Transit – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Vierter Sommersalon – „Cronotopo cero“ http://superdemokraticos.com/editorial/vierter-sommersalon-cronotopo-cero/ Sat, 18 Sep 2010 18:07:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2092

Ich bin im Hotel.
Wo?
In der Hotelbar.
Welches Hotel?

Seit ein paar Jahren gibt es eine Raumzeit Null – einen Cronotopo cero – in der Mariannenstr. 26 in Berlin-Kreuzberg, wo sich Fremde, Hartz-4-Empfänger und Millionäre treffen: „Wir wollten einen Platz schaffen, an dem die Orientierung verloren geht“, erklärt Carsten, Hotel-Besitzer, der eigentlich ein französisches Bistro eröffnen wollte. Das Hotel war – schon immer und überall auf der Welt – ein Ort zum Ankommen und dann wieder Weiterreisen, ein Transit-Ort, der einlädt und nicht wertet, hier spezifisch ein Ort, wo Spanisch und alter Jazz-Swing-Blues die lingua franca sind. In diesem Hotel wirkt alles verbraucht und benutzt, aber auch altbekannt, wie bei dir um die Ecke, in der Provinz oder in der Großstadt – wenn du deinen Computer anmachst.

Überprüfe deine Haltung.
Strecke dein Rückgrat.
Tut dir dein Rücken weh?

Bei den unter 40-Jährigen regiert noch die Ironie, denn wir sind noch nicht im Sarkasmus angekommen: Wir singen Politik wie etwa MC Eisbommi, unser Gast mit Ukulele und kabarettistischem Liedgut, der bei unserem vierten Sommersalon am 24. September auftreten wird. Er selbst beschreibt sich so:

MC Eisbommi ist der einzig wahre Barde der Gegenwart – das hat er mit seinem ersten Hit Deine Mudda kommt aus Berlin unter Beweis gestellt. Wo andere versuchen, superschlau rüberzukommen, ist Bommi einfach superschlau. Wo andere sich bemühen, total ironisch zu wirken, ist Bommi einfach total ironisch. Wo andere verzweifelt nach musikalischen Innovationen suchen, sagt Bommi: „Scheiß drauf, wir machen einfach was, das geht ins Ohr und in die Beine. Fertig! Und wenn’s dann ein bisschen nach ‚Gimme hope, Joanna‘ klingt oder nur zwei Akkorde hat – egal!“ Diese Mischung aus geistiger Potenz und musikalischer Unbefangenheit – in Kennerkreisen wird Bommis Stil auch als „Ballermann-Mucke für Akademiker“ bezeichnet – macht MC Eisbommi (benannt nach einem Mixgetränk aus Deutschlands hohem Norden) zu dem kommenden Ereignis in der nationalen Singer-Songwriter-Szene.

Wir sagen: Es ist nicht nur ein kommendes Ereignis, sondern ein sehr bald kommendes Ereignis! Wir freuen uns, mit MC Eisbommi, mit euch und mit Gästen, Freunden, Unbekannten und Durchreisenden unseren vierten und leider letzten Sommersalon 2010 zu feiern: am Freitag, 24. September, um 21 Uhr in der Hotelbar, Mariannenstr. 26.

Text verfasst von Rery und Nikola im Hotel.

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Zerbrochene Fliesen http://superdemokraticos.com/laender/israel/zerbrochene-fliesen/ http://superdemokraticos.com/laender/israel/zerbrochene-fliesen/#comments Thu, 08 Jul 2010 07:21:32 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=336 Ich lebe im Zentrum der Geschichte, und obwohl auf den Feldern frisch ausgetriebene Saat glänzt, bewahrt die Erde sehr alte Geheimnisse. Vor ein paar Wochen machten wir mit den Kindern einen Ausflug, wir wollten Enten angucken gehen an einem wilden Weiher mitten in den Obst- und Gemüsefeldern, und wir fanden zerbrochene Fliesen. Sie waren alt, aber nicht so alt. Ich dachte, es handelte sich um einen archäologischen Fund, aber mein Mann holte mich in die Realität zurück: Sie konnten nicht so alt sein, sie befanden sich schließlich auf der Erde wie ein kaputter Boden oder Stücke Granit. Eine zerbrochene Geschichte am Ufer eines dickflüssigen Sees. Vor über 60 Jahren gab es in dieser Gegend ein arabisches Dorf. Der älteste Mann aus dem Kibbutz, in dem wir wohnen, berichtet, dass die Bewohner des Dorfes sich erschraken und ganz von alleine die Gegend verließen nach der Staatsgründung Israels. Die zerbrochenen Fliesen, jedoch, scheinen einem entgegen zu schreien, dass der Exodus nicht so sanft gewesen ist.

Hier hört niemand mehr die Stimmen von Burayr, dem verwüsteten Dorf. Ein paar Alte wiederholen die offizielle Geschichte mit der Überzeugung derjenigen, die sich auf bibliographische Angaben stützen können. Ein oder zwei erzählen mit Scham von einer nebulösen Exkursion von fünf Männern mit Gewehren, oder eher Jungs in Todesangst. Die neuen israelischen Historiker behaupten felsenfest, dass die Bewohner dieses Dorfes gewalttätig vertrieben wurden. Es könnte so aussehen, als würden die zerbrochenen Mosaike, die wir auf unserem Ausflug aufs Land finden, dies bekräftigen. Aber dann gibt es da noch die Geschichte von den zu Tode verängstigten Jungen.

Ich lese auf Wikipedia, dass jenes Dorf einmal jüdisch gewesen ist und Beror Hayil hieß. Später wechselte es seinen Namen und seine Hände: Buraryr, Buriron und noch einmal erneut Beror Hayil. Jedem dieser Wechsel ging ein Konflikt voraus, mit seinen jeweiligen zerbrochenen Fliesen. Ich glaube Wikipedia in der selben Art und Weise, wie ich der Geschichte glaube: wohlwissend, dass die Tatsachen beweglich, konstruiert, verformt sind. Die Geschichte ist eine Knetmasse, die jeder nach seinem Belieben zurecht formt. Ein uraltes Wikipedia, das immer wieder von den Siegern neu geschrieben wird. Die Sieger, die vormals die Besiegten gewesen waren. Die Besiegten, die später die Sieger sein werden.

Wenn man irgendetwas von der viel betatschten Geschichte lernen kann, dann, dass all das, was heute eine Gewissheit darstellt, morgen ein tiefer Weiher voller Zweifel sein wird, umgeben von den Spuren der Gewalt. Ich frage mich und mich überkommt Schüttelfrost, ob dieser Kibbutz weiter seinen Namen wechseln wird. Werden womöglich die Fliesen von diesen Häusern in vielen Jahren von einer Familie auf einem Sonntagsausflug gefunden werden?

Übersetzung: Anne Becker

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History repeating (Propellerheads feat. Shirley Bassey) http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/history-repeating-propellerheads-feat-shirley-bassey/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/history-repeating-propellerheads-feat-shirley-bassey/#comments Sat, 26 Jun 2010 22:27:53 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=337 Die Fußballweltmeisterschaft ist ein idealer Vorwand, um die Geschichte eines Landes erneut zu begutachten. Eine gute WM ist eine exzellente Ausrede, um dein Liebesleben zu überprüfen und dich zu fragen, welche Frau dich in diesem Abschnitt der Geschichte begleitet hat. Die beste Weltmeisterschaft ist das perfekte Szenarium, um die Geschichte von Lateinamerika neu zu befragen.

Ein harter Kerl, bekannt als José Martí, versicherte, dass Lateinamerika in Tijuana beginnt. So nördlich rau ist mein Leben, so nördlich rau ist mein Herz. Als ich klein war, fuhr ich jedes Jahr mit meiner Mutter nach Ciudad Juárez. Mama ging rüber nach El Paso, Texas, um fayuca, Schmuggelware, zu kaufen – einen Beruf, den sie von meinem Vater geerbt hatte -, während ich auf dieser Seite der Grenze blieb.

Auf der Rückreise war der Zug immer voll beladen mit morrillos, den Kindern der Schmuggler, die mit ihren Ami-Spielzeugen angaben. Meine Mutter versorgte mich mit einem Speiseschrank voll von Star-Wars-Figuren, ich war der Checker unseres Viertels, niemand in Coahuila konnte eine so große Sammlung vorweisen, wie ich sie mein Eigen schätzte. Doch 1986 war ein traumatisches Jahr für mich. Ich kam mit einer einzigen Beute nach Coahuila zurück. Ein Pique, das Maskottchen der Fußballweltmeisterschaft von 1986, eine Chilibohne mit Mariachihut und Fußball. Ich machte den größten Aufstand seit Menschengedenken in ganz Lateinamerika. Sie bestraften mich, erteilten mir Stubenarrest, während andere morritos auf dem Sportplatz mit ihren amerikanischen Spielzeugen spielten.

Zwanzig Jahre später erfuhr ich es: Die Migra, die Migrationspolizei, hatte Mama gefasst. Die border patrol wollte sie, zusammen mit einer Gruppe von anderen aufgegabelten mojados (illegale Migranten), in der Wüste ihrem eigenen Tod überlassen. Das Autoradio, welches das Fußballspiel zwischen Mexiko und Bulgarien im Aztekenstadium übertrug, wurde zu ihrer Rettung. Das Tor durch einen Seitfallzieher von Manolo Negrete beglückte den Polizisten, einen pocho (in den USA lebender Mexikaner), so derbe, dass die Migra sie am Leben ließen und lediglich verhafteten. Meine Mama verbrachte mehr als 48 Stunden hinter Gittern, sie nahmen ihr alle Dollar weg, die sie dabei hatte, missachteten die mexikanischen Peso, und wurde zurück auf mexikanischer Seite aus dem Wagen geworfen. An der Kreuzung, am Río Bravo, kaufte sie mir ein Pique aus Plastik.

Bei der WM 2010 in Südafrika wiederholt sich die Geschichte. Mein Cousin Pedro, ein Mariachispieler, wollte rüber nach Amiland. Am 17. Juni versuchte er, die Grenze zu überqueren, aber die Migra nahm ihn fest. Direkt nach dem Tor von Cuauhtémoc Blanco gegen Frankreich schickte er mir eine SMS: „Viva México“. Am nächsten Tag rief er mich aus Nuevo Laredo an. Er sagte zu mir: „Alter, sie haben mich abgeschoben. Ich bring dir ein Zakumi-Stofftier mit, das offizielle Maskottchen der WM. Unser pollero (Schlepper) hatte keine Ahnung vom Weg in irgendeine city, wir wären in der Wüste umgekommen. Nach dem Tor von Cuauhtémoc beschlossen wir, uns den Blondschöpfen auszuliefern. Aber von wegen Blondis, verdammte pochos. Die haben uns sogar ein paar Bier ausgegeben, um den Sieg der mexikanischen Nationalmannschaft zu feiern.“ „Und meine Beistelltische?“, frage ich ihn. Ich wollte, dass er mir ein Tischset mitbringt, um vorm Fernseher essen zu können. „Tja, mein Freund, da haste die Arschkarte gezogen, die musst du dir nun selber im City club kaufen gehen.“

Übersetzung: Anne Becker

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Die Sicherheitsgurte anlegen, bitte! http://superdemokraticos.com/editorial/die-sicherheitsgurte-anlegen-bitte/ Sun, 20 Jun 2010 13:17:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=321 Es ist sehr merkwürdig für mich, hier in meiner Küche zu sitzen und diesen Text zu schreiben: Unser erstes wöchentliches Editorial. Seit über einem Jahr warten wir auf diesen Moment. Darauf, mit unserer Autorenauswahl online zu gehen. Auf das, was wir unseren Katalog nennen könnten.

Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus verschiedenen Ländern, die uns über ihre Realität berichten.

In den letzten Tagen ging es uns darum, sie euch vorzustellen und auch wir haben uns zu ihren Leserinnen gemacht. Die Mehrheit der Personen, die uns hier begleitet, kennen wir selbst nicht. Wir haben lediglich die besten Anfänge einiger Autobiographien ausgewählt, die uns aus zwölf Ländern und drei Kontinenten erreichten. Wir wissen, dass wir alle schreiben und dass wir ein professionelles Team zusammengestellt haben.

Was viele unserer Autoren derzeit eint, ist ihr Nomadendasein. Aus ihren Texten wissen wir, dass viele in den letzten Jahren ihr Leben geändert, ihr Umfeld gewechselt haben. Dass für viele das Reisen eine prägende Erfahrung gewesen ist, vor allem für die Frauen. Vier unserer Autorinnen haben die intime Erfahrung der Migration ihren autobiographischen Portraits hinzugefügt. Auch wären auffällig viele der Literaten, die wir hier lesen werden, sehr gerne Musiker oder Rockstars geworden, hätten oder haben gerne auf der Bühne Musik gemacht. Andere haben die Mutterschaft oder Vaterschaft als einen zentralen Daseinsgrund entdeckt, als eine wichtige Quelle künstlerischer Inspiration.

Die Beweggründe für das Schreiben sind jedoch sehr unterschiedlich. Sie reichen von dem natürlichen Gespür für die Sprache ab einem fast ungläubig jungen Alter, von dem Spielerischen bis zur ernsten Notwendigkeit des Wortes und einer intellektuellen Suche, die diese Notwendigkeit begründet. In den intellektuellen Anleihen und Zweifeln gleichen die Autoren einander: Im Moment könnten wir behaupten, dass die französischen Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und amerikanische Schriftsteller zu den wichtigsten Referenzpunkten der Generation gehören, die wir hier zu portraitieren versuchen, auf beiden Seiten des Atlantiks.

Darüber hinaus erscheint vielen von uns – und hier beziehe ich mich mit ein – der Backend-Bereich des Blogs, in dem wir arbeiten, wie die Schalttafel eines Raumschiffs. Die Programmierer haben dem Projekt den Spitznamen „LSD“ verliehen, aus gutem Grund. So bleibt mir nur noch, euch noch einmal auf diesem „Trip“ willkommen zu heißen. Bitte legen Sie die Sicherheitsgurte an!

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Für meine Familie bin ich die Blog-Oma http://superdemokraticos.com/poetologie/fur-meine-familie-bin-ich-die-blog-oma/ http://superdemokraticos.com/poetologie/fur-meine-familie-bin-ich-die-blog-oma/#comments Sat, 12 Jun 2010 08:06:47 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=190 Ich komme aus Costa Rica. Dort wurde ich vor 31 Jahren geboren und wuchs als Stadtkind auf, das Angst vor Insekten und vor der Höhe hat. Ich habe eine riesige Familie aus der unteren Mittelschicht, die alle nicht mehr als vier Stunden Wegstrecke voneinander entfernt wohnen. Ich bin eine der wenigen, die weit weg gegangen sind. Meine Mama sagt, ich sei „lesend zur Welt gekommen“, und ich glaube, das stimmt. Mit zehn Jahren wünschte ich mir eine Schreibmaschine zu Weihnachten, und ich lernte sie mit einer Rage und Verzweiflung zu benutzen, die für meine Eltern etwas beunruhigend waren. Mit der Zeit verwandelte sich mein Computer in meine endgültigere Leidenschaft.

Ich war immer am Schreiben: Postkarten, Theaterstücke, Gedichte, Tagebücher. Alles verlor oder zerstörte ich. Erst als Erwachsene wurde mir bewusst, dass es vielleicht keine allzu gute Idee sei, alles zu verlieren. Im Februar 2001 begann ich, Itzpapalotl.org zu schreiben, einen persönlichen Blog. Ich schreibe ihn noch immer und er bekommt hin und wieder Besuch von Freunden und Verwandten, als sei er eine Blog-Oma, die weit entfernt wohnt und die Dinge immer wiederholt, weil sie vergessen hat, dass sie sie schon erzählt hat.

Aus irgendeinem Grund und zur gleichen Zeit, begann ich, mit Leidenschaft zu arbeiten. Ich arbeitete und lernte wie eine Verrückte. Ich arbeitete als Redakteurin, Übersetzerin, Sozialwissenschaftlerin und Programmiererin. Ich arbeitete in einer NGO, gründete eine Arbeitergenossenschaft, fotografierte, nähte Kleider, begann einen Kochblog und bewaffnete papierene Roboter. Ich bereiste eine Menge Städte, mit dem Flugzeug, mit dem Bus, zu Fuß und auf dem Anhänger irgendeines Lastwagens, immer mit dem Laptop über der Schulter.

2006, während die Spiele der Weltmeisterschaft über die Bildschirme flimmerten, verliebte ich mich. Wenige Monate später zog ich nach San Francisco, Kalifornien, ohne die geringste Ahnung zu haben, was es heißt, in den Vereinigten Staaten zu leben.

Es stellte sich heraus, dass es gar nicht so schlecht ist. Ich lebe in einer kleinen und vielseitigen Stadt, wo sich die Migranten aller Breitengrade versammeln, die verschiedenen Schattierungen asiatischer Kulturen, die afro-amerikanische Kultur, die Chicana-Kultur, die Hippies der 1960er, die Punks der 1980er, die Online-Unternehmer der 1990er; ein unaufhörliches Hin und Her von Menschen und Ideen, von Leben voller Mysterien.

Hier verbringe ich meine Tage damit, über meinen Zwischenzustand nachzudenken, da ich mich noch immer fühle, als ob ich in Transit sei, obwohl schon vier Jahre vergangen sind. Wenn mich niemand sieht, tanze ich in der Küche, gehe in die Parks zum lesen, bis der eisige Nebel aufzieht und morgens schaue ich erneut aus dem Fenster und dort ist es, wie ein Wunder, das Wasser des Meeres.

Übersetzung: Marcela Knapp

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