Televisor – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Unsichtbare Götter http://superdemokraticos.com/laender/peru/unsichtbare-gotter/ http://superdemokraticos.com/laender/peru/unsichtbare-gotter/#comments Tue, 29 Jun 2010 07:22:24 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=331 (Geschichte ist, wie auch die Vergangenheit, ein vages Konzept; die Geschichte verfolgt die Gegenwart und manchmal erreicht sie sie, um sich in einem leidenschaftlichen Kuss oder einem Kampf, in dem alles erlaubt ist, zu vereinigen.)

Mit der Universalgeschichte und der peruanischen Geschichte kam ich erstmals während der Grundschulzeit in Kontakt. Ich erinnere mich an kein einziges Datum einer Schlacht, aber wohl an die Korridore im Nationalmuseum, wo wir uns Huacos (feine Keramikgegenstände), zeremonielle Becher, Webstühle aus der Kultur Paracas (eine präkolumbische Kultur), das Tumi de Oro (zeremonielles Goldmesser einer präkolumbischen Kultur) anschauten. Wo wir die Lebensart prähispanischer Zivilisationen untersuchten, ohne sie zu berühren oder uns anzulehnen. Besonders gern erinnere ich mich an die leer stehende Etage, die verlassenen Ausstellungsräume, wo mein Schulfreund und ich uns so viele Küsse gaben, unterbrochen allein durch die Schritte vorbeigehender Restauratoren und Museumsangestellten.

In Folge der Veröffentlichung des Berichts der Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde kürzlich der Bau eines Museums der Erinnerung beschlossen, um den Tausenden von Verschwundenen aus der Zeit der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Guerilla „Sendero Luminoso“ (Leuchtender Pfad) und dem Militär – und der Bevölkerung zwischen den Fronten – zu gedenken. Viele leisten heute Widerstand gegen das Museum und versichern, es sei besser, wenn wir einfach alles hinter uns lassen.

Ich misstraue nicht den Tatsachen, sondern den Worten, den Absichten, den Interessen, einigen Botschaften an die Nation. Da ich aber die Medien, die über Tatsachen berichten, in Frage stelle, folgt daraus, dass ich mir im Endeffekt fast nichts sicher bin. Heute empfinde ich es eher so, dass wir die Geschichte in eben diesem Augenblick machen. Ich zweifle nicht an den unvergleichlichen Chroniken des Indigenen Guamán Poma de Ayala, dessen Illustrationen bis heute die bildenden Künstler Perus inspirieren und auf eine Sammlung von Zeugnissen zurückgehen, die von der Pracht und dem blutigen Niedergang des Inkareichs berichten. Ich zweifle nicht an der dramatischen Szene, in der ein Geistlicher mit der Bibel in der Hand den Inka-Herrscher Atahualpa dazu drängt, sich im Namen Gottes zu ergeben, woraufhin der Inka den Gegenstand begutachtet und zu Boden wirft, da er ihn für unnütz hält – ein Akt, der den Zorn der Spanier entzündet, die sodann ihre Pferde antreiben und das Feuer auf den Feind eröffnen. Atahualpa wird gefangen genommen. Er füllt einen Raum bis zur Decke mit Gold, um seine Freiheit zu erkaufen. Die spanischen Eroberer aber teilen den Reichtum unter sich auf und richten Atahualpa dennoch hin.

Ich habe das Haus des Lösegeldes in Cajamarca besucht, das so leer ist, dass es strahlt wie kein anderes. Die Götter Perus waren sichtbar: die Mutter Erde, die Sonne, die Berge, der Regen; und die Kultur des Landes war eine orale. Auch heute noch wird in ländlichen Gebieten der Natur Tribut gezollt, die uns ernährt und die sich großzügig und fruchtbar erweisen wird, wenn wir sie respektieren. Die „moderne Welt“ wird sich der Vernunft dieser schlichten Vereinbarung erst langsam bewusst, zu einem Zeitpunkt, in dem die Folgen der Unvernunft bereits nicht wieder gutzumachen sind, während die indigene Bevölkerung bedroht und systematisch missachtet wird, indem die Regierung das von ihnen bewohnte Land privatisiert und an Öl- und Holzunternehmen verkauft, ohne die Bevölkerung zu konsultieren oder zu berücksichtigen.

Verbitterung entsteht aus der langen Geschichte kriegerischer (und fußballerischer) Niederlagen. Jene Älteren, die versichern, die wahre Geschichte, die in keinem Schulbuch steht, zu kennen, werfen uns vor, wir seien immer sehr naiv und ungeschickt gewesen. Andererseits ist das ruhmreiche Imperium der Inkas wie auch die wunderbaren prähispanischen Bauten Anlass zum Stolz. Einige unter ihnen weisen ein solch hohes Niveau der Baukunst auf, dass eine Gruppe begeisterter Wissenschaftler ihre Entstehung Außerirdischen zuspricht.

Aber aus den eigenen Erlebnissen habe ich am meisten gelernt: In den 90er und 00er Jahren, als die Kämpfe sich auf meiner Straße und auf meinem Fernseher abspielten, und ich vor die Entscheidung gestellt war, an ihnen teilzunehmen oder nicht.

Ich lernte, dass der Betrug und die Korruption der politischen Klasse Verdruss und Gleichgültigkeit in der Bevölkerung auslösen. Dass die Medien, Unternehmer, Kongressteilnehmer usw. sich in Versammlungen dem Meistbietenden verkaufen. Diese Versammlungen wurden während der Regentschaft Alberto Fujimoris auf selbstgemachten Videos, genannt Vladivideos, aufgezeichnet, die bis heute unter Interessierten auf dem schwärzesten aller Märkte zirkulieren. Ich lernte, dass das Volk den Diktator wiederwählte, der eine Gruppe Paramilitärs unterstützt hatte, welche sich als Nachrichtendienst tarnte und der dreist das nationale Erbe stahl. Er wurde wiedergewählt, weil er „standfest war und Taten sehen ließ“. Ich stelle das moralische System des Großteils der Wähler in Frage sowie die Fluchthaltung von uns Jugendlichen, die wir in Ermangelung an Alternativen an den Tag legen bis wir vielleicht mit ein wenig Glück eines Tages bereit sein werden, größere und wichtigere Ideale zu verfolgen.

Maxi ist eine Frau, die fast 15 Jahre lang bei uns Zuhause im Haushalt arbeitete. Sie lehrte mich, in Quechua zu singen, sie spielte Gitarre und litt unter furchtbarer Schlaflosigkeit, die schlimmer war als meine eigene. Als ich sie kennen lernte, muss sie ungefähr 16 Jahre alt gewesen sein, ich etwa 6. Sie sagt immer, dass ich mir die Hose falsch herum anzog, ich bezweifle auch das. Die jugendliche Maxi war auf der Flucht vor dem Terrorismus nach Lima gekommen. Sie kam aus Ayacucho, der Wiege des „Sendero Luminoso“ und ohne Zweifel die Zone, die am meisten unter der Gewalt dieser Organisation litt, aber auch unter den Militärs, die die Bevölkerung ohne stichfeste Beweise anklagten, verhafteten und ermordeten. Als Kind erlebte Maxi schreckliche Dinge und sie hatte schmerzhafte und wiederkehrende Alpträume. Nachts studierte sie Journalismus und nach ihrem Studienabschluss hörte sie auf, als Hausmädchen zu arbeiten. Hin und wieder kehrte sie nach Ayacucho zurück, um ihre Mutter zu pflegen, eingeschüchtert durch den Mörder ihres Vater, der sie verfolgte und bedrohte. Maxi kennt ihre Rechte und sie hatte den Mut, den Mörder ausfindig zu machen und anzuzeigen, aber der Prozess war nicht erfolgreich. Jetzt arbeitet sie im Urwald für ein Radioprogramm. Es wird von einer Organisation produziert, die die Koka-Bauern zu einer Umorientierung bewegen möchte. Diesmal ist es der organisierte Drogenhandel, von dem sie bedroht wird.

Das letzte Mal sah ich sie bei einem Konzert. Begleitet von einem legendären Geiger, unterhielt sie gemeinsam mit ein paar anderen Frauen das Publikum mit Musik aus den Anden. Ihre Interpretation von vier Themen war sehr eindringlich, ihre Stimme transportierte große Gefühle, sie schloß die Augen und wog sich im Rhythmus sanft hin und her. Sie ist die einzige Sängerin, die mich zu Tränen rührt, und wenn sie mich weinen sieht, lacht sie und umarmt mich.

 

Übersetzung: Marcela Knapp

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No entiendes la onda! http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/no-entiendes-la-onda/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/no-entiendes-la-onda/#comments Mon, 28 Jun 2010 14:27:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=330 Die Geschichte kam aus dem Fernseher. Sie war schwarzweiß. Sie wurde noch nicht zerschnitten von sprechenden und heulenden Köpfen. Es gab Montagen, es gab in der Hauptsache Originalmaterial und eine wissende Stimme der Analyse. Das Niveau der Dokumentationen, die im dritten Programm liefen damals, war ansprechend für einen Jugendlichen. Es gab eine ganze Dokumentationsreihe zum Spanischen Bürgerkrieg – von dem ich noch nie etwas gehört hatte und den ich faszinierend fand.

Peter Weiss:
„Kultur ist: zu wagen. Lesen zu wagen, zu wagen, an eine eigene Ansicht zu glauben, sich zu äußern wagen –

Severing u Hilferding lösten den Roten Frontkämpferbund auf.
Grzesinski (preuß. Minister des Innern) u Zörgiebel ließen auf die Arbeiter am 1. Mai schießen.
Stampfer verteidigte die Bluttage.
Sozialdemokraten.“
(Notizbücher 1971-1980, 1. Band, S. 233)

Danach folgte eine Dokumentation über den Luftkrieg im 2. Weltkrieg. Dass die deutsche Geschichte schwierig ist, braucht man ja niemandem zu erklären. Die Beschäftigung mit Geschichte, zuerst mehr außerhalb der Schule als innerhalb, zog den ersten Bruch mit dem eigenen Selbstverständnis, mit der eigenen Identität nach sich. Ein unbeeinflusstes Kind hat eine positive, völlig affirmative Beziehung zum Vater- und Mutterland, in meinem Fall änderte sich das sukzessive mit der Geschichte, so wie sie im Fernsehen und in der Schule, in Zeitungen und Büchern dargestellt wurde. In der Folge habe ich gelernt, dem Begriff der Nation mehr als kritisch gegenüber zu stehen. Ich lernte, welches die kleindeutsche und welches die großdeutsche „Lösung“ gewesen war und weshalb sich Bismarck 1866/71 für die kleindeutsche entschied. Ich lernte, dass die Versuche, eine Nation aus dem Volk zu bilden, erst mit dem Wiener Kongress 1815, dann mit der Revolution von 1848 scheiterten, und dass das Deutsche Reich aus einem Krieg entstanden ist. Das Deutsche und das Militärische, eine Verbindung, die lange sehr stark, zu stark war, und die sich hoffentlich mit dem Untergang des Großdeutschen Reiches oder spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges erledigt hat.

Allerdings steht deutsches Militär seit einigen Jahren auf fremden Boden, um mehr oder weniger uneingestanden die „Interessen der deutschen Wirtschaft“ zu verteidigen. Bundespräsident Köhler wurde harsch kritisiert, weil er diese uneingestandene Wahrheit ausplauderte, und trat daraufhin zurück; aber nicht dieser Wahrheit, dieser unfassbaren Wahrheit wegen, sondern wegen der Kritik an seiner Amtsführung. So sieht die deutsche Wirklichkeit im Jahr 2010 aus. Die Dokumentationen im Fernsehen sind auch schlechter geworden. Trotzdem möchte ich kein Kulturpessimist sein und glaube weiterhin an die Lernfähigkeit eines Volkes und seiner Vertreter, so schwer es auch manchmal fällt.

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