unübersetzbar – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Ich, ein/e Unübersetzbare/r http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ich-eine-unubersetzbarer/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ich-eine-unubersetzbarer/#comments Tue, 20 Jul 2010 07:00:36 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=476

Die Betrachtung der Zukunft.

Sein oder nicht sein. Frau sein oder Mann sein. Oder keines von beidem sein. Ha! Die Relevanz dieser Frage fällt zweifellos unterschiedlich aus, je nachdem, in welcher Epoche und an welchem Ort sie gestellt wird. Sich zu fragen, was es im Mittelalter bedeutet hat, eine Frau zu sein, ist etwas anderes, als zu fragen, was es heutzutage bedeutet. Genauso wie es auch nicht dasselbe ist, sich diese Frage heute in Afghanistan zu stellen oder in Holland. Der jeweilige Kontext entscheidet über Relevanz und Bedeutung dieser Frage.

Wenn mich irgendetwas mit Stolz erfüllt, dann das: dass ich mich zu einem zweifelnden Wesen entwickelt habe. Ich bin davon überzeugt, dass diese Gemütsverfassung der Zeit und dem Ort entspringt, an dem ich lebe. Also: Uruguay im Jahr 2010. Die Möglichkeit, an allem zu zweifeln, was sich mir zu einem bestimmten Zeitpunkt als sicher und unverrückbar dargestellt hat, erfüllt mich mit Hoffnung und Neugierde. Mich erfreut die – zumindest virtuelle –Möglichkeit, dass nicht alles so ist, wie es scheint und dass manchmal eine gute Frage ausreicht, um das institutionelle Fundament eines beliebigen Mythos zum Einsturz zu bringen.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass ich ein Mann bin, zumindest physiologisch. Aber ich zweifle die ganze Zeit daran, dass ich kulturell ein Mann bin. Und ich will klar stellen, dass ich das nicht auf meine sexuellen Neigungen beziehe, da diese in den traditionellen Konzepten von „Mann“ und „Frau“ nicht zu fassen sind. Vielmehr spreche ich von der kulturellen Konstruktion des Archetyps – in diesem  Fall – Mann. Doch zugleich überzeugt mich die andere Option auch nicht genug. Auch wenn das Frausein mehrere Aspekte beinhaltet, die ich gerne mal ausprobieren wollen würde, ist nichts so verführerisch, dass es mich zum vollständigen Wechsel bewegen könnte.

Wir wissen längst schon alle, dass die Frage komplexer ist. Gibt es nur zwei Möglichkeiten zu existieren? Ist man entweder Frau oder Mann? Oder ist man einfach nur? Die Frage ist auf endlose Antworten angelegt, aber hier sollte man zumindest versuchen, eine persönliche Antwort auf sie zu geben. Diese Antwort erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sie ist auch nicht übertragbar auch den Rest der Menschheit. Sie ist nur das Manifest einer Einzelperson, das eine weitere Farbe zu dem Farbspektrum der Antworten hinzufügt.

Also. Wer bin ich?

Ich bin ein Mann, der sich Feinde sucht, die stärker sind, als er selber, und eine Frau, die in Situationen der Ohnmacht ins kalte Wasser springt. Ich bin dieser Mann, der sichere Risiken eingeht, und diese Frau, die sich dort einen Platz sucht, wo sie nicht eingeladen wurde. Ich bin ein Mann, der es nie mochte etwas zu lernen, für das er sich nicht interessierte, und in der Schule nur so viel aufpasste, damit er nicht sitzen blieb, und für Prüfungen einen Tag vorher lernte und damit durchkam. Ich bin diese Frau, die, wenn etwas ihre Leidenschaft entfacht, bereit ist zu lieben, wie niemand je geliebt hat, alles zu geben und sich hinzugeben ohne abzuwägen, ohne zu spekulieren, ohne etwas zu erwarten. Ich bin dieser Mann, der weiß, wie er geliebte Personen verletzen kann, und der sich dann streitet, wenn er gute Chancen auf Erfolg hat, der versucht, unbeschadet aus den Konflikten anderer hervorzugehen, und sich nur so viel einbringt wie nötig. Ich bin diese Frau, die dafür kämpft, woran sie glaubt, und die ihre Ansichten vertritt und sich nicht der falschen Überzeugung der Mehrheit fügt. Ich bin diese Frau, die mehr schläft als nötig, und dieser Mann, der neidisch auf die Schönheit anderer ist. Ich bin diese Frau, die immer daran denkt, einen guten Eindruck zu machen und dieser Mann, der nichts ohne Hintergedanken tut. Ich bin ein Eigennutz und eine Bombenlegerin. Ich bin ein verzogener Junge und eine überhebliche Frau. Ich bin ein/e Unübersetzbare/r. Unverständlich außerhalb meiner selbst.

Ich kann mir den Tag nicht vorstellen, an dem wir alle so sehr Frau und Mann sein können, wie wir wollen, an dem Kulturen nach ihren Grund- und  Gegensätzen gelebt werden und an dem alles eine willkürliche und persönliche, gerechte und kollektive, zufällige und singuläre Konstruktion ist. An dem wir uns unabhängig von unserem Geschlecht gefallen oder uns zurückweisen, weil sich diese längst mit unseren Tugenden und Sünden zur Unkenntlichkeit verwischt haben. Und an dem wir uns in solch vernünftigen und erträglichen Maßen hassen und lieben werden, dass es möglich wird, dass sich die Welt dreht, ohne auch nur die Existenz der winzigsten Albinomücke in Mitleidenschaft zu ziehen. Und an dem es nur so viel Diskriminierung geben wird, dass ich diese in Frieden leben kann, weil sie nicht auf Ausgrenzung abzielt, sondern nur dazu dient, dass ich weiß, dass ich ein einzigartiges Wesen bin, welches zur Farbfülle der Welt beiträgt, ohne dabei die unerträglichen Farben der anderen auszugrenzen. Und diese Welt ist so undenkbar, so weit weg und so unwahrscheinlich, dass wir allein bei der Möglichkeit, sie uns vorzustellen, in Freudentränen ausbrechen werden, so wie jemand, der dem Wesen des Universums ins Gesicht blickt. Ich kann mir diesen Moment und diese Welt nicht vorstellen, aber ich möchte kein Stein auf dem Weg dorthin sein.

Ich werde daher warten, während ich die Gesichter meiner Nachbarn betrachte und darauf hoffe, dass ich die außergewöhnliche Geste erblicke, die Grimasse, die aus der Betrachtung der Zukunft unvermeidlich folgt. Und wenn das passiert, werde auch ich in die Gestik einstimmen, ich werde die Bewegungen kopieren, ich werde durch die Augen der Glücklichen blicken und dabei behilflich sein, als Mann und als Frau werde ich dabei behilflich sein.

Übersetzung: Anne Becker

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