Violencia – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Fegefeuer Shopping http://superdemokraticos.com/laender/kolumbien/fegefeuer-shopping/ Thu, 10 Nov 2011 13:55:17 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5741 Das Feuer wird prüfen, was das Werk eines jeden taugt.
Hält das stand, was er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn.
Brennt es nieder, dann muss er den Verlust tragen.
Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch.
1. Korinther 3, 13 – 15

Als  Dotson Rader seinen Freund Norman Mailer fragte, wo er am 11. September 2001 gewesen sei, zu dem Zeitpunkt, als die Zwillingstürme angegriffen wurden, antwortete ihm der US-amerikanische Schriftsteller: genau hier, in meinem Haus in Provincetown…ich habe ferngesehen…es war eine große Erschütterung. Warum? Das einzige, was uns das Fernsehen verspricht, ist, dass das, was wir sehen, im Grunde nicht real ist. Daher führt das Fernsehen ja auch immer zu dieser leichten Verdummung. Die unglaublichsten Ereignisse, die allerschrecklichsten, hinterlassen einen Eindruck des Nichtvorhandenseins, wenn man sie auf dem kleinen Bildschirm sieht.

Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Art und Weise, mit welcher die Information über den Mord an Guillermo León Sáenz, alias Alfonso Cano, durch das kolumbianische Militär behandelt wurde. Aus meiner Sicht war das, um es dezent auszudrücken, unsinnig. Die Journalisten (und auch einige Politiker, wie der jetzige Arbeitsminister Rafael Pardo) berichteten von dem Mord, als würde es sich um eine lobenswerte Tatsache handeln, und, was noch schlimmer ist, als würde uns diese Tatsache tatsächlich näher an eine vermeintliche, lebensrettende Hafenmole auf der rauen kolumbianischen See der Gewalt bringen. Was ich verstehe, ist, dass der Mord an alias Alfonso Cano nicht  der nationale Triumph ist, als den sie ihn uns verkaufen wollen, sondern ein Thermometer, das den exakten Punkt der Barbarei misst, an dem wir uns befinden.

Möglicherweise ist Mord für ein Mitglied des Militärs, also für einen Mann, der für den Krieg ausgebildet wurde, gleichbedeutend mit einem Triumph, und vielleicht erklärt das auch den Ausdruck der Zufriedenheit auf den Gesichtern der militärischen Spitze hinter dem Verteidigungsminister, als den Medien der offizielle Teil der Operation mitgeteilt wurde. Aber für uns Zivilisten, die auf ein Ende des Konflikts mittels Verhandlungen setzen, die wir an den Dialog als ein Werkzeug zur Lösung von Problemen, glauben, ist es definitiv kein Triumph. Für uns ist ein Mord ein Mord und genau deshalb sehen wir es auch als das an, was es ist, auch wenn der Ermordete ein bewaffneter Aufständischer war und damit aus dem rechtlichen Rahmen des Landes fiel.

Es sollte deutlich werden, dass ich die FARC nicht verteidige, auf gar keinen Fall, aber warum sollte man den Mord an einem Menschen feiern und dann auch noch auf diese Art und Weise? Was in jener Nacht geschah, war lediglich eine weitere Injektion Chauvinismus für das Land, und ich weiß nicht wie lange sie wirkt, aber solange sie wirkt, sorgt sie dafür, dass wir denken, ein Mord könne uns näher an den so sehr ersehnten Frieden bringen, den wir seit Jahrzehnten anstreben.

Aber das passiert nicht nur mit dem Fernsehen. So wie Descartes den Körper negierte und die Existenz des Menschen nur an der Funktion des Geistes festmachte, negieren heute viele Männer und Frauen ihre eigene Existenz, indem sie diese auf eine Art und Weise öffentlich machen, wie es vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen wäre. Klingt zwar seltsam, ist aber so: Durch all ihr Zurschaustellen werden sie schlussendlich unsichtbar.

Facebook ersetzte gleichzeitig den ausschließlich familiären Charakter eines Fotoalbums, die Treffen von Angesicht zu Angesicht und ermöglichte Unterhaltungen jeglicher Art, erschuf neue Sprachen, eine Tatsache, die nicht an ihrer Attraktivität verliert, aber deshalb nicht minder gefährlich ist. Worin besteht die Gefahr? Die Gefahr besteht darin, dass persönliche Informationen an Fremde weitergegeben werden, die das ausnutzen und dem Einzelnen Schaden zufügen können.

Die Autobahnen der Netzwerke, in denen sich die Menschen heute bewegen, haben so sehr an Konventionen zugenommen, dass sie Ausfahrten jeglicher Art bieten, sogar extrem tragische. Es sollte auch gesagt sein, dass es keine Aischylose gibt, von denen die Tragödien verfasst werden, auch keine Figuren wie Medea und Jason, sondern Martha, Luis, Claudia oder Enrique, je nach Szenario. Es reicht, einen Computer zu besitzen, ein Benutzerkonto, das den Zugang zur virtuellen Gemeinde ermöglicht, und fertig. Und damit beginnen wir diejenigen zu sein, die wir nicht sind, die wir gerne sein würden und im Gegenzug bietet uns das Netz die Möglichkeit, zu einer sozialen Gruppe zu gehören, ohne wegen unserer körperlichen Merkmale oder unseres Verhaltens ausgeschlossen werden zu müssen. Demokratie sagen die einen, Demokratisierung der Technologie der Information und Kommunikation, drücken sich andere etwas stilisierter aus. Aber: ist es das wirklich? Oder ist es nicht eher so, dass sich die Demokratien – während all das passiert – als Vampire verkleiden und in ihrem Eifer nach sozialer und geographischer Kontrolle in einigen Ländern der Welt ein Ambiente des Terrors verbreiten? Ich persönlich tendiere eher zur zweiten Möglichkeit, und außerdem glaube ich, dass der demokratische Vampir nicht nur das Blut aus seinem Opfer saugt, sondern sogar dessen Kadaver verschwinden lässt, wenn er ihn nicht gerade als Medaille oder Trophäe benutzen kann, ihn veröffentlicht kann, wie im Falle Canos. Alles ist erlaubt. Lieben, leben und arbeiten, aber im Netz. Das Internet wurde zu einer effektiven Plattform, um zum Erfolg zu gelangen, aber auch um das Foto vom letzten Ausflug mit Freunden bis hin zum Foto des Toten zu veröffentlichen, jetzt mit der Menschheit in aufgelöster Geste.

Und damit erinnern die Unterkünfte des digitalen Raums stark an Sanatorien: die einzigen, die real erscheinen, sind diejenigen, die kontrollieren. Aber die Internierten wissen nicht wer es ist, der sie kontrolliert. Die Idee des Realen bestätigt sich somit nicht in einer Tat, sondern bleibt so wie sie ist, eine Idee, eine vage Idee, die betrachtet wird, als wäre sie real, und de facto wird das Wesentliche des Lebens, die natürliche Entwicklung des direkten Kontakts mit der Welt entwertet.  Das Individuum ist nun nicht mehr ein Befürworter der Topophilie, jetzt bewohnt der Mensch nicht mehr seinen Ort, aufgrund der Abwesenheit von Eros, poetisch gesprochen, da dieser virtuell geworden ist. Er erschafft sich Landschaften mit Photoshop und macht seine Reisen durch die Welt an Bord des Flugzeugs Google Earth, ohne Stewardessen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

 

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Männer weinen nicht http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/manner-weinen-nicht/ Wed, 17 Aug 2011 08:00:44 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4852 http://flickriver.com/photos/tags/mujeres+creando+bolivia/interesting/

Psychologische Gewalt, sexuelle Gewalt, physische Gewalt, häusliche Gewalt, soziale Gewalt, familiäre Gewalt, Gewalt gegen Frauen. Femizid. Ich hasse dieses Wort. Ich habe es 2003 zum ersten Mal gelesen und seitdem, von Zeit zu Zeit, von Monat zu Woche ja, die nächste auch: träume ich. Ich erinnere mich, dass ich es in einem Steckbrief gelesen habe, den ich per Mail bekommen habe, über einem Namen und einem Bild. Ich habe diesen Namen bewusst vergessen, obwohl ich den Typen kenne, ich habe in schon öfter (in meinem Leben) getroffen.

Ich lernte ihn im ersten Semester an der Fakultät für Philosophie und Geisteswissenschaften kennen. Wir kamen aus der Klosterschule und fühlten uns völlig verloren. Verloren in den Gängen der staatlichen Universität, in die Ecke gedrängt in den zwei kleinen Räumchen in der 10. Etage des Studiengangs Literatur, lernten wir die Bohème kennen. Wahrscheinlich der einzige Ort an der UMSA, an dem die Mehrheit aus privaten Schulen, Klosterschulen kam. Die wahre Mittelschicht Boliviens, mit ihren Überzeugungen und ihren Traumata, ihrem Modus Operandi und dieser verheerenden sentimentalen Erziehung, wir waren hauptsächlich Mädchen. In der Aula verkündeten die Mujeres Creando ihre Botschaft, und nicht viele von uns blieben stehen, um zuzuhören.

Die Geschichte der Bürgerrechte der Frauen in meinem Land ist seltsam. Einerseits dürfen wir seit den 30er Jahren transzendentale Entscheidungen treffen, etwa uns scheiden lassen, studieren und arbeiten gehen, seit 1952 dürfen wir wählen, viel früher als die Frauen in der Schweiz. Andererseits war es unerlässlich, dass die Demokratie wieder hergestellt wurde und dass in den 90er Jahren eine Organisation wie „la Plataforma de la Mujer“, die Plattform der Frau, entstand, damit die Regierung das Strafgesetzbuch reformiert. Bis 1995 wurde häusliche Gewalt nicht als Verbrechen anerkannt, außer wenn das Opfer Verletzungen erlitten hatte, die drei oder mehr Tage Krankenhausaufenthalt zur Folge hatten.

Schwangerschaftsabbruch ist weiterhin illegal und die Abtreibung ist weiterhin eine häufige Todesursache bei jungen Frauen. Abgesehen davon, dass Schwangerschaftsabbruch eine Todessünde ist und die soziale Ablehnung, die sie verursacht, DER scheinheilige Akt der Unterdrückung schlechthin. Und das in einer Gesellschaft, die Teil eines Subkontinents ist, der unter anderem diesen Neologismus verursacht hat: Femizid. Mexiko wurde 2009 zum ersten Land der Welt, das von einem internationalen Tribunal wegen dieses Verbrechens an der Menschheit verurteilt wurde.

Die Straffreiheit, mit welcher der mexikanische Machismo den Genozid in der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juarez belohnt, die über 10.000 Ermordeten, ist der plumpeste Ausdruck des veranschaulichten Frauenhasses. Ist er heimtückisch, dann findet man ihn unterlegt mit einer  destruktiven Redseligkeit, ist er brutal, dann ist er unterlegt mit einem Sadismus, den man mit Worten nicht beschreiben kann. Auch in Deutschland. Laut allen Untersuchungen kommen die Angreifer aus allen sozialen Schichten und aus jedem Bildungsniveau. Jeder könnte es tun, und was noch erstaunlicher ist: Das ist in allen westlichen Ländern der Fall. Die geringere Zahl der weiblichen Toten lässt sich im Wesentlichenb auf die soziale Kontrolle zurückführen und darauf, dass die Verbrechen verfolgt werden, dass ein durchsichtigeres Rechtsssystem existiert, dass sich die Frauen ihrer Rechte deutlicher bewusst sind und verantwortungsvoller mit der Erziehung ihrer Kinder umgehen. Vor allem ist auch wichtig, dass eine Infrastruktur existiert, die die Opfer beschützt. Und nicht so sehr die Tatsache, dass die Männer besser lernen sollen, ihre Instinkte zu kontrollieren. El Pronto, wie ihn die Spanier nennen. Laut der offiziellen Kampagne zur Vermeidung von Gewalt der Stadt Berlin wird deutlich, dass jede vierte Frau schon einmal häusliche Gewalt erfahren hat, möglicherweise ein weiterer Grund für den hohen Konsum von Antidepressiva. 2010 starben in Spanien 76 Frauen, in Bolivien 210.

Das letzte Mal, als ich mit der Schriftstellerin Daniela Camacho sprach, arbeitete sie an ihrem ersten Roman, lehrte an einem Institut und lebte mit ihrer Tochter und einer Freundin in einer WG. Sie hatte es geschafft, unabhängig zu werden, sie dachte, dass sie sich wieder verlieben könne. Und so will ich sie in Erinnerung behalten. Mit rot lackierten Fingernägeln, einen Tee trinkend, lachend: endlich selbstbewusst.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Mein unglaublichster Sommer http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/mein-unglaublichster-sommer/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/mein-unglaublichster-sommer/#comments Fri, 05 Nov 2010 11:28:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3154 Die schwerste Übersetzungsaufgabe findet in diesem Moment statt. Das wird mir schlagartig klar, jetzt, wo ich hier vor dieser weißen Word-Seite sitze und euch von meinen letzten Monaten und von meiner Erfahrung als Übersetzerin für die Superdemokraticos berichten möchte.

Schon das Schreiben an sich impliziert ja eine Übersetzungsarbeit: der Text als eine Art evoziertes Echo von etwas anderem, das vielleicht Erlebnis, Eindruck, Spur oder so ähnlich genannt werden kann. Im Falle der Übersetzung in eine andere Sprache wäre das Übersetzen dann der Versuch, dieses Echo in einer anderen Sprache neu hervorzurufen. So hat zumindest Walter Benjamin einmal die Aufgabe des Übersetzers beschrieben.

Wie etwas übersetzen, das eigentlich unfassbar ist? Dass ich selbst vielleicht noch vor nicht all zu langer Zeit als unmöglich eingestuft hätte, was mir zumindest aber vollkommen unbekannt gewesen wäre.

Ich würde gerne etwas in Worte und Mitteilung übersetzen, was mir in den letzten Monaten widerfahren ist. Ich möchte das schon eine Weile – aber die Übersetzung will noch nicht so richtig. Die Worte geraten ins Stocken, ins Zweifeln, werden misstrauisch, luken mal kurz über die Lippen nach draußen, aber schrecken dann doch unsicher zurück. Sie schnüren mir die Kehle zu, bleiben wie ein Kloß im Hals stecken. Dann wollen sie alle auf einmal raus und verhaspeln sie sich in meiner Zunge und sind dann wieder plötzlich weg, wenn man gerade noch ein letztes Mal tief Luft holt.

Um es offen und ehrlich zu sagen: Die Superdemokraticos gerieten, wie so vieles aus meinem „normalen“ Leben, in diesem Sommer nach und nach in den Hintergrund. Wenn ich an die letzten vier Monate denke, faden sie in meiner Wahrnehmung aus, wie es manche Musikstücke tun, und werden zugleich als Anker sichtbar. Als ein Anker in die mir bekannte Welt, in den Alltag – den es wochenlang eigentlich gar nicht gab.

Stattdessen gab es einen Ausnahmezustand. Die Folgen der rituellen Gewalt und systematischen Folter. Und den Versuch, mit dieser dunklen Welt zu brechen. Und eine Person, die all dies erlebt, überlebt hatte. Wenn man zum ersten Mal mit diesem Thema in Kontakt kommt, „und das nicht selbst überlebt hat, dann ist dafür nichts abrufbar“, formuliert die Trauma-Therapeutin Monika Veith in einem Interview ihre eigene Erfahrung mit der Arbeit mit Überlebenden ritueller Gewalt in Deutschland und schenkt mir damit Worte, die ich selbst noch nicht finde. Oder nur so halb.

Einen Umgang mit etwas finden, für das nichts im eigenen Gedächtnis abrufbar war, darin bestand ein großer Teil meines Sommers. Da half erstmal nur Intuition, ausprobieren, allen Mut zusammen nehmen und vom Steg ins kalte Wasser springen, dem Schrecken trotzen, aber auch Grenzen wahrnehmen und vor allem Vertrauen, um schließlich dabei auch die Erfahrung zu machen, wieviel Verwandtes doch abrufbar ist, wieviel schönes Gemeinsames und Teilbares es gibt und wieviel jede für sich und man zusammen über sich hinaus wachsen kann.

Und das erinnert mich an Ingeborg Bachmann, die in vielerlei Hinsicht Patin stand in diesem Berliner Sommer. „Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an; daß wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt“, sagte diese kluge Schriftstellerin in ihrer Rede „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, die mich, seit ich sie das erste Mal vor Jahren las, nie wieder los ließ.

Systematische Folter und Straflosigkeit ist etwas, dass man hierzulande gemeinhin mit Lateinamerika und anderen fernen Kontinenten verbindet. Dabei existiert es auch hier vor der Tür. Und die Täter und Täterinnen ritueller Gewalt genießen auch hier fast absolute Straffreiheit. Und kaum jemand scheint in diesem Land überhaupt zu wissen, das so etwas hier existiert.

Und so höre ich auf einmal das große Schweigen, vernehme ich plötzlich das große Unvernehmen, und weiß nicht, was tun, wohin damit?

Und dennoch: Es war bei weitem nicht alles Grauen. Und so möchte ich diesen Sommer nicht missen.

„Und wer“, sagt Ingeborg Bachmann weiter, „wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, daß unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, daß man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, daß man enttäuscht, und das heißt ohne Täuschung, zu leben vermag.“

Links zum Thema rituelle Gewalt:

Renate Rennebach-Stiftung

Vielfalt-Info

Michaela Huber

Claudia Fliss

Vater unser in der Hölle

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http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/mein-unglaublichster-sommer/feed/ 4
Gute Reise http://superdemokraticos.com/themen/burger/gute-reise/ Fri, 10 Sep 2010 05:42:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1778 Für Martha und Pedro Navaja

Eins

Mich hat gerade, vor zwei Stunden, ein Freund meines Vaters angerufen, der in Brasilien lebt. Ich kenne ihn nicht. Er war mit seiner Frau eine Woche in Venezuela. Jetzt fahren sie wieder. Das Flugzeug müsste bald abheben. Sie haben so viel Schlechtes über Caracas gehört, über die Überfälle und Morde, dass sie das Risiko, Caracas ohne Begleitung kennen zu lernen, nicht eingehen wollten. Sie sprangen förmlich vom Internationalen Flughafen Simón Bolívar de Maiquetía zum Nationalen Terminal und von dort zur Isla Margarita. Und von da aus zurück zum Flughafen und dann zu dem anderen, von wo aus ich diesen seltsamen Freut-Mich-Sehr-und-Auf-Wiedersehen Anruf bekam. Ich hätte sie auch bedroht: mit einem Abenteuer aus Brunnen, Bars, verschiedenen öffentlichen Transportmitteln, dem Zentrum, Boulevards, einheimischen Gaststätten, vielleicht mit einem Park und natürlich auch mit guten Freunden, all den Dingen, die trotz der Makel dieses Ortes, das Beste daran ausmachen.

Zwei

Das erste Mal, das ich in Caracas überfallen wurde, war an einem Samstag im Jahr 1998, auf der Straße Luis Roche de Chacao, die von vielen für die sicherste Straße des sichersten Viertels gehalten wurde. Neun Uhr Abends. Ich konnte die Waffe nicht sehen, es gab nämlich keine. Stattdessen prägte ich mir das Gesicht und den Körperbau des Kriminellen sehr gut ein: bei einem Mann gegen Mann Kampf hätte ich, ohne eine Sekunde zu zweifeln, auf ihn gesetzt. Aber meine damalige Freundin – blond, zierlich und unterhaltsam – war anderer Meinung. Also war ich dazu  gezwungen, hinter diesem Mammut herzurennen, das sie aufs Übelste beschimpfte, während ich – völlig vergebens – versuchte, ihr mit der Hand hinter meinem Rücken zu verstehen zu geben, dass sie sich beruhigen solle. Ich habe mich nie so heuchlerisch, so lächerlich gefühlt, wie in diesem Moment. Aber ich habe es gemacht. Ich rannte –genauer gesagt, joggte ich – hinter dem Verbrecher her, und nach einem Block verringerte ich mein Tempo bis zu einer fast absurden Geschwindigkeit. Mir ist nur gelungen, mich selber zu fragen, wie sich jemand, der so langsam lief, traute, andere zu überfallen, und dabei nicht mal eine Pistole benutzte. Was für ein Risiko! Eines ist sicher: Die Not kennt kein Gebot.

Bei dem nächsten Vorfall, 22 Tage später, an einem Sonntag um acht Uhr Abends, packte ich den Gauner an der Schulter, als er derselben blonden, zierlichen und nun nicht mehr ganz so unterhaltsamen Freundin ihre Halskette entriss – nur um zu verhindern, dass sie mich mit einer weiterer Serie an Kritik, die sich gegen meinen angeblichen Mut und Stärke richtete, bei meinem Stolz packte. Ganz zu schweigen von meiner Geschwindigkeit, die seit drei Wochen in Zweifel gezogen wurde. Das Gesicht des neuen Räubers und meine rechte Hand zogen den Kürzeren. Sie sah am Ende wie Serrano Schinken aus, nur saftiger. Der Ort: Ein Boulevard, der als gefährlich galt, in einer größeren Neubausiedlung: die Baralt de la Libertador. Der Gauner hatte zwei weitere Individuen dabei, und ich war in Begleitung eines Freundes. Da um diese Uhrzeit das Chaos auf den Straßen zunimmt, endete das, was als frustrierter Überfallversuch begann, in einer kommunalen Schlägerei mit lauter Neugierigen, die mein Freund und ich aus der Ferne beobachten konnten, während wir uns Richtung U-Bahn entfernten. Na ja, leider ohne die Kette und mit dem Gedanken, dass der Dieb, der Arme, nicht Schuld daran hatte, sondern meine Freundin. Oder ihr Charakter. Oder die Art, wie sie erzogen wurde.

Neun Jahre vergingen. Dann, an einem sonnigen Mittag, an einem Freitag, ich bereitete gerade alles vor, um mit einer neuen Freundin zu verreisen, zwei Straßen von einem der meistbesuchtesten Einkaufszentren Caracas entfernt, in einer Wohnsiedlung der Mittelschicht, in einer Gemeinde, die halb aus Bourgeoisie und halb aus ärmeren Leuten besteht, El Tolón, in Las Mercedes, Baruta, stellte sich mir ein Schurke mit einem Gipsarm gegenüber, der von einem Motorrad stieg, das jemand anders fuhr und sitzenblieb. Beide waren bewaffnet. Ich trug zwei Taschen. Eine große in der Hand, mit Kleidung, drei Büchern und einer Digitalkamera, auf der kompromittierende Bilder in hoher Auflösung gespeichert waren. Und eine kleinere, einen Rucksack, in dem mein Laptop war.

Ich habe nicht gefragt. Ich sagte, ganz deutlich: Was immer du willst.

Er war sehr eindeutig: Ich will alles.

Gut, ich beherrsche den Kode, dachte ich, aber ich widersprach mir: Ich kann dir die große Tasche geben, hier in der anderen habe ich mein Arbeitsmaterial. (Unmittelbarer Gedanke am Rande der Aktion: „Arbeitsmaterial? Was soll das, Leo Felipe?“).

-Was hast du da?

-Mein Laptop.

-Ok.

Als ob ich in irgendeinem Büro Sachen ausdrucken würde, täuschte ich eine lässige und müde Haltung vor, diese beiden Bestandteile der Gewohnheit. Ich gab ihm die große Tasche, zog mein Portemonnaie heraus, öffnete es und nahm alles Geld, was ich hatte, und allen Mut zusammen und sagte zu ihm:

-Ich gebe dir das Geld, denn wenn ich dir die Karten gebe, lass ich sie sowieso in 10 Minuten sperren.

Er fuchtelte mit der Waffe, kniff etwas die Augen zusammen und antwortete mir: Beeil dich, Schwanzlutscher, ich mach doch keine Geschäfte mit dir. Gib mir jetzt die Kohle oder ich mach dich kalt.

Die Wahrheit? Ich fühlte mich beleidigt, aber nicht wütend. Ich habe die Dinge gut gemeistert, schnell, es war sauber und klar. Es hat mir nicht gefallen, wie er mich behandelt hat, was ich immer noch als ungerecht beurteile, nur um zu beweisen, wer in diesem Moment die Macht hatte. Das tat mir weh. Und das teilte ich ihm mit einer rhetorischen Frage mit, in einem ruhigen und reflektierten Tonfall, mit beiden Händen in die Hüften gestützt:

-Was soll das, Alter?

Ich gab ihm alle Scheine, die in meinem Portemonnaie waren, bis auf einen und setzte einen Gesichtsausdruck wie ein Geliebter in einer Telenovela auf, der gerade versetzt wordenist. Sie gingen. Ich nahm meinen Rucksack und tätschelte mein Laptop. Aus der anderen Hosentasche zog ich eine geringere Summe Geld, die ich immer einstecken hatte, für den Fall, dass ich ausgeraubt werde. Und ich ging los, machtlos, aber mit Stolz geschwollener Brust, um direkt eine Arepa zu essen, die ich aus purer Lust und Laune mit meiner EC-Karte zahlen würde. Wenn man erwachsen wird, muss man lernen, zu verhandeln, nicht alles wird mit Gewalt gelöst. Wegen der Fotos, da musste ich mein Möglichstes tun, um bessere zu machen, denn ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Aber ich fühle mich bereit, meine Urheberrechte bei einer möglichen Klage einzufordern.

Drei

Als der Freund meines Vaters aufgelegt hatte, erinnerte ich mich an diese drei Überfälle, die ich über mich ergehen lassen musste. Bei den 22 Jahren, die ich in dem Scheiß-Caracas wohne, ist das kein Schnitt, der einen in Ohnmacht fallen lässt. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass – obwohl die Geschichten, die ihm erzählt wurden, wahr sein können –die Realität dieser Stadt nicht weit von der, die beispielsweise in Rio de Janeiro gelebt wird, entfernt ist. Und dort werden die nächsten Olympischen Spiele stattfinden. Und die Leute lachen und tanzen und sind bezaubernd und stehlen auch Autos, und es gibt informelle Regelungen, die über den Gesetzen stehen und frühzeitige Schwangerschaften und Betrunkene und ein Übermaß an Musikern und Dichtern und Mördern und Wahlen und andere unbestreitbare Synonyme.

Aber es war Montag, ich hatte gerade meine Tochter in einem Kindergarten angemeldet, aß spät zu Mittag, hatte gerade Sex, und der war großartig, und ich musste auch noch mit einem Motortaxi zu einem vorindustriellen Büro mit Panoramablick fahren, an einem Meeting teilnehmen, die Präsentation eines Verlagsprojekt für 2011 verfassen, das wegen Geldmangel nicht umgesetzt werden würde, einen Tee mit einem Musikerfreund trinken gehen, der gerade zu Besuch ist und morgen wieder in seine Heimatstadt fährt, ein Treffen auf ein Bier mit einer früheren Chefin absagen und wieder nach Hause kommen, um an einer Reportage im Buchformat zu arbeiten, die ich in zwei Wochen abgeben muss und die nicht fertig werden wird. Deshalb denke ich, es war das Beste ihm das zu sagen, was ich ihm gesagt habe: Gute Reise. Denn es gibt Dinge, die man besser erleben sollte, als nur von ihnen zu hören.

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Erschießen wir sie? http://superdemokraticos.com/themen/burger/erschiesen-wir-sie/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/erschiesen-wir-sie/#comments Mon, 06 Sep 2010 15:02:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1615 Melquiades Suxo war der letzte Bolivianer, der zur Todesstrafe verurteilt wurde. Eine zehnköpfige Polizeieinheit beendete sein Leben in den frühen Morgenstunden des 31. August 1973. Er starb, ohne das Warum jener richterlichen Entscheidung tatsächlich richtig verstanden zu haben.

Sein Opfer war María Cristina Mamani, die nur vier Jahre alt geworden war. Die Minderjährige war entführt und wiederholt von Suxo und seinem Sohn Nazario (14) vergewaltigt worden. Die Autopsie bewies außerdem, dass das Mädchen mindestens zwei Tage lang – auf bestialische Art und Weise – körperlich misshandelt worden war. Auf dem toten Körper des Mädchens wurden Spuren von Gürtelschnallen an den Beinen und Bisswunden auf dem Rücken gefunden. Wenn es nach dir gegangen wäre, lieber Leser, hättest du Melquiades zur Todesstrafe verurteilt? Nein?

Und wenn ich dir sagen würde, dass dieser Mann, bevor er sich an Maria verging, seine sexuellen Bedürfnisse jahrelang auf der Haut seiner Tochter Dionisia (12) befriedigt hatte? Würdest du deine Meinung ändern? Immer noch nicht?

Und wenn ich dir außerdem erzählen würde, dass Melquiades seinen Sohn gezwungen hatte, seine eigene Schwester vor der Augen des Vaters immer und immer wieder zu belästigen? Was würdest du dazu sagen? Erschießen wir ihn standesrechtlich?

Einige Bürgerinitiativen versuchen, die Todesstrafe wieder in der nationale Gesetzgebung zu verfestigen. Und tatsächlich wird die Todesstrafe de facto umgesetzt. Die Nachrichten über Lynchjustiz (außergerichtliche Hinrichtungen, die von der Bevölkerung selbst durchgeführt werden) sind das tägliche Brot, vor allem in den urbanen und ruralen Gegenden mit knappen wirtschaftlichen Mitteln. Weil wegen eines simplen Handydiebstahls und in Abwesenheit der staatlichen Ordnungshüter ihre Töchter vergewaltigt und Familienmitglieder ermordet werden, entschlossen sich einige Nachbarschaften dazu, die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen.

Der aktuellste Fall hat das Land erschüttert. Vier Polizisten wurden von der Gemeinde Saca Saca (Potosí) entführt und mit Prügeln und Steinen totgeschlagen. Alles deutet darauf hin, dass die Uniformierten es gewohnt waren, die dortigen Dorfbewohner zu erpressen. Der Tod eines jungen Bauern aus der Gemeinde durch die Hand dieser staatlichen Mächte brachte das Fass zum Überlaufen.

Natürlich, Unschuldige sind durch die menschliche Wut gestorben. In einem Randviertel von Cochabamba wurde 2008 ein 16jähriger Student für einen Kriminellen gehalten. Ohne irgendwelche Erklärungen zuzulassen – er kam zum ersten Mal in dieses Viertel, um seiner Klassenkameradin seine Liebe zu gestehen – fesselte ihn die Menge an einen Pfahl, folterte ihn und verbrannte ihn schlussendlich bei lebendigem Leibe. Diese Reaktion der Leute beruhte darauf, dass die Polizei zwei Jahre zuvor einen anderen Mann freiließ, der in dem Viertel mehrere Mädchen vergewaltigt hatte. Der sexuell Kranke veränderte, nachdem er aus dem Gefängnis freikam, seinen Wohnort, beging dort weitere sexuellen Übergriffe und wurde schlussendlich in dieser anderen Gegend gesteinigt.

Was soll man tun?

Eine Gesellschaft sollte ihre Straftäter bekämpfen. Heute ist man sich darüber einig, Kriminelle ihrer Freiheit zu berauben. Die Idee dahinter ist, dass man durch die Strafe die geläuterten Bürger wieder in die Gesellschaft integrieren kann. Aber ich frage: Kann man einen Vergewaltiger und Mörder einer Minderjährigen tatsächlich umerziehen? Ich bezweifle das, und berufe mich auf spezifische Fälle. Meiner Meinung nach ist bei Extremfällen wie dem des Melquiades Suxo – bei dem Vergewaltigung, Folter und der Tod von Kindern vorkommen – die Anwendung der Todesstrafe voll und ganz gerechtfertigt. Was für eine andere Lösung könnte es geben? Den Aggressor in eine psychiatrische Anstalt zu sperren, um von der Gesellschaft, die er belästigt hat, versorgt zu werden?

Erlaubt mir die Diskussion mit diesem Artikel zu eröffnen.

Foto del último boliviano ejecutado. Foto de El Diario, de agosto de 1973

Foto del último boliviano ejecutado. Foto de El Diario, de agosto de 1973

Übersetzung:
Barbara Buxbaum

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Beamen http://superdemokraticos.com/themen/burger/beamen/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/beamen/#comments Thu, 02 Sep 2010 15:06:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1382 Die Sprache der sozialen Gewalt erzwingt auf verschiedenen Ebenen Modifizierungen, selbst beim Schreibakt. Die Finger zittern, körperliche Ticks, übersetzt in Bilder, treten auf und Metaphern schaffen Strukturen, in denen ihr Licht an die Verzweiflung appelliert. Die Schriftstellerei verkündet für einige Momente eine Fluchtmöglichkeit von der Paranoia oder wirkt zumindest wie ein Placebo, mit dem wir in der Lage sind, das Innerste unseres Zynismus, den wir wie ein Schutzschild entwickelt haben, ein wenig ruhig zu stellen. Das ist mehr als Resignation, das ist ein Schutz. In anderen Momenten ist die Schriftstellerei die wörtliche Transkription eines permanenten Terror- und Panikzustands.

Wenn Gewalt sich in fast vollständiger Dunkelheit abspielt und der Operateur der Beleidigung virtuell unsichtbar und nicht greifbar ist (man kann ihn nicht gänzlich dem Staat zuordnen, aber den parallelen Mächten, die mit jenem zusammenspielen können oder auch nicht), ist die Interpellation, die von der Poesie als eine Art des Widerstandes entwickelt wurde, genauso mobil, nomadisch und vorübergehend. Das Gedicht transmutiert seine Materie, verkleidet sich und stellt das Klagegeschrei dar, das für die Vortäuschung des tatsächlich empfundenen Schmerzes steht (Pessoa).
Ein Leser dieser Poesie versucht gar, vor ihr zu entkommen: Er vergisst sie, er beseitigt sie, er verschmäht oder ignoriert sie ganz einfach. Ein anderer Leser zollt ihr Anerkennung, bebt mit ihr und verknüpft sie mit der tatsächlichen Entwicklung einer rettenden Fiktion. Wieder ein anderer Leser hält sie für eine minderwertige Form der fantastischen Literatur („Poesie mit Special Effects“), für Effekthascherei und Übertreibung. Die testimonialen Elemente, die diese Poesie vermittelt, werden stur in Frage gestellt. Spott kommt auf. Diese Leseweise ist somit eine andere Form der Gewalt, aus der sich die Poesie selbst weiter speist.

Die Qualität dieser gewaltsam behandelten Poesie steht in direkter Beziehung zum Grad der technischen Entwicklung, der durch die Erarbeitung von Rahmenbedingungen erreicht wurde, in denen jene maßlose Lyrik stattfindet. Die Poesie muss ihre schwarze Epiphanie mit der Geschwindigkeit und der Schlagkräftigkeit von jedem wichtigen Werk umsetzen. Der ästhetische Genuss, als oberstes Ziel, ist nicht verschwunden, jedoch zeigt sich ein möglicherweise unterirdischer oder heimtückischer Aspekt, bei dem die eigentliche Form sich der symbolischen Mutation angepasst hat, die sich auf der sozialen Bühne ereignet.

Im Kontext des möglichen Endes der Nachkriegszeit in Guatemala (wo wir in eine Epoche eingetreten sind, die bislang noch keinen Namen hat) wird der Poet nur ganz selten als ein für seine soziale Umgebung „engagiertes Subjekt“ wahrgenommen. Seine Vision reicht aus, um zu erkennen, dass auch die sozialen Räume verwüstet wurden, in denen sich einst die verschiedenen Milizen der öffentlichen Ordnung abgezeichnet hatten. Eine fragmentierte Stimme, die genauso hybrid, mestizisch, nomadisch ist, kann sich sicher sein, dass sie nie wie ein Slogan oder eine Losung aufgenommen wird.

Und der gedruckte Rhythmus dieses literarischen Geschehens entfernt den Poeten von dem kurzem Lehrgang oder der langatmigen Rede. Die Zukunft oder das Überleben der Textualität, die aus diesem Chaos entsteht, ist eng verbunden mit einer konstanten Mobilität und einem transgeographischen Puls. Sie bieten Schutz und ermöglichen Flucht vor der multiplen Gewalt, die den Körper und den Geist desjenigen erschüttern, der sich dafür entschieden hat, eine schriftstellerische, autonome und freie Tatsache zu vollstrecken. Diese Distanz würde die Darstellung einer Art des „imaginären Ninjitsu“ erlauben, geschmiedet aus einer neuen Variante des Exils (inklusive des inneren Exils), in das man sich vor einem spektralen, transkörperlichen und transideologischen Verfolger flüchtet, dessen Gesicht gänzlich unbestimmbar ist.

Deshalb nutzen wir das Beamen als ein Mittel, die Paralleluniversen zu besuchen, dort wo imaginäre Lösungen immer möglich sind.

Erinnern wir uns an Les Épiphanies von Pichette:

“Monsieur Diable: Au besoin mon garçon, libère tes jurons, vomis tes déboires. C’est de bonne médecine”…

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Alles ist gewalttätig http://superdemokraticos.com/themen/burger/alles-ist-gewalttatig/ Tue, 31 Aug 2010 17:08:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1324

Ich entschuldige mich, falls das hier sehr schwer zu lesen ist, aber ich wollte es auf diese Art ausdrücken.

Uruguay ist unterteilt in 19 Departments die Gesamtfläche von Uruguay ist kleiner als einige der Provinzen Argentiniens sehr oft behandeln uns die Argentinier als wären wir eine argentinische Provinz sehr oft verhalten wir uns so als wären wir eine ich möchte über die Gewalt schreiben über die Migration über das von Tag zu Tag ich möchte es versuchen und ich möchte es so tun wie ein Fluss wie ein Wortschwall und ich weiß nicht ob es auf Deutsch funktioniert aber ich werde es auf Spanisch versuchen ich will sagen dass Uruguay ein kleines Land ist wir sind drei Millionen Einwohner vielleicht dreieinhalb Millionen und dies halbe Million lebt außerhalb der Grenzen des Landes vor einiger Zeit kam es jemanden in den Sinn diese halbe Million die außerhalb von Uruguay lebt Uruguayer zu nennen sie wurden das 20. Departement getauft sie wollten signalisieren zu verstehen geben dass dort wo sie wohnten Uruguay sei aber es hat nicht funktioniert vor einem Jahr haben wir versucht die Briefwahl einzuführen oder etwas dass den uruguayischen Bürgern die im Ausland leben mehr Rechte verliehen hätte aber der Vorschlag wurde nicht verabschiedet die Idee überwog dass die im Ausland wohnhaften Uruguayer nicht die gleichen Rechte haben wie die Inländer wir sind Uruguayer einer anderen Kategorie dieses kleine und unterentwickelte Uruguay hat auf diesem Wege keine Zukunft eines unserer dringlichsten Probleme besteht in dem was man brain drain nennt das Problem besteht darin dass wir zwar eine gute und kostenlose Hochschulbildung haben aber das Land nicht all die Akademiker im Land halten kann die es ausbildet die sofort von anderen Ländern absorbiert werden wo sie sehr viel bessere Gehälter beziehen als in Uruguay also gehen die gut ausgebildeten Akademiker weg und ziehen es vor ihr Leben und ihre Karriere in einem Land zu verfolgen das dies ermöglicht es ist vernünftig Uruguay die Uruguayer die verschiedenen Regierungen haben versucht dem Einhalt zu gebieten in der Krise von 2002 emigrierten fast so viele Tausende von Personen aus Uruguay wie zurzeit der Militärdiktatur was mich daran erinnert wie ein Freund zu mir meinte dass die Diktatur des Geldes regiert über uns siegt uns foltert und dass sie kam um zu bleiben wir erhalten sie mit unserer Wahlstimme aufrecht und mit dem Schweigen ich denke dass es vielleicht sehr gewalttätig ist was ich sage und ich denke dass alles gewalttätig ist und das zu akzeptieren zum ehrlich sein dazu gehört gewaltsame Ehrlichkeit jeder Akt ist ein gewalttätiger Akt und bestätige das mit meiner täglichen alltäglichen Handlung jede Absicht ist zugunsten von etwas und gegen etwas anderes nichts ist unschuldig die Gewaltlosigkeit existiert nicht der Frieden existiert nicht nur im Grab und auf den Friedhöfen das Schweigen und die Grautönigkeit des absoluten Nichts des Endes nichts ist dem Leben entgegen gesetzter auch mein Schreiben dieser Akt ohne Punkt und Komma ist ein gewalttätiger Akt gegen meine Übersetzerin die alles neu schreiben muss alles was ich versucht habe zu schreiben wird sie neu schreiben und ihr Text wird meinen so umstellen dass er wieder meinem Gewalt antun kann sie wird ihre Gewalt der Interpretation nutzen um meinen gewalttätigen Akt zu übersetzen ich greife sie an sie greift mich an und alles aus Mangel an Punkten und Kommata was kann man sonst vom Leben erwarten wo die Punkte und Kommata nicht zählen aber vielleicht ist dieses Auslassen der Anfang von allen Auslassungen alles fängt in der Sprache an und so ist die Gewalt der Straße eine Gewalt der Sprache vielleicht provoziert mein Mangel an Orthographie am Ende eine Stammesfehde in Afrika prätentiös und Schwindel erregend aber jeder gewaltsame Akt ist in sich gewaltsam und nicht graduell ein Schrei ist so gewalttätig wie eine Bombe das was sich ändert sind die Konsequenzen die jener hervorruft  je nachdem in welchem Kontext er geschieht eine Bombe mitten im Ozean mag vielleicht weniger gewaltsam für uns sein als eine Schrei mitten in unserem Schlaf denn die Gewalt richtet sich immer gegen jemanden und sicher trifft es die Fische mehr als uns aber nur wir sind in der Lage über diese Gewalt nachzudenken über diese unaufhörliche Notwendigkeit  gewalttätige Akte hervorzubringen seit unserer Geburt wir kommen unter den Schreien unserer Mütter zur Welt und die erste Absicht ist es uns zum Schreien zu bringen und wenn wir es nicht tun wird der Arzt uns schlagen bis wir es machen versteh doch auf diese gewaltsame Tour die Welt ist Gewalt und der Frieden existiert nur auf den Friedhöfen.

Übersetzung: Anne Becker

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Der Ort, an dem ich wohne http://superdemokraticos.com/themen/burger/der-ort-an-dem-ich-wohne/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/der-ort-an-dem-ich-wohne/#comments Fri, 27 Aug 2010 07:04:02 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1291 Mehr als die Situation meines Heimatlandes interessiert mich die Situation der Stadt, in der ich lebe. Caracas hat zwischen 4 und 8 Millionen Einwohner – je nachdem, welche Meinung gerade diensthabend ist; zwischen 22 und 80 Tote pro Woche, je nachdem welche Zeitung darüber berichtet oder je nach Beamtem, der die Zahlen präsentiert; es gibt sieben Rathäuser, aber eines, das „übergeordnet” genannt wird, und angeblich die anderen fünf delegiert, das arbeitet nicht, oder besser gesagt, man lässt es nicht arbeiten. Denn dieses siebte, das gibt es erst seit kurzem und es ist eigens von der exekutiven Macht eingerichtet worden, der Macht, die in Venezuela alle anderen Mächte dominiert: Es ist das Rathaus der Regierung und hat nun den größten Einfluss. Oder eben auch nicht.

Auf jeden Fall ist es ein Geldkuchen, der hierhin und dahin fließt, und man selbst, als Bürger oder Fußgänger, der weder sehr arm, noch sehr reich, noch ein großer Künstler in diesem Spiel der gewählten Politik ist, weiß nicht, ob diese Gelder an ihr Ziel kommen oder ob sie überhaupt den Ort erreichen, für den sie bestimmt sind. Jedenfalls gibt es sieben Rathäuser, aber es könnten auch sechs sein oder fünfeinhalb. In dieser Stadt gelten genaue Zahlen als ein unnötiger Luxus.

Jedes einzelne dieser fünfeinhalb oder sieben Rathäuser hat sein eigenes präventives Sicherheitssystem: Fünf verfügen über einen Polizeiapparat, der sich in Brigaden unterteilt, um Festnahmen und Vollzüge durchführen zu können, wenn es für notwendig erachten wird. Manche von ihnen regulieren sogar institutionell den Verkehr und die reibungslose Zirkulation der Autos, obwohl es auch eine Institution gibt, das Ministerium für Verkehr und Transportwesen, das über Beamte verfügt, die genaue diese Aufgaben ausüben sollten.

Ich habe gelesen, dass sich, laut der Aussage desjenigen, der 2008 Präsident dieser Institution war, die Hauptstadt mit 40 % des Fuhrparks von ganz Venezuela schmückt, und dass in jenem Jahr über 2 Millionen Autos täglich durch die Stadt fuhren, 400.000 davon, um von einem Bundesstaat zum anderen zu gelangen. Heute müssten es 100.000 mehr sein, wenn wir mal annehmen, dass jeder zweite Einwohner in Caracas ein Auto hat.

Oder, gut, vielleicht jeder vierte. Kommt darauf an.

Bis vor ein paar Jahren war die Rush Hour ungefähr zwischen 6 und 8 Uhr morgens, in der Mittagszeit und zwischen 5 und 7 Uhr abends. Heutzutage runden wir auf: zwischen 6 Uhr morgens und 7 Uhr abends, oder noch ein bisschen länger, kann man in einem Stau steckenbleiben, der ein bis zwei Stunden kostet. Wenn du also in deinem Auto oder im oberirdischen öffentlichen Nahverkehr sitzt, entspann dich, du kannst sowieso nicht wirklich was tun.

Caracas hat viele Parks. Es ist eine graue Stadt, mit grünen Muttermalen, den Blick aufs karibische Meer gerichtet, mit riesigen Gipfeln, auf denen die Spaziergänger herumklettern, die sich mit der Natur verbunden fühlen wollen, die Caracas wie Haare umschließen, und mit einem ziemlich blauen Himmel. Der Bart und die Flaumhaare des Körpers, um in diesem Bild zu bleiben, waren Berge voller Bäume, voller diagonaler, unbebauter und brachliegender Ländereien und voller Hügel. Mittlerweile sind sie voller selbstgebauter Häuser, gebaut aus Ziegelsteinen, Zink, Zement, Hoffnung und, abhängig von der Gegend,  viel Angst – wie wenn man denkt, es wird heftig regnen, und dann regnet es wirklich.

In Caracas gibt es mindestens 35 Einkaufszentren der gleichen Kette. Hier gibt es die größten, die mit dem schicken Namen, dem doppelten Konsonanten, in kursiver Schrift. Diese – ja, ist gut, ich erkläre den Witz – diese Malls, gemeinsam mit hunderten kleinen Ladengeschäften von mittelmäßiger Wichtigkeit, bilden einstimmig das kommunistische Bild eines Ortes, der einen so großen Anteil am lateinamerikanischen Markt der Blackberry-Telefone besitzt, dass der Begriff Sozialismus nicht nur erschreckt aus unserer Realität wegläuft, sondern uns auch noch seinen nackten Arsch zeigt.

Wie in vielen anderen Städten auf dem Kontinent, ist auch in Caracas der Kontrast die Regel. Es gibt Villen, in denen leben Minister, Vertreter der Regierung, glückliche Erben und Fabrikbesitzer, – manche mit Würde, andere ohne dass es sie auch nur interessieren würde, dass sie diese schon in ihrer Jugend verloren haben, vielleicht 100 oder 1.000 oder 20.000, mittlerweile wissen wir ja, dass Genauigkeit bei den Zahlen wenige in dieser Schicht interessiert. Gleichzeitig gibt es auch Millionen von Hütten, zwei, vier oder sieben, in denen der Hunger auf unangenehme Art vorherrscht, und wo man nun weiß, dass das Leben mit mangelnden Mitteln härter ist. Viel härter.

Feuerwaffen? Allein in Caracas, im ersten Halbjahr 2009, hat der Polizeiapparat 2166 davon beschlagnahmt. Das heißt, im Durchschnitt 12 am Tag. Aber wenn man sich mit irgendjemand unterhält oder den Meinungsvertreter im Dienst liest, glaubt man schlussendlich, dass – legale und illegale zusammen gerechnet – Millionen existieren. Die Konservativen sagen, es gibt 5 im ganzen Land. Die Apokalyptiker sprechen von mehr als 15. Wir reden hier über Millionen. Millionen von Feuerwaffen. Hast du schon mal bis zu einer Million gezählt? Na los, mach mal!

Ist es wichtig, ob es dreieinhalb oder 9.900 sind? Diese Zahl lässt uns so oder so schamvoll den Kopf senken. Im besten Fall denken wir nicht daran, weil es in der Realität unzählige andere, bessere Dinge gibt, mit denen wir die Zeit verbringen können, wie beispielsweise tanzen gehen oder eine Reise unternehmen, was hier sehr einfach und immer ermutigend ist. Im schlimmsten Fall multiplizieren wir Waffen mit den Jahrzehnten der Trägheit und den Jahrzehnten der Kugeln, und überlegen nu, wer sich das Geld dieses riesigen Geschäftszweigs einsteckt.

In Caracas kann man an die besten und an die schlechtesten Menschen geraten, hat mir vor ein paar Wochen eine Freundin aus Frankreich gesagt, die seit zwei Jahren in dieser Stadt wohnt, davor in den USA, Spanien, Mali, Madagaskar, Mexiko und Brasilien gelebt hat und durch Osteuropa, den Cono Sur (Teile Südamerikas) und Kolumbien gereist war. Wie meinst du das? hab ich sie gefragt. Naja, ich habe noch nie so nette und solidarische Menschen getroffen wie die Venezolaner, aber ich habe auch noch nie so viel Bosheit gesehen wie hier. Glaubt mir, zumindest bei ihr wollte ich in der ersten Gruppe sein.

Nimmt man die Worte meiner Freundin ernst, ist es bei dieser offensichtlichen Bipolarität nicht verwunderlich, dass es an diesem Ort, zusätzlich zu den Autos, Motorrädern, Feuerwaffen, Mobiltelefonen, Parks und Einkaufszentren, auch eine Unmenge an Alkoholläden gibt, um das Leid wegzutrinken und zu feiern, dass wir Rum haben, denn solange es Rum gibt, gibt es Hoffnung; genau wie die Unmenge an Friseuren und Fitnessstudios, um in Form zu bleiben und sich Montagmorgen das lange Haar glätten zu lassen; und die Drogerieketten, in denen es von Maismehl bis Fotokameras alles gibt und wo Freitagnacht Viagra meistens ausverkauft ist.

Ich werde gefragt, wie ich die Situation an dem Ort, an dem ich lebe, beurteile. Hier ist, ganz grob umrissen, die Antwort: Caracas ist hässlich, aber es packt dich, weil es ein Intensität besitzt, mit der es dir ganz selten langweilig wird. Es ist wie eine Droge, die dich schüttelt und dich versteckt, du weißt, dass du damit aufhören musst, bevor es zu spät ist. Ich wurde auch gefragt, ob ich glaube, einen Einfluss auf die Stadt haben zu können.

Die Wahrheit? Ich habe vier Zeitschriften gegründet, drei davon sind kulturelle, ich habe in einem Museum gearbeitet, als ich der Meinung war, dass die Kunst die Massen erreichen könnte, ich habe 2006 auch das Weltsozialforum und das alternative Sozialforum, das von der Gegenseite initiiert wurde, unterstützt, ich habe Informationen über ein audiovisuelles Magazin herausgegeben, in einer Zeit, in der die Politik extrem polarisierte, ich habe einige Chroniken über vergessene Räume der Stadt redigiert, Debatten und Diskussionsrunden organisiert, öffentlich zugängliche Partys, einige Workshops gegeben über das, was ich für guten, narrativen Journalismus halte (Martí, Walsh, Capote, Kapuscinski, Rotker, Lemebel, Monsiváis, Caparrós, Guerriero, Salcedo Ramos, Muñoz, Duque, usw.). Und bei jeder einzelnen dieser Taten hab ich mein Bestes gegeben und dabei zuerst an mich gedacht, dann an mein direktes Umfeld und danach letztendlich an Caracas. Und dennoch glaube ich es nicht.

Ich denke nicht, dass ich in einer Stadt wie dieser einen Einfluss haben kann, im positiven wie im negativen Sinne, nicht außerhalb meines direkten Umfeldes und innerhalb kürzester Zeit. Ich glaube es nicht und manchmal hätte ich gerne gehabt, dass es mir egal gewesen wäre, aber die Wahrheit ist, dass ich, solange wie ich hier leben werde, es weiter versuchen werde.

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Bürgerin von zwei Katastrophen http://superdemokraticos.com/themen/burger/burgerin-von-zwei-katastrophen/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/burgerin-von-zwei-katastrophen/#comments Fri, 20 Aug 2010 07:17:09 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=966 Meine zwei Länder sind zwei Katastrophen. Deshalb lebe ich jeden Tag mehr an einem imaginären Ort. Oder sagen wir besser: an einem virtuellen Ort. Meine gesellschaftliche Teilhabe als Bürgerin ist gleich Null, da ich eine unperfekte Bewohnerin bin, die weder von hier ist noch sich dort befindet. Ich habe keine Stimme, um über Venezuela zu urteilen, weil ich nicht dort bin – wird mir gesagt.

Ich kann nichts zu Israel sagen, weil ich Ausländerin bin – denke ich. Aus diesem bürgerschaftlichen Limbo heraus fühle ich mich annulliert und gehe den Schwierigkeiten, so gut ich kann, aus dem Weg. Die Gesetze von hier wie von dort haben Auswirkungen auf mich, doch sie wissen nicht, wie sie mit mir verfahren sollen. Damit meine Kinder nach Venezuela einreisen konnten, musste ich für sie die argentinische Staatsbürgerschaft beantragen – die ihnen väterlicherseits zustand. Es war kaum von Bedeutung, dass sie meine Kinder waren: Wenn sie mit israelischem Pass reisen, können sie in das Land nicht einreisen, in dem ich geboren bin und in dem ich bis vor kurzem lebte. Jedes Mal, wenn ich mich dem Schalter irgendeines Beamtens nähere, muss ich erläutern, wie ich hier gelandet bin. Jedes Mal, wenn ich eine Flughafen betrete, muss ich erklären, warum ich dort hin fahren möchte. An dem Tag, an dem meine Kinder die argentinische Staatsbürgerschaft erhielten, sind wir ein Steak in einem argentinischen for export-Restaurant essen gegangen, um zu feiern. Die Musik, mit der wir in diesem möchte-gern-gaucho-artigen Simulakrum empfangen wurden, spielte gerade jenes alte Tränendrüsenlied mit den Zeilen no soy de aquí, ni soy de allá (ich bin nicht von hier, noch bin ich von dort“.

Keine der Fahnen behagt mir. Falls im Nahen Osten das Wasser ausgeht, kehre ich nach Venezuela zurück. Falls ein neuer Krieg ausbricht, falls ich ein Attentat aus nächster Nähe erlebe, falls das Mittelmeer vor Medusen brennt, falls die so sehr versprochene Atombombe endlich auf dieser Seite landet, kehre ich nach Hause zurück. Aber mein Zuhause ist nicht mehr mein Zuhause, sondern ein Schlachtfeld, auf dem die Gewalt und die Verbrecherbanden mit großen Abstand über jede gute Absicht siegen. Mit Venezuela geht es den Bach hinunter dank seiner Irrfahrt mit Kurs auf ein Ziel namens „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ oder trotz dieses Unterfangens. Eine vorgeblich neuartige Doktrin, die aber auf uralten Konzepten und Worten aufbaut.

Seit zehn Jahren ist der Staat damit zugange, die Namen der Ministerien, der Institute, der Abteilungen, der Banken, der Fernsehanstalten, der Währung zu ändern. Alles muss einen Namen erhalten, der der neuen politischen Realität entspricht. Ich weiß von nichts mehr, wie es heißt. Währenddessen hält uns die Titelseite einer Auflage starken Tageszeitung eine schmerzhafte Realität vor Augen: Auf dem Foto sieht man die verhüllten Körper  von einem Dutzend Toten in einem Leichenschauhaus, die aus Platzmangel auf irgendeinem Flur aufgetürmt wurden. Alle wurden an einem x-beliebigen Wochenende in Caracas von Kriminellen ermordet. Körper, die verwesen, ohne dass jemand ihnen die Augen schließt und für das Begräbnis (ein Massengrab, natürlich) zurecht macht. Ein Krieg. Wenn irgendjemand sagt, dass er oder sie es nicht mehr aushält, mit so viel Gewalt zu leben, findet ein Minister das lustig. Vielleicht bezichtigt er diese Tageszeitung der Eschatologie und veranlasst ihre Schließung, um sich so von seinem riesigen Lacher zu erholen.

Dasselbe Lachen, mit dem sich eine Soldatin der israelischen Armee umringt von gefesselten palästinensischen Gefangenen mit verbundenen Augen portraitieren lässt. Die beste Zeit ihres Lebens – schreibt sie auf ihrer Facebook-Seite, auf der sie das heute berühmte Foto veröffentlicht, mit dem sie sich sofort einen Namen machte.

Wie es aussieht, gibt es in meinen zwei Ländern dieses Lachen in Hülle und Fülle. Und die Kadaver. Und die Entführungen. Und die Festgenommenen. Und die politischen Gefangenen. Und die Kriege. Und die Guerillas. In Venezuela gibt es mehr Hunger, das schon. Und ein tausend Jahre altes Elend, das niemanden schmerzt.

Meine bürgerschaftliche Teilhabe ist gleich Null. Ich lebe in meinem imaginären Land, meinem virtuellen Land, meinem Atom-U-Boot, meinem Asteroid B612. Wenn Krieg ist, schließe ich die Fenster, um ihn nicht zu hören. Ich recycle keinen Müll, ich spare kein Wasser, ich hoffe, dass das Ozonloch groß genug ist, um all die Ungerechtigkeiten zu verschlingen. Ich demonstriere nicht für irgendeine Minderheit, denn ich bin die Minderheit der Minderheiten. Niemand würde für mich auf die Straße gehen, genauso wie niemand denkt, dass meine politische Meinung irgendeinen Wert hat, da ich ja so weit weg bin, da ich ja so ausländisch bin.

Übersetzung: Anne Becker

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Zerbrochene Fliesen http://superdemokraticos.com/laender/israel/zerbrochene-fliesen/ http://superdemokraticos.com/laender/israel/zerbrochene-fliesen/#comments Thu, 08 Jul 2010 07:21:32 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=336 Ich lebe im Zentrum der Geschichte, und obwohl auf den Feldern frisch ausgetriebene Saat glänzt, bewahrt die Erde sehr alte Geheimnisse. Vor ein paar Wochen machten wir mit den Kindern einen Ausflug, wir wollten Enten angucken gehen an einem wilden Weiher mitten in den Obst- und Gemüsefeldern, und wir fanden zerbrochene Fliesen. Sie waren alt, aber nicht so alt. Ich dachte, es handelte sich um einen archäologischen Fund, aber mein Mann holte mich in die Realität zurück: Sie konnten nicht so alt sein, sie befanden sich schließlich auf der Erde wie ein kaputter Boden oder Stücke Granit. Eine zerbrochene Geschichte am Ufer eines dickflüssigen Sees. Vor über 60 Jahren gab es in dieser Gegend ein arabisches Dorf. Der älteste Mann aus dem Kibbutz, in dem wir wohnen, berichtet, dass die Bewohner des Dorfes sich erschraken und ganz von alleine die Gegend verließen nach der Staatsgründung Israels. Die zerbrochenen Fliesen, jedoch, scheinen einem entgegen zu schreien, dass der Exodus nicht so sanft gewesen ist.

Hier hört niemand mehr die Stimmen von Burayr, dem verwüsteten Dorf. Ein paar Alte wiederholen die offizielle Geschichte mit der Überzeugung derjenigen, die sich auf bibliographische Angaben stützen können. Ein oder zwei erzählen mit Scham von einer nebulösen Exkursion von fünf Männern mit Gewehren, oder eher Jungs in Todesangst. Die neuen israelischen Historiker behaupten felsenfest, dass die Bewohner dieses Dorfes gewalttätig vertrieben wurden. Es könnte so aussehen, als würden die zerbrochenen Mosaike, die wir auf unserem Ausflug aufs Land finden, dies bekräftigen. Aber dann gibt es da noch die Geschichte von den zu Tode verängstigten Jungen.

Ich lese auf Wikipedia, dass jenes Dorf einmal jüdisch gewesen ist und Beror Hayil hieß. Später wechselte es seinen Namen und seine Hände: Buraryr, Buriron und noch einmal erneut Beror Hayil. Jedem dieser Wechsel ging ein Konflikt voraus, mit seinen jeweiligen zerbrochenen Fliesen. Ich glaube Wikipedia in der selben Art und Weise, wie ich der Geschichte glaube: wohlwissend, dass die Tatsachen beweglich, konstruiert, verformt sind. Die Geschichte ist eine Knetmasse, die jeder nach seinem Belieben zurecht formt. Ein uraltes Wikipedia, das immer wieder von den Siegern neu geschrieben wird. Die Sieger, die vormals die Besiegten gewesen waren. Die Besiegten, die später die Sieger sein werden.

Wenn man irgendetwas von der viel betatschten Geschichte lernen kann, dann, dass all das, was heute eine Gewissheit darstellt, morgen ein tiefer Weiher voller Zweifel sein wird, umgeben von den Spuren der Gewalt. Ich frage mich und mich überkommt Schüttelfrost, ob dieser Kibbutz weiter seinen Namen wechseln wird. Werden womöglich die Fliesen von diesen Häusern in vielen Jahren von einer Familie auf einem Sonntagsausflug gefunden werden?

Übersetzung: Anne Becker

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