als Überlebensstrategie und bis zum heutigen Tag strömt aus ihren Texte, aus ihren Worten, die Menschlichkeit und der Horror, zu dem Menschen fähig sein können. Ihr politischer Standpunkt steht nicht unter der Fahne einer vorgefertigten Idee, sondern sie wird im Namen des Individuums gehisst, im Namen dieses hilflosen Menschen, der sich in die Welt der Bücher flüchtet, um seinen Kontext zu überleben. Weder um die Akademie zufriedenzustellen, noch mit dem Anspruch auf den Applaus vorbereitet zu sein.

Gestern wurden zwei Dinge offensichtlich: Vargas Llosa wusste, mit wem er sprach, und das Publikum hatte die Gelegenheit wahrzunehmen und gegenüberzustellen, wie enorm groß der Unterschied zwischen jemandem ist, der mit der Intension schreibt, das Publikum zu erobern, und jemandem, der schreibt, um sein zu können, als Individuum, und um damit das Nichts zu überleben. Als Leserin weiß ich, dass über die Preise hinaus in der Geschichte nur für diejenigen Platz ist, die Worte authentisch benutzen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

Das panamerikanische Ebook

Die Argentinierin Patricia Arancibia lebt schon lange in New York und leitet den Ankauf der internationalen Bücher bei Barnes&Nobles. Die US-amerikanische Buchhandelskette setzt nämlich verstärkt auf die Kaufkraft spanischsprachiger US-Amerikaner und startete im November 2010 den Ebook-Shop Nook español mit 24.000 verkaufbaren Titeln. Denn der Markt ist da, sozusagen panamerikanisch: 50 Millionen US-Latinos leben in den Staaten, 4,8 Millionen in Puerto Rico; im Jahr 2050, schätzt man, werden es 133 Millionen sein. Damit ist die US-amerikanische Latino-Bevölkerung die zweitgrößte nach Mexiko. 35 Millionen US-Amerikaner sprechen Spanisch zu Hause (Zahl von 2008), bereits 2009 waren 26 Prozent der Kinder unter 5 Jahren in den USA spanischsprachig. „Wir vermehren uns schnell“, weiß die Managerin, die mit Zahlen nur so um sich werfen kann. Und sie betont: Die US-Latinos sind nicht technologiescheu: bereits mehr als die Hälfte haben ein Laptop und nutzen Wi-Fi.

Im Mini-Interview gibt sie den Deutschen einen Ratschlag, wie sie ihren derzeit noch weniger als 1 Prozent Ebook-Marktanteil steigern können: Der große Vorteil des deutschen Buchmarktes sei das große Angebot an bereits verfügbaren digitalen Titeln, die Lesegeräte müssten sich nur stärker verbreiten. Leser seien die Deutschen ja zum Glück schon…

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Herta und Mario

Zwei Noble

Ich habe noch nie zwei Nobelpreisträger live miteinander sprechen gehört und gesehen. Bis heute! „Dos nobles“, so hieß das mit Publikum überfüllte Gespräch zwischen Herta Müller (NP 2009) und Mario Vargas Llosa (NP 2010), kürzer und lapidarer, aber auch konkreter geht es kaum: zwei noble Geister sozusagen. Der Moderator Juan Cruz Ruiz hielt sich zurück und stellte scheinbar banale, aber daher umso tiefer gehende Fragen, zur Verbindung von Schreiben und Leben, zu Vorurteilen, Totalitarismus, der therapeutischen Wirkung des Autordaseins, der öffentlichen Rolle – und schnell zeigten sich die unterschiedlichen Literaturverständnisse beider Diskutanten.

Das noble Publikum. Vor Bildschirmen und hinter Säulen.

Auf der einen Seite saß der ehemalige Diplomat, ein Einzelkind getrennter Mittelschichtseltern, aufgewachsen in Peru, der sich als „liberaler Demokrat“ bezeichnet, auf der anderen Seite eine Exilantin, aus der deutschen Minderheit eines kleinen rumänischen Dorfes, aus einem Haushalt ohne Bücher, in dem die Mutter warnte: „Lies nicht so viel, das macht nervenkrank.“ Auch wenn es lange wissenschaftlich verpönt war, die biographischen Kontexte für Analysen heranzuziehen, lassen sie sich doch nicht verleugnen. Und so ist für den einen, der in die Bücherwelten von Karl May und Cervantes  floh, für den Vertreter der „engagierten Literatur“ (Sartre), das Buchlesen und -schreiben immer auch gleich eine politische Angelegenheit, eine Sache des Engagements, der Aktion, des Einmischens, insbesondere zur Verbesserung und des Fortschritts der Menschheit an sich. Lesen ist ein Mitleben besserer Welten, in denen das Individuum andere Werte erkennen kann. Und so ist für die andere, die Vertreterin einer Literatur des „ästhetischen Schmerzes“ (Müller), das Buch ein Einblick in das allgemeine existenzielle Unglück, eine Selbstverteidigung, insbesondere des Eigenen, des Privaten, das doch in der Diktatur nicht erlaubt ist, „ein innerer Kompass“. Herta Müller sagte für sich Gedichte auf, wenn sie verhört wurde: „In der Kultur ist doch schön, was uns weh tut, weil wir kein anderes Wort dafür haben. Literatur tröstet mich, ohne mich zu betrügen,“ definiert sie abgeklärt. Llosa hält dagegen, jede Fiktion sei Lüge, aber so gut gemachte Lüge, dass sie als Wahrheit erscheine. Daher sei sie ein Instrument, um die menschliche Freiheit zu verteidigen. Können wir post-demokracy Europäer noch an solche Werte glauben?

Ich war neulich auf einer Konferenz mit vielen Kulturmachern aus den arabischen Ländern. Auch sie wollten wissen, dass Kunst gesellschaftlichen Einfluss haben kann. Dass eine individuelle kreative Struktur eine kollektive Veränderung bewirkt, etwa wenn ein Künstler zur Demo aufruft und ihm die Menschen mehr vertrauen als einem Politiker. So war das bei uns! Herta Müller wäre da auch skeptisch. Denn Kunst ist etwas Konstruiertes: „Literatur maßt sich etwas an, will künstlich mit Sprache Leben bauen. Danach hat man vielleicht einen besseren Kopf.“ Veränderung im, nicht des Einzelnen sind möglich, mehr nicht.

Und so ist Literatur dann doch immer ein Dialog zwischen zwei Noblen: dem Autor und dem Leser, zwei Köpfen, die versuchen, das Leben zu verstehen. Beide, Llosa und Müller, bezeugten als Leser zum Schluss der Veranstaltung einem anderen Autor ihre Dankbarkeit: Jorge Semprun, dem „Mensch der Aktion“ (Llosa), Schriftsteller der Erinnerung als KZ-Überlebender, der „poetische Zeitgeschichte“ (Müller) schrieb, gestorben am 7. Juli 2011 in Paris.

Ein Land zeigt Gesichter

Buchmessengastlandauftritte sind Werbung. Autoren werden eingeflogen (ca. 25), Verlage investieren in Präsentationen (etwa 40), eine Ministerin des Auswärtigen Amts hält Eröffnungsreden zum Lob des Kulturaustauschs, des „zivilgesellschaftlichen Dialogs“ und anderer Säulen der auswärtigen Politik (Cornelia Pieper), Broschüren werden gedruckt (Neuerscheinungen, Landeskundehefte, Veranstaltungsprogramm). Man nennt das auch cultural diplomacy, denn hinter all dem steht natürlich die Vermarktung eines Landes und seiner, in diesem Fall, Buch-Branche.

Warum aber im offiziellen Messeheft die deutschen Veranstaltungen mit zehn Fotos angekündigt werden, die 14 Männer und 10 Frauen zeigen, vor allem Bands des wirklich gut ausgewählten kostenlosen Open-Air-Musikprogramms und allesamt eher unter 40 Jahren (das Durchschnittsalter in Deutschland liegt bei 42,1 Jahren), versteht man kaum. Kein Leser, nirgends. Doch: Franka Potente liest in einem Filmstill aus Doris Dörries „Bin ich schön?“ ein Buch. Keiner der eingeladenen Autoren ist zu sehen, dafür blau gedrehte Fäden: eine moderne Interpretation der blauen Blume oder postpostmoderne Identitätsverwirrung in blauem Euro-Krisen-Gold? Rüdiger Safranski, der Philosoph der deutschen Romantik, liest am Samstag, 3. Dezember um 17.30 Uhr, dann können wir ihn fragen…

Bis dahin ist Deutschland, „Invitada de Honor“, laut Programmheft ein Land der musizierendenn oder kritisch dreinblickenden jungen Männer, die sich das Kinn reiben, und der Frauen, die in Friseursalons tanzen, eine Pistole zücken oder lasziv dahingebettet an Weihnachtsbaumschmuck lecken. Aber warum eigentlich nicht? Immer noch besser als das Brandenburger Tor im Sonnenuntergang und Lederhosen-Biertrink-Folklore.

Zum Rhythmus von Cumbia und verirrten Kugeln

 

“Als Schriftsteller ist Fernando Vallejo auch ein wunderbarer Musiker”

Juan Cruz in seiner Kurzbiografie über Fernando Vallejo

Zu den Persönlichkeiten, die sich auf der 25. Internationalen Buchmesse in Guadalajara, der FIL, einfinden, gehören auch die beiden Literaturnobelpreisträger Herta Müller und Mario Vargas Llosa, sowie der diesjährige Preisträger der FIL in romanischer Sprache: Fernando Vallejo. Der beste von allen Vorträgen zur Preisverleihung war zweifelsfrei die des angesehenen spanischen Journalisten Juan Cruz Ruiz, neben dem von Vallejo selbst. Juan Cruz Ruiz‘ Kurzbiografie über den kolumbianischen Schriftsteller machte dem Autor von „Virgen de los Sincarios“ (dt. Die Madonna der Mörder) oder „El Desbarrancadero“ (dt. Der Abgrund) alle Ehre und gleichzeitig das Publikum glücklich.

Während sich Deutschland als Land der Ideen präsentierte, in dem die Wissenschaft und der akademische Austausch eine wesentliche Rolle spielen, ist für die Mexikaner und die Latinos, die wir uns mit den Mexikanern identifizieren können, die gleiche Augenhöhe und der Humor das Wichtigste am Austausch. Vielleicht, weil wir im Gegensatz zum Ehrenland gelernt haben, mit Humor unsere Realitäten zu überleben und anderen Menschen mit einem Lächeln zu begegnen.
Fernando Vallejo erhielt dieses Jahr den Preis nicht nur für sein vielseitiges und fantastisches Werk, sondern bestimmt auch, weil die Themen seiner Bücher direkt jenes Land berühren, das uns derzeit beherbergt. In den letzten fünf Jahren starben in Mexiko mehr als 58.000 Menschen, Opfer der Gewalt, des Krieges gegen die Drogenmafia. Es gibt niemanden, der wie Vallejo das Leid einer Gesellschaft beschreibt, die zum Rhythmus von Cumbia und verirrten Kugeln verblutet.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

Der Schuster trägt die schlechtesten Schuhe

Eines dieser typischen lateinamerikanischen Motive. Ein Refrain, der überall wieder zitiert wird, ein populäres Mantra mit unendlich vielen semantischen Äquivalenten, in der gesamten Bandbreite, die unsere Sprache zu bieten hat. Bei den Marktschreiern auf den Straßen hinter dem Zócalo, östlich vom Gymnasium San Ildefonso. Ich suchte nur nach einem Blue Demon-T-Shirt. Aber es scheint, als wären diese Person und El Santó (Der Heilige), eine weitere Wrestling-Figur, wohl die einzigen Figuren, die von den Mexikanern als registrierte Marken anerkannt werden. Die Shirts waren einfach nicht zu finden. Jeder weiß, wer sie verkauft, ein Weg von einem Verkäufer zum nächsten Verkäufer, der dich zum Geschäft schickt, wo sie es auch nicht haben. Mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch über den Ground Zero der Vereinten Staaten von Mexiko, der Plaza de la Constitución. Trauben von Polizisten an allen Ecken im Osten, noch symbolischer als die Polizisten noch weiter im Osten vor den Geschäften von Cartier in Polanco. Festgelegte Routen für die Touri-Busse. Wir fuhren wieder aus Bolivien ab, ohne einen einzigen Post geschrieben zu haben. Letzten Mittwoch dachten wir noch, dass das Unwohlsein vorübergehend wäre. Manchmal bereitet die Höhe einigen Menschen eine schlechte Zeit. Am Tag unserer Lesung in La Paz bekam ich fast keine Luft. Schlussendlich saß ich mit Schüttelfrost vor einer Menschenmenge, von der ich nicht weiß, inwiweit sie unsere Witze verstanden hat. Jetzt sind wir in Mexiko, heute Nachmittag kommen wir in Guadalajara an.

Mir machen die 3.600 Meter jetzt nicht mehr ganz so sehr so schaffen, obwohl ich schon in meiner Kindheit damit Probleme hatte – ich wurde ja auch nicht dort geboren – und es steht fest, dass ich, wenn ich mal wieder hier bin, in den ersten Tagen vermeide, in das Zentrum hinaufzugehen. In La Paz trinke ich lieber auch nicht, mein eigener Wunsch für uns beide, denn mein Körper tut sich schwer damit, den Kater zu überleben, und auf dieser Reise mit Niko hätte es eh nichts gebracht. An dem Tag, an dem wir lesen sollten, mussten wir unseren Weg durch die Zona Sur zum Goethe Institut plötzlich, von einem Moment auf den anderen, unterbrechen. In den 20 Minuten im Taxi, zwischen Obrajes und der Avenida Arce, versuchte ich mir vorzustellen, wie ich mich aufspalten könnte, um die beiden Stimme gleichzeitig und simultan aus mir herauszuholen. Wie sehr hätte es mir gefallen, das Mädchen aus dem Film „Der Exorzist“ zu sein, um den Texten, die wir gemeinsam geschrieben haben, den Charakter, den Charme verleihen zu können.

Unserer Autoren erschienen nur so viel früher, wie es unbedingt nötig war, damit die Lesung nicht ohne sie begann. Keine Chance, irgendwas zu proben. Fernando Barrientos versuchte, die weibliche Stimme zu ersetzen, die mir fehlte, um mich in die männliche Figur zu verwandeln, die ich normalerweise auf dieser Lesereise bin, wenn wir den Cybersex-Text von Augustin Calcagno inszenieren. Am Ende entschied ich mich dafür, es alleine zu machen, und ersetzte das Geschlecht mit ein bisschen mehr deutschem Schuldgefühl. Das war ein Versuch, die Verwirrung auf der Bühne des armen Flaco zu vermeiden, der ja mit unseren Ablauf nicht vertraut war. Zusätzlich zeigte sich meine Mutter als eine der schlechtesten Fotografinnen der Stadt. Auf jeden Fall und trotz aller Pannen teilte ich mir die Bühne mit unseren Autoren aus La Paz und das war etwas sehr Schönes. Und am nächsten Tag wurde es sogar noch besser, als wir bei unserem Workshop die Arbeit von Ernesto Martínez kennenlernten, der mit Editiones Vinculo als erster bolivianischer Verlag digitalisierte Bücher herausbringt und Mitinhaber der kulturträchtigsten Buchhandlung von La Paz ist, von Martínez Acchini. Außerdem konnten wir uns auch mit der Arbeit von „Desde el sur“ (Aus dem Süden) vertraut machen, einem Portal, das versucht, sich für die Stimmen der bolivianischen Diaspora aus der ganzen Welt zu etablieren. Natürlich haben wir auch Lulhy Castro getroffen, die Repräsentantin des Cartonera Verlags aus Oruro “Rostro Asado” und ein Kollektiv von Schriftstellern und Künstlern, welches in dieser Stadt versucht, den öffentlichen Raum einzunehmen. Sich mit jenen Menschen zu treffen, die so wie wir denken, also mit den anderen Neuronen dieses kollektiven Gehirns, setzt viel Energie frei. Aus dem mobilen Hauptquartier der Superdemokraticos geht unser großer Dank an Michael Friedrich, den Direktor des Goethe-Instituts in La Paz und an Patricia Cuarita, die Kulturbeauftragte des Instituts. Ebenfalls vielen Dank an die lesenden Autoren Javier Badani, Fernando Barrientos und Richard Sánchez, wie auch an das Publikum, das kam, um uns zu hören und am nächsten Tag an unserem Workshop teilzunehmen.

Der Zweck unserer Reise ist es, uns mit Seelenverwandten zu treffen, romantisch gesprochen. In Bolivien haben wir nicht nur neue Freunde gefunden, sondern konnten auch auf die Solidarität von lieben Menschen zählen, die uns geholfen haben, alles, auch das Unvorhersehbare, ohne größeren Schaden zu ertragen und zu überwinden. Vielen Dank, La Paz, ohne euch wäre es schwer gewesen so weit zu kommen. Am 2. Dezember präsentieren wir auf der Buchmesse in Guadalajara unser Buch und unser brandneues Ebook.

In unseren Taschen haben wir Bücher zweier Verlage, die wir voller Stolz präsentieren: des Verbrecher Verlags, ein konsequenter Verlag aus der Unabhängigen Republik Kreuzberg, und der Edicion Vinculo, die mit ihrem digitalen Katalog für zeitgenössische Literatur die Tür für die bolivianische Literatur in der Welt öffnet.

Parfüme mit Feromonen

Lecker und saftig!! Foto: Mosh el Cabrón (flickr)

Parfüme mit Feromonen oder ohne. Wir führen jetzt Sticker in allen Größen. Die schnellste Verbindung für dein Handy ad infinitum. Die besten Torten der Welt – für dich. Frische Cocktails mit allen Früchten, mit Wasser oder Milch. Mit Vitaminen!! Die gelbe Kraft. Wusstest du das? 100 Prozent natürlich. 100 Prozent reiner Kaffee. Beste Qualität für deine Familie. Mit Kalzium, mit Eisen und Zero Sodium. Liebe das Leben. Probier das! Neu: drei Elektrotaxis. Die authentische Orangenlimonade. Tarot, Kaffeesatz, Handlesekunde, Fotointerpretation, ruf an. Denn der Geschmack zählt. Die besten Würstchen der Welt. Sushilito, die japanische Spezialität aus D.F. Alles nur, damit es dir gut geht. Die besten Songs. Neu, mit Menthol, erfrischend, weckt die Atemwege auf. Maximale Sanftheit. Folge uns auf Facebook! Alle Baustellen der Stadt auf dieser Webseite. Der einzige Grieche der Stadt, Essen, das nicht beschwert, sondern inspiriert. So viel Kultur hatte der Touribus noch nie! Hält bei den zwei wichtigsten Museen. Ich bin Mexiko. Soy México. Brauchst du Geld? Wir leihen es dir. Vermeide den Exzess.

Die Rache Monteczumas

Opfergaben zum Verbrennen bei traditionellen Aymara-Zeremonien: für mehr Geld, eine gute Reise oder was auch immer. Gegen Salmonellen helfen aber nur Salzlösung und Zeit.

Ich werde mich erinnern, an die Kopfsteinpflasterstraßen, die vor der deutschen Schule anfangen und danach wieder aufhören. An das Schild: Achtung, autofahrende Eltern. Oft bin ich hier im Taxiautotaxiauto vorbeigekommen in den zehn Tagen, die wir in La Paz verbracht haben. Mit Blick auf die wackelnde Dufttanne und den hüpfenden Rosenkranz am Rückspiegel des Fahrers. Anfangs, um in der Zona Sur, in San Miguel, im Alexander Coffee das Internet zu nutzen und Fruchtfrappés zu trinken. Alexander Coffee: eines der erfolgreichsten Unternehmen Boliviens, das überall diese modernen Kaffee-cum-Internet-Cafés betreibt, mit verpackten Brownies, aber alles „hecho in Bolivia“, im Land hergestellt.

Mein Hals glüht, drückt, brennt, beim Schlucken, beim Schlafen, ich habe eine Erkältung, eingeschleppt aus der kühl-regnerischen Stadt Bogotá, wo es jeden Tag pünktlich um 14 Uhr grau und nass wird. Nach einer bolivianischen Saltena in einem kleinen Restaurant mit vier Tischen oder nach einer Pizza in einer dieser Shopping Malls, die in Lateinamerika das öffentliche Leben in klimatisierte Palmen-Zonen verlegen, kommt noch ein Bauchgrummeln dazu. Die Rache Monteczumas liegt auf mir: Durchfall, Erbrechen, so nennt man die Reisekrankheit, die angeblich auf dem Fluch des letzten mexikanischen Aztekenherrschers beruht, der vor dem spanischen Eroberer Hernan Cortés zwar friedlich in die Knie ging, aber dann ermordet wurde. Nicht schön. Also verbringe ich die Tage im Bett.

Aber ich werde mich erinnern an die Taxiautotaxifahrten, an das rote Fleisch der Berge, die trocken rund um die Stadt La Paz in die Höhe ragen. An den Ausflug mit Jeep in das Hinterland, durch Geröll-Canyons. Die rohen Steine, die sandig ausgespülten Rinnsale, an den Stadthängen Hochhäuser darauf thronend, steil in die Höhe steigend. Die Lichter nachts. Die Marineschule mit Leuchtturm und Ausguck und Takelage, in einem Land ohne Meer, direkt an der Stadtautobahn. Ich werde mich erinnern an den freundlichen, allgemeinen Arzt, der mich in ein leeres Krankenhaus bringen wollte, wo es kein Klopapier gab. An den lustigen Onkel Pepe, der mich dann in einem anderen Krankenhaus nochmal untersuchte. Ich werde mich erinnern an die Siestas der Straßenarbeiter unter den Bäumen auf den Plazas. Hingestreckt. Dunkle Gesichter. Verschränkte Arme. An die Straßenverkäuferinnen mit weiten Röcken: 2 Bolivianos für ein Haargummi, 6 für eine Cola. An den täglich sinkenden Eurokurs. An die vielen Dienstleister: Wächter vor den reichen Stadtvierteln, Rasensprenger auf Verkehrsinseln, Gepäckträger am Flughafen, Tütenpacker in Geschäften, Sandwichausrufer vor Bürogebäuden. Die Alternative zu 1-Euro-Jobs?

Und an das Dachzimmer bei Rerys Familie im Tudorstil mit vielen Fenstern, Holzbalken, Licht, in jedem Fenster ein anderes Himmels-TV: Wolken, Fichtenwipfel, hochragende Klippen aus sandigem Stein, Vögel, bellende Hunde der Nachbarn. An die Krankenkost, die mir Rerys Mutter brachte: Salzlösung mit Ananasgeschmack, mit Wasser aufgelöste Maizena mit Zimt, Salzcracker, dazu der surrende Luftbefeuchter. An die Düfte aus der Küche von Kika, der Haushälterin, die aus dem Dorf Mokomoko („Kleiner Mann mit breitem Schnauzer“) kommt, acht Stunden Autofahrt entfernt von La Paz, mit einem Klima wie im Süden des Landes, wo nur noch 30 Leute wohnen. Daran, dass sie die einzige ist, die in diesem Haushalt eine Privatsphäre hat. Denn in ihrem Zimmer räumt sie selbst auf.

An all das werde ich mich erinnern, obwohl oder weil ich die meiste Zeit im Bett lag. Auf dem Hexenmarkt in La Paz, mein einziger Ausflug ins Zentrum für ein paar Stunden am letzten Tag, hab ich die Medikamente nur fotografiert, die Statuen für Gesundheit, Glück, gute Reise oder Weisheit, die Opfergaben, die Tees, Tinkturen, Lama-Föten und Kräuterkörbe. Gekauft hab ich ein silbernes Kokablatt. Ich werde es Monteczuma nennen. Oder besser Cuauthémoc, so hieß sein Cousin. Er hat sich als letzter Herrscher von Tenochtitlán nicht ergeben, sondern Widerstand geleistet. Salmonellen, adé!

Und ich werde dankbar sein, denn wenn man krank ist, ist die Wahrnehmung eine andere.