Sprache – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Que padre, que madre! http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/que-padre-que-madre/ Mon, 05 Dec 2011 23:05:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6136 Unser Messeblog lag ein paar Tage brach, unter anderem, weil das Internet brachlag. Unterdessen ist viel passiert, aber ein paar Sätze und Einsichten und Begegnungen bleiben. Ein Abschlussbericht.

Oft wurde zu lange geredet, bis der Punkt kam: So wollte ich gerne über die Buchpräsentation der jungen Journalistin Ana Lilia Pérez schreiben, die ihr Aufdeckungsbuch „Das schwarze Kartell“ über die Verbindungen der Drogenmafia zur Benzin- und Ölfirma Pemex auf der 25. Buchmesse in Guadalajara vorstellte. Aber es war wieder eine dieser hier typischen Buchpräsentationen, die damit beginnen, dass rezensionsartige Essays zu dem Buch vorgelesen werden. Was oft spannend ist, aber es dauert eben… Und ich habe nach 45 Minuten den übervollen Saal verlassen, ohne die Stimme der Autorin überhaupt vernommen zu haben. Ähnlich ging es mir bei der Diskussion mit dem Chefredakteur von El País, Javier Moreno, Philip Bennett von der „Washington Post“, Suzana Singer, „defensor de lector“, einer Art Ansprechpartner für die Rechte der Leser, bei der größten brasilianischen Zeitung „Folho“ mit einer Auflage von 400.000 pro Tag, und Alejandro Santos Rubino von der Zeitschrift „Semana“ in Kolumbien. Sie sollten uns davon erzählen, wie sich der Journalismus nach Wikileaks verändert hat, aber erstmal fasste Bennett die Geschichte von Wikileaks auf Wunsch der Moderatorin zusammen, als ob wir noch nie etwas davon gehört hätten. Javier Moreno schaffte es, sein klandestines Treffen mit Julian Assange in Zürich, auf 15 Minuten langzubügeln. Allein Suzana Singer kam zum Punkt: „Folho“ hat nach Wikileaks einen eigenen Kanal eröffnet, durch den Leserinnen und Leser anonym und sicher „denunzieren“ können, was bisher 320mal genutzt wurde und wodurch drei Zeitungsgeschichten entstanden, etwa zur Veruntreuung öffentlicher Gelder. Weitere Erkenntnis: Wikileaks enthielt bisher nicht viel relevantes Material für Lateinamerika, war sehr spezifiziert auf USA und Europa. Und: Die Plattform braucht Journalisten, die die Menge an Information filtern.

Es war also wirklich eine Fiesta vieler vieler Worte, oder, wie die Frankfurter Buchmesse in ihrer Abschlusspressemitteilung schreibt, eine Fiesta des Wortes. Sie gibt alle Zahlen und Fakten bekannt, die in eine Pressemitteilung gehören: 2.500 Menschen hörten dem Auftaktgespräch zwischen Herta Müller und Vargas Llosa zu, auf den 50 Literatur- und Fachveranstaltungen zählte die Messe rund 8.500 Besucher, am deutschen Pavillon präsentierten sich 42 Einzelaussteller, 20 deutsche Verlagsvertreter waren angereist. Die FIL selbst präsentierte mehr als 500 Bücher, darunter 25 Nachwuchsautoren aus Lateinamerika, die „25 Geheimnisse„.

Aber sind Zahlen nicht bloß leere Zeichen für Powerpoints der Marketing, Rights und Sales Manager, die nichts über die unverständlichen Wege der Literatur aussagen? Gar nicht so unverständlicherweise ging es daher in vielen Gesprächen auf den Podien, in den Salons, aber auch auf Parties um die „Macht der Sprache“ selbst, wie ein Slamgedicht von Bas Böttcher heißt, das er auch live vortrug.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=Ydhxo4DyPFc[/youtube]

Es ging um das Sich-Verstehen, das Einhören in eine neue Sprache, um Spanisch oder Englisch, um gemeinsame Lektüren, um Slang, um Schimpfworte, Alltagsverstehen: Im mexikanischen Spanisch bedeutet etwa „madre“ sowohl „Mutter“ als auch „super“, „padre“ bedeutet sowohl „Vater“ als auch… „super“. „Poco madre“ dagegen existiert nur in Kombination mit der Mutter, und das bedeutet dann eben „wenig super“… die Macht des Vaters oder der Mutter? Und wie klänge das auf Deutsch: „Wie Mutter“?

Die Ministerin Cornelia Pieper nannte Deutsch gleich bei der Eröffnung eine „Sprache der Ideen“, eine der zwei Messeleiterinnen der FIL, Consuelo Sáizar, sprach von einer „Brüderschaft des Wortes“, der wir alle angehören und für die die Messe 1987 gegründet worden war – gegen eine Zentralisierung des spanischsprachigen Buchmarkts in Spanien, denn Mexiko sei das Land mit der größten spanischsprachigen Bevölkerung.

Auf vielen Podien mit deutschsprachiger Literatur etwa mit Wladimir Kaminer, Dragica Rajcić, Adam Soboczynski und Saša Stanišić wurde allerdings nicht nur einer Sprache, sondern der Vielsprachigkeit der mehrkulturellen Autoren gehuldigt, die, so erkannte die Moderatorin Sara Lovera López, ein „modernes, eigenes Deutsch“ erfinden. Für den aus Bosnien stammenden Autoren Saša Stanišić ist Sprache wie „Spaghetti“ und „die Autoren machen die Soße“, Herkunft sei für ihn keine literarische Kategorie, genausowenig wie braune Haare, wichtig sei, dass man zwischen seiner doppelten Persönlichkeit eine Brücke schlagen könne, sie nicht als getrennte wahrnehme. Rajcić ließ wissen, dass alle ihre Metaphern im Deutschen aus dem Slawischen kämen, dass sie die „unabgeschlossene Vergangenheit“ des Slawischen nutze, denn im Deutschen gäbe es, auch im Politischen, nur eine „abgeschlossene Vergangenheit“.

Zum Abschluss erlaube ich mir, eine weitere Zahl zu nennen: Deutsch sei, informierte der Leiter der Frankfurter Buchmesse, Jürgen Boos, eine „gateway“-Sprache, denn 40-50 Prozent der Neuerscheinungen seien Übersetzungen, Deutsch sei der größte „Sprachenmarkt“ in Europa. Wenn ein Buch in deutscher Übersetzung erfolgreich sei, würden die Rechte oft auch für andere Sprachen verkauft. Und das ist doch eigentlich eine gute Meldung für die kleinen Sprachen, deren Verschwinden Dragica Rajcić fürchtet, denn mit ihnen verschwänden eigene Weltsichten. Hoffen wir also, dass der spanischsprachige Buchmarkt sich mehr und mehr der gar nicht so großen Sprache Deutsch annimmt!

Tschüss und Danke an unsere Messeblog-Unterstützerinnen und -er Natalia Guzmán, Barbara Buxbaum, Adriana Redondo von In-Kult, an Dieter Schmidt von der Frankfurter Buchmesse, an die super Guadalajara-Begleiter Paty, Vero, Erik, Sasa, Abbas, Holger, Peter Stamm, die Facebook-Agenten Amaranta und Dennis, sowie an die „Tocinos“ von Sexto Piso!

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Die Kinder des Netzes http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-kinder-des-netzes/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-kinder-des-netzes/#comments Thu, 17 Nov 2011 08:01:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5828

Die Wege des Lebens sind nicht diejenigen, die ich erwartet hatte, sie sind nicht so wie ich es gewollt hatte…
Vallenato

Auf der 73. Straße in Bogotá fährt ein Bus nach San Blas und nach Germania. Als ich diesen sah, musste ich einfach lachen, denn ich glaube, ich hatte, ohne es zu wissen, vor vielen Jahren genau diesen Bus genommen. In einer anderen Stadt, mit einem Ex-Freund, der Blas hieß und mit dem ich in Potsdam, Deutschland, landete. Im Juli 2012 gedenke ich den 15. Jahrestag dieser ersten Reise. Seitdem überquerte ich viele Male den Atlantik.

Praktisch meine gesamte Familie lebt immer noch in den Anden und ihren Ausläufern, verteilt zwischen der Hauptstadt meines Landes, La Paz, und Tarija, im südlichen Tal, an der Grenze zu Argentinien, aus dem wir eigentlich alle stammen. Dort liegt die Wiege der Galarzas, der Ort, den mein ganzer Clan in sentimentaler Imagination in sich trägt, obwohl wir möglicherweise niemals dort gelebt haben. Das ist es, was beispielsweise meinen beiden Neffen passierte, den beiden Kinder, die fröhlich in London aufwachsen. Die beiden kleinen englischen Kids, die ich so sehr liebe.

Ich kann sie mir nicht vorstellen, die Zeit, in der der Kontakt zueinander auf dem Rücken den Maultiere aufrechterhalten wurde, anhand von Briefen, die Jahrhunderte brauchten, um anzukommen, wenn sie denn eines Tages ankamen. Ich weiß von Freunden, dass sogar Anfang der 1980er noch nicht einmal das Telefon ein sicherer Weg war, um den Kontakt mit der Familie zu halten. Die Telekommunikation war mangelhaft, im Hintergrund hörte man die Geräusche der Welt und die Stimmen derer, die man tatsächlich hören wollte. Sie mussten sich die Seele aus dem Leibe schreien, um sich in diesem Chor der Störgeräusche, diesem ununterbrochenen Lärm, Gehör zu verschaffen.

Ich dagegen hatte das unglaubliche Glück in der Offenheit der Welt des Internets aufzuwachsen und mein Ausländerdasein wird erträglich, weil ich mit meiner Mutter bei einem Konferenzgespräch Kaffee trinken kann. Ich kann sie sehen und hören, mit ihr eine Zigarette rauchen, mehrmals die Woche. Es ist erträglich, weil ich sehen kann, wie meine Neffen aufwachsen, und weil ich mit meiner Schwester mit einem Glas Wein zu Abend essen kann, immer, wenn uns danach ist. Ich kann sie zwar nicht anfassen, bin aber dennoch ein Teil ihres Lebens. Ich bin der Kopf auf dem Computer, der versucht sie aus der Ferne zum Lachen zu bringen. Und die Kleine, mein Augenstern, erkennt in dem typischen Windowsgeräusch, wenn der Rechner hochfährt, ihre Tante oder ihre Oma wieder, und sie hat überhaupt keine Hemmungen diesem flachen Bildschirm herzliche Beweise ihrer Liebe zu erbringen.

In diesem Monat war unser Thema Neue Welt im Netz: Liebe, Arbeit, Freiheit, und ich denke, es sind die Ausländer in aller Welt, egal, woher sie stammen, die am meisten dazu zu sagen haben. Ich werde niemals den überraschten Gesichtsausdruck meines Mitbewohners vergessen, als er eines Nachmittags, vor ein paar Monaten, meine Mutter begrüßen musste. Er, der daran gewöhnt ist, dass seine Eltern nicht jederzeit, wann immer sie wollen, zu ihm nach Hause kommen können, weil sie in Bielefeld wohnen und weil sie nicht mit den neuen Medien vertraut sind, sprang vom Stuhl in der Küche auf, um seinen Schlafanzug zu verstecken. Er, der nicht daran gewöhnt ist, dass der Computer so ein essentieller Teil seines sozialen Lebens ist, verstand letztendlich woher meine Unabhängigkeit kommt. Denn ich muss niemanden in der Realität sehen, ich lebe im ständigen Kontakt mit meiner Familie, meinen Freunden und Arbeitskollegen, wo auch immer sie sein mögen.

Ich bin nicht von einem physischen Raum konditioniert, die meiste Zeit über nicht einmal von einer Sprache. Ich fließe zwischen der digitalen und der analogen Realität hin und her, zwischen dem, was in Bolivien passiert, und dem, was in Deutschland los ist, und auf meine Art und Weise bin ich ein aktives Mitglied beider Gesellschaften. Und genau wie ich sind das auch drei Millionen Bolivianer, die in der ganzen Welt verteilt leben. Ein Viertel der Bürger meines Landes lebt zwischen Buenos Aires, Virginia und Madrid. Die Überweisungen, die sie schicken, sind die drittgrößte Einnahmequelle meines Landes. Unsere Ausländer und ihre bescheidene Lebensweise sind effizienter für die Wirtschaft als die Entwicklungshilfe, wesentlich effizienter. Und unsere Kinder konstruieren ihre neuen Identitäten. Emotionale Zugehörigkeiten, die wir möglicherweise noch nicht in ihren gesamten Dimension wahrzunehmen fähig sind.

Ich kann mir vorstellen, dass es überall an den Universitäten Pflicht werden wird, jeweilige soziologische Studien durchzuführen, um die Generation zu verstehen, die derzeit mit Breitband und mit doppeltem Herkunftsort heranwächst, ohne eine gemeinsame Bezugssprache, die wahren Bürger dieser Welt.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Die Mauer und die Sprache http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/die-mauer-und-die-sprache/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/die-mauer-und-die-sprache/#comments Mon, 05 Sep 2011 07:04:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5018 Eine Mauer trennt meine rechte Hemisphäre von der linken. Ich erinnere mich an den Moment, als sie sie bauten. Ich schlief auf einem Sofa, war wahrscheinlich gerade auf dem Rückweg aus einem Nebel. Sie betäubten meinen Körper und traten in meinen Kopf ein. Es waren kleine, weiße Arbeiterchen, jeder von ihnen trug eine gestickte Nummer auf seiner Schürze. Sie stammten aus kommunistischen Gesellschaften, Verleumder der Geistes, und aus kapitalistischen Gesellschaften, die hartnäckig sogar die Sonne selbst in Geld verwandeln wollten. Sie hatten die passende Arbeit gefunden: Erbauer von Mauern.

Mauern, die Sprache von Ideen trennen sollen, Körper von Genitalien, Himmel von Höllen. Sie bieten uns Modelle an, oder Glaubensbekenntnisse oder Kulte. Sie werden dafür bezahlt, Mauern zu bauen, die uns von uns selbst trennen.

Diese Mauer ist nun in meinem Kopf. Der Fanatiker kommt, sucht mich, um mir eine Stelle in einer neuen Sekte anzubieten.

Der Pessimist versucht mich davon zu überzeugen, ein paar giftige Pillen zu schlucken, um dem Leid ein Ende zu bereiten. Er sagt zu mir: „Schließlich wirst du die Mauer in deinem Inneren zerstören und an ihrer Stelle werden sie drei neue erbauen.“

Dann kommt der Wissenschaftler: „Erforsche die zarte Struktur deiner Mauer und du wirst schließlich ihre Gründe und ihr Dasein verstehen. Du könntest dich diesen außergewöhnlichen Architekten anschließen.“ Woher kommt all dieser Psycho-Terror? Wie ist es nur möglich, dass ich meinen Kopf soweit geöffnet habe, dass diese Mauer-Bauer ungestraft ihrer Wissenschaft nachgehen können? Wut steigt in meinem Inneren auf, danach Kälte und Verlorenheit. Sie haben mich an den Feind ausgeliefert, an das Gespenst, das jede halbe Stunde seinen Meinung ändert. Und dieses Gespenst: Was für eine Technologie benutzt es, wieso kennt es mich so gut, dass es mich zwingt, dahin zurückzugehen, wohin ich keinerlei Intention verspürte zurückzukehren?

Ich fand mich in einem Zimmer mit einer Deckenhöhe von etwa fünfeinhalb Meter wieder. Und ich lernte ein Alphabet, eine Sprache, sah ein Loch und schaute durch:

Der Psycho-Terror bemächtigte sich der Wolken und der Fenster und der Schulen. Große Mauern drangen in die Augen der Schlafenden ein und die Depressiven beschrieben sie und ängstigen sich.

(Die Seele treibt auf einer Straße, die „Doppeldeutigkeit der Evolution“ heißt.) Bei meiner Rückkehr aus dem Nebel konnte ich auf einige zusätzliche Vorfahren bezüglich des Geistes zählen, will heißen, ich konnte „auf neue Augen“ zählen. Leon Felipe und Arthur Rimbaud gaben ihnen Begleitschutz.

„Der Terror quoll plötzlich aus dem Schoß eines Schlosses, das ich einsam als Kind bewohnte. Enge Familienangehörige trieben mich zu Abenteuern im Inneren des Schlosses an.“

Was mach ich nun mit dieser Mauer?

Ich sprenge sie mit einem Schrei, der Blut auf die Blumen und Menschen spritzt?

Angst erfüllt mich bei dem Gedanken den Erbauer persönlich treffen zu müssen. Er nistet in einem Schloss nahe dem großen Meer der Mehrdeutigkeit. (Ich trennte die Wellen von einander, faltete sie wie die Ecken des Papiers.) Der Architekt konnte nicht gefunden werden. Er war gerade auf der Jagd, in einem dichten und deprimierten Wald.

„Der Architekt ist sich selbst überdrüssig“ ertönte es an der Spitze der historischen Avantgarde.

Nun hatte ich das Gesicht eines Maulwurfes und begann, Wasser auf die einzelnen Steine der Mauer zu zeichnen. Ich sah liegende Männer, manche mit den Zeichen der Pest auf ihren Körpern.

Meister und Sklaven sah ich beim Pilgerzug entlang der Mauer. Eine Menschenmenge steinigte einen Dieb, und dahinter, auf einem Stuhl saß ein Weiser, ein heiliges Buch lesend.

Die Sonne warf parallele Schatten auf die Welt, und ich wusste von den Siedlungen entlang der Mauer und von anderen Büchern entlang der Mauer.

In den kurzen Pausen meines Durstes wuchs meine Liebe unter meinen Rippen, und ich begriff, dass die Mauer, die mich von mir selbst trennt, eine Sprache war, die ich bisher noch nicht gelernt hatte.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Lügen verleiht Flügel http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/lugen-verleiht-flugel/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/lugen-verleiht-flugel/#comments Thu, 09 Jun 2011 10:12:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4045 Und wohin fliegt man dann? Los Superdemokraticos will mit dem Monatsthema „Lüge“ über aktuelle Unwahrheiten sprechen, zwischen Paaren, Parteien, Populisten.

Lügner geben sich schnell zu erkennen. Denn Lügen haben kurze Beine und lange Pinocchionasen. Lügner verdrehen die Augen, schauen den anderen nicht an, blinzeln häufig, haben einen starren Blick, verschränken die Arme aus Abwehr, kratzen sich im geröteten Gesicht, nässen ihre Lippen und lächeln grundlos. Sie hängen wie Marionetten an ihrer eigenen fixen Idee. Und wie alles, was irgendwie als „böse“ gilt, übt die Lüge eine unheimliche Faszination aus. Sie ist des Teufels, der ihr Vater war, sie verführt mit süßen Schmeicheleien und erlernbarer Rhetorik: „Du bist der Stern meines Lebens“ etcetera etcetera. Gebrannte Kinder können hier nur lachen, denn sie sind nicht so einfach zu manipulieren. Wenn der Glauben an die Worte des anderen enttäuscht wurde, helfen nur noch Taten wie „Immer da, wo du bist, bin ich nie“ (Element of Crime). Denn das Gegenteil, ein totaler Faktencheck, ein „Bildblog für dich“, das akribisch deine persönlichen Fakten bei anderen überprüft, geriete zum Privacy Showdown.

Schwieriger wird es, wenn die Lüge aus dem Privaten in das Öffentliche schwappt. „I never had a sexual relation with that woman“, erklärte Bill Clinton vor Gericht. Für ihn hätte eine sexuelle Beziehung erst dann bestanden, wenn nicht nur sein Schwanz im Mund von Monica Lewinsky, sondern er als Gesamtmensch einen aktiven Part übernommen hätte. Es kommt, wie bei so vielem, auf die Interpretation an. Bis vor einem Jahr hieß der „Krieg in Afghanistan“ in der deutschen Öffentlichkeit noch „bewaffneter Konflikt“. Der damalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg bezeichnete im April 2010 als einer der ersten die Situation als „kriegsähnliche Kampfhandlung“. Danach stürzte er allerdings über eine andere Lüge: Er vertuschte die Quellen seiner Doktorarbeit, die sich als ein aus Fremdzitaten zusammengeschustertes Plagiat entpuppte, und musste schließlich als Lügenbaron zurücktreten.

200mal pro Tag lügt der Mensch jeder Couleur, hat der Alltagspsychologe John Frazer herausgefunden. Damit ist klar: Lügen macht das Zusammenleben erträglich. Die so genannte soziale Lüge ist eine Konvention, die zu anderen Zeiten Anstand, Höflichkeit oder Aufrichtigkeit hieß. Mit dieser bürgerlichen Tugend wurden Verwürfnisse verschleiert, Beleidigungen verhindert. Friedrich Nietzsche nennt sie in seinem Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ von 1872 einen „Friedensschluss“, der den Krieg aller gegen alle verhindert.

Dieser Friedensschluss bringt etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes rätselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an „Wahrheit“ sein soll, das heißt, es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden, und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Kontrast von Wahrheit und Lüge.

Die Postmodernen wissen genau, dass es so etwas wie die großgeschriebene Wahrheit nicht gibt. Ebensowenig wie die „Afghanistan-Lüge“, die „Biosprit-Lüge“, die „Euro-Lüge“. Die Lüge ist eine von vielen Möglichkeiten der sprachlichen Erfassung der Welt anhand einer bestimmten Ideologie. Lügner wollen täuschen, Gelder verschwinden lassen oder vermehren, Macht gewinnen, Fehler verheimlichen. Wollen am Ende vielleicht einfach nur geliebt werden, von einer Person, der Geschichte, dem wie auch immer gearteten „Betrieb“, der Familie, Freunden oder von einem Wahl-Volk. Jonathan Swift nimmt in seinem Essay „The Art of Political Lying“ (1729) die politische Elite seiner Zeit aufs Korn und identifiziert sie anhand ihrer schnellen Wirkung: „Es kommt oft vor, dass eine Lüge nur eine Stunde geglaubt wird, dann aber hat sie ihr Soll erfüllt. … Falschheit fliegt, die Wahrheit humpelt hinterher.“ Jede Lüge hat Flügel, aber sie fliegt nur soweit, wie jemand ihr glaubt. Fliegt die Lüge auf, sind die Lügner meist schon woanders, nicht dort, wo Federn gelassen werden.

Die Lüge ist immer spannend, ist Erzählung. Sie füllt Lücken, versucht, Zusammenhänge herzustellen, wenn da keine sind. Manchmal heißt sie Literatur oder als Krankheit „Konfabulieren“. Interessanterweise ist Lügen schwieriger als Nicht-Lügen: Neurophysiologen haben herausgefunden, dass das Gehirn stärker beansprucht wird, wenn man sich doppelt, also auf das Original und den Schein, das alternative Gedankengebäude, konzentiert. Moralisch bewertbar ist das erstmal nicht, moralisch verwerflich kann höchstens die Haltung und die Absicht sein, die der Lügner oder die Lügnerin haben, sagt Adorno in Jinn Pogys Video. Lügner nehmen ihre Gegenüber nicht für voll, degradieren sie, indem sie sie im Unklaren lassen. Immanuel Kant diskutiert lieber gar nicht erst über die Wahrheit, sondern über die Wahrhaftigkeit. Wer diese Pflicht nicht erfülle, füge der Menschheit, so Immanuel Kant, ein Unrecht zu.

Ich glaube das auch. Diese Wahrhaftigkeit muss es in persönlichen, juristischen, ökonomischen, politischen Beziehungen geben. Nur auf dieser Basis sind wahrhaftige Beziehungen überhaupt möglich. Der einzige Ort, wo die Wahrhaftigkeit außer Kraft gesetzt werden kann, ist die Kunst. Die verleiht ja bekanntlich auch Flügel.

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Auf die eigene Stimme verzichten http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/auf-die-eigene-stimme-verzichten/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/auf-die-eigene-stimme-verzichten/#comments Wed, 03 Nov 2010 15:15:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3110 Vier Monate lang war ich ein Architekt der Wörter. Ich war mir dessen natürlich nicht von Anfang an bewusst: eine Besprechung Ende Mai in einem Berliner Café, ein Projekt, das noch in den Kinderschuhen steckte, die Gründungsversammlung von den Superdemokraten, während der Arbeit und Autoren an Menschen verteilt wurden, die mir bis dahin unbekannt waren, Weizenbier und gelegentlich eine Zigarette. Chronogramme, Nachnamen, die Monatsthemen, Postadressen, Protokolle, Abgabefristen.

Und ein immenses Brachland, das bebaut werden konnte.

(Es sollte nicht das einzige in diesem Sommer sein. Aber das erfuhr ich erst später.)

Von diesem Tag an begann ich – ohne es zu wissen – meinen Beruf umzustrukturieren. Seit 10 Jahren bin ich Söldner der Wörter. Redakteur nennen sie das. Fernsehredakteur, Redakteur von Werbung – weil man die Wahrheit verschleiert, wird es kreativ genannt –, Online-Marketing-Redakteur, Redakteur von Inhalten. Wie alle Redakteure verkleiden wir unseren Stand mit dem Wunsch, Schriftsteller zu sein. Dem Wunsch, diesen Roman, der voller Ekel in einer Schublade neben unzähligen Ablehnungen von Verlagen schläft, zu veröffentlichen. Ablehnungen von Verlagen, die sich nicht einmal die Mühe gemacht haben, ihn aufzuschlagen. Briefe voll leerer Worte. Immer wieder die Worte.

Von Juni an verwandelte ich mich in einen Architekten. Unbeabsichtigt. Zuvor hatte ich Nichtigkeiten und formlose Romane, Artikel und Sätze übersetzt: jener Teil vom Universum, der mir entsprach; und über meinem Kopf hingen die Worte eines toten Mannes. Stefan Zweig, der neben seiner eigenen fünf weitere Sprachen lernte, verteidigte die Übersetzung als einen notwendigen Schritt für den Schriftsteller. Einem Werk dienen, sagte er:Wenn ich heute einen jungen, noch unsicheren Schriftsteller über den Weg beraten müsste, den er einschlagen soll, würde ich versuchen, ihn davon zu überzeugen, zunächst als Schauspieler oder Übersetzer eines größeren Werks zu dienen.

Und ich, da ich nicht die Gewohnheit habe, den Toten zu widersprechen, machte mich zum Architekten, weil es meine Arbeit wurde, Brücken zwischen Sprachen zu bauen.

Ich lernte viele Dinge. Von den Autoren, die ich übersetzte. Von ihren Überlegungen. Von den immensen Unterschieden, die Welt wahrzunehmen, je nachdem, in welcher Sprache sich ihr Denken formte. Aber vor allen Dingen lernte ich von mir selber. Von der Demut, auf die eigene Stimme zu verzichten. Davon, im Akt der Übertragung von Worten anderer Menschen zu verschwimmen. Einen großen Teil meiner Arbeit machte ich diesen Sommer, während ich durch Spanien reiste. Viele tausende von Kilometern in wenigen Wochen. Aus dem Zugfenster sah ich Worte, Telegrafenpfähle und Waldbrände vorüberziehen. Ich verschwand von den Orten. Die Worte anderer trug ich immer mit mir herum. So sehr, dass ich mit den Worten von Claudia Rusch oder Nacho Vegas sprach, wenn ich mich mit meinen Freunden traf. Versteh, dass an diesen Ort ich nicht zu gelangen strebte, sagte ich, statt um ein Glas Wein oder das nächste Ticket für eine andere Stadt zu bitten.

Und dennoch, die Autoren begleiteten mich, und es war keine schlechte Gesellschaft. Nun verabschieden wir uns voneinander, und erneut bleibe ich mit meiner Stille und meinen Worten zurück. Es wird ein wenig dauern, bis ich mich wieder an meine Stimme gewöhnen werde. Aber letzten Endes geschieht im Leben alles oder fast alles auf eine andere Art und Weise.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Titel (Deutsch) – Titel (Español) http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/titel/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/titel/#comments Tue, 19 Oct 2010 11:55:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2969 Es ist ja nun Zeit, Bilanz zu ziehen. Die Welt dreht sich, und nun dreht sie sich fortan fort von einem wunderbar geruhsamen Sommer zwischen Studium und Beruf, in den sich die Arbeit an diesem Blog biographisch hervorragend einpasste. Schon ist man Arbeitnehmer und Gewerkschafter, schon blickt man sorgenvoll auf das Konto und unsicher in die Zukunft, und schon findet man sich nicht mehr bereit, das reine Denken über das reine Denken zu betreiben, sondern fragt sich nur noch, welche der bestehenden Freundschaften, zu denen keine einzige interkulturelle zählt, trotz deutlich vermindertem Freizeitaufkommen fortgesetzt werden soll.

Man verblödet also und irgendwann wird man, wenn die eigenen Kinder einen als rückständigen, chauvinistischen Kleinstadt-Spießer mit null Sozialkontakten und der Weltgewandtheit eines Bielefelder Senioren enttarnen, auf diese goldene Zeit (weniger auf einzelne Texte) verweisen können und sagen: „Seht her, es gab Zeiten, da stand euer Papa mit der ganzen Welt im Austausch. Kluge Menschen aus Mexiko, Argentinien und Bolivien diskutierten mit ihm über nationale Historiographie und Fragen der Identität in einer beweglich gewordenen Welt.“

Wenn die Welt eine UNO-Vollversammlung ist und der Computer ein sensibler Dolmetscher …

Wenn die Kinder halbwegs Hirn haben, fragen sie dann, was dabei rumgekommen ist – und bringen ihren Erzeuger damit in schwere Verlegenheit: Hat er sich denn etwa jemals für die anderen internationalen Blogger oder die Leser dieses internationalen Blogs interessiert? Nicht wirklich, auch wenn manches interessant und manches bedenkenswert erschien – letztendlich war die Kommunikation zu mühsam. Denn, so würde man in der Rückschau zugeben müssen: Zwar wurden die spanischprachigen Texte im Deutschen lesbar gemacht (und umgekehrt), doch für einen wirklichen mediengemäßen Dialog fehlten Geld und Technik.

Und wer weiß, vielleicht werden die Kinder, die ihren Vater für ein Fossil halten, den schon ganz selbstverständlich finden, wird er doch genau in dem Moment möglich, in dem Echtzeitübersetzungsmaschinen Chat-Beiträge derart gut in andere Sprachen übertragen, wie es jetzige Übersetzungs-Algorhythmen nicht einmal mit fixiertem Textmaterial ansatzweise vermögen. Wenn die Welt eine UNO-Vollversammlung ist und der Computer ein Simultandolmetscher (ein guter, sensibler, einsichtsvoller mit einem Händchen für die stimmige Übertragung kultureller Codes), dann wird überhaupt so etwas Ähnliches möglich sein wie ein interkultureller Dialog. Dann irgendwann werden auch über Sprachräume hinweg Horizonte im Dialog verschmelzen können.

Manchmal möchte man verzweifelt „Argh!“ rufen.

Bis dahin plagt man sich mit Substituten wie Weltsprachen: Wenn fünf Nicht-Muttersprachler um einen Tisch sitzen und Englisch parlieren, möchte man sehr laut gähnen, und wenn 20 Blogger und ihre Leser um ein Blog sitzen und trotz allen guten Willens nicht wirklich zueinander finden können, dann möchte man verzweifelt „Argh!“ rufen. Was mache ich aus den spanischen Reaktionen zu meinen (in jeder Hinsicht sehr deutschen) Beiträgen über Schuldkultur, Auschwitz und deutsche Identität? Die Übersetzungsmaschinen können einem zwar eine Ahnung davon geben, was das verhinderte Gegenüber bewegt. Trotzdem bedeuten sie zugleich eine unsachgemäße Surrealisierung: Wenn da steht „leider, und mit allem Respekt, es gab nur einen Holocaust, der Grenze ein verdammt Jukebox, die nie aufhört, warum so blau sind unsere Ziele können wir nur beten, nach San Antonio, wenn Neal Cassady kam, hier zu sterben, um zu immigrieren“, dann mutet das zwar in höchstem Maße lyrisch an, trotzdem bleibt darüber hinaus eben nur eine Ahnung vom semantischen Inhalt und der Grenze zwischen den USA und Mexiko und das kann’s ja wohl nicht sein.

Freuen wir uns also auf eine Zeit, in der es keine Sprachen mehr gibt; in der Landessprachen nur noch gewohnheits- und neigungsmäßige Dialekte sein werden, die für alte Provinz-Spießer, wie ich dann einer sein werde, eine ansonsten gänzlich virtuell gewordene Grenze zwischen Virtualität und Realität markieren. Dass wir dann sentimental werden, steht außer Frage. Immerhin wird dann das, was hier versucht wurde, nichts Besonderes mehr sein. Die ungewohnte Zuneigung, die es speziell für einen jungen Autor deutscher Zunge bedeutet, von nichtdeutsch sozialisierten Lesern gelesen werden zu können, der faszinierte und befremdete Blick auf die Übersetzung der eigenen Texte, den wird es nicht mehr geben. Alles wird Alltag sein, die Superdemokraten waren ein Fest. Danke dafür!

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Als Juan Gelman die Mystiker las http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/als-juan-gelman-die-mystiker-las/ Tue, 12 Oct 2010 07:26:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2838

Der Dichter Juan Gelman wurde 1930 als Kind russisch-jüdischer Migranten in Buenos Aires geboren und gehörte der Dichtergruppe Pan Duro (Hartes Brot) an. Außerdem arbeitete er als Journalist. 1975 ging er wegen der argentinischen Militärdiktatur ins Exil, sein Sohn wurde entführt und getötet, ebenso dessen schwangere Frau. Über einen Jesuitenpater in Rom erfuhr Gelman „The child was born“. Heute lebt Gelman in Mexiko. 2007 erhielt er den Premio Cervantes. Wir fragten ihn nach der Rolle des Intellektuellen heute, aber er wollte dazu keine Auskunft geben. Warum, erklärt unten einer seiner Leser. Der Mitschnitt des Podiumgesprächs ist leider sehr leise, aber wir wollten es euch nicht vorenthalten.

„Gelman ist ein Mann der Linken. Er ist ein Mann, der für die Linke seinen Dienste geleistet hat und seiner persönlichen Einstellung konsequent treu geblieben ist. Er hat beispielsweise nie Gewalt unterstützt. Ich glaube, er will über viele Themen seine Meinung nicht offen kundtun, denn er hat Angst, dass man seinem Beispiel folgt. Er versteht, dass junge Menschen – die 16 oder 20 Jahren alt sind – dieses oder jenes tun könnten, weil er das so gesagt hat. Das könnte sehr gefährlich sein, und von diesem Gesichtspunkt aus, ist er verantwortlich für das, was er sagt. Und er will diese Richtung nicht einschlagen. Nur als Leser kann man erfahren, was er denkt.“

Pablo Alfonzo, argentinischer Lektor und Besucher der Frankfurter Buchmesse

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Mäuschen in der Säule http://superdemokraticos.com/themen/burger/mauschen-in-der-saule/ Mon, 11 Oct 2010 08:56:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2857

Dieser Text ist der Mäusefamilie gewidmet, die an der Hauptwache in Frankfurt in einer Säule lebt, mit etwa 14 Mäuschen-Kinderchen. Hektische und putzige Nachtarbeiter im Kollektiv. Dieser Text ist folglich den Diminutiven gewidmet, die Zaubertricks gegen Superlativen.

Dieser Text ist auch der Sprache gewidmet, mit der ich in den vergangenen Tagen kommuniziert habe, die mich unter spanischsprachigen Freunden in eine mir manchmal unangenehme Fremdheit trägt, weil ich die Sprache eher zufällig durchs Leben, nicht in der Schule gelernt habe. Ich nenne diese Sprache „espanol falso“, Falschpanisch. Das ist die pseudomigrantische Währung, die ich unter der Zunge trage.

Frische Äpfel von meinem Brandenburger Bauern, Notizblock, Kamera, ansonsten eine leere Tasche. Dies war nicht meine erste Frankfurter Buchmesse, sondern meine fünfte. Ich fühlte mich vorbereitet. Aber dann kam, als ich die unendlichen Regale sah, eine neue Angst über mich, eine Angst, die ich bisher noch nicht erlebt hatte und die vielleicht mit meiner Rolle als Superdemokratin zu tun hatte: Wer soll das lesen? Ich nicht, niemals. Und selbst, wenn ich eine wohlüberlegte Auswahl träfe, wann könnte ich dann noch schreiben, geschweige denn handeln? Der Teufelskreis der Leser-Schreiber-Bürger lähmte mich zunächst.

Aber zum Glück traf ich viele andere Leser-Schreiber-Bürger auf Gängen, an Ständen, auf Parties, Menschen, die Bücher lieben und klauen und ihre ganz privaten guten Bücher, diese kleinen Geistesbomben, weitertragen oder selbst gestalten, wie die unermüdlichen Eloisa Cartoneras. Die Bomben-Metapher ist geklaut; der unabhängige argentinische Verlag Clase Turista hat bereits ein Buch mit Zündkabel gestaltet.

Ich, als Säulenmensch. Foto: Viktor Nübel

Unabhängige Verlage, ob in Argentinien oder in Deutschland, stellen unter vollem Einsatz ihrer Person und Persönlichkeit solche relevanten Kunstobjekte her, intellektuelle Eingreiftruppen auf dem oft doch sehr gleichgeschalteten Markt. Sie treffen „Entscheidungen für die Zukunft“, wie es Sergio Parra, vom chilenischen Verlag Metales Pesados ausdrückte. Ich fühle mich schon ein wenig heuchlerisch, das jetzt auf ein Blog zu schreiben, aber die „literarische politische Theorie“, die alle Autoren von Los Superdemokraticos in den vergangenen vier Monaten virtuell entwickelt haben, soll es auch in ein paar Monaten gedruckt geben. Wir gehen einfach mal rückwärts: erst online, dann offline. Erst digital vernetzen, dann physisch verbreiten.

Bei der Präsentation des „2010 Ranking of the Global Publishing Industry“ hörte ich mir an, was die großen Konzerne in der Zukunft vorhaben. Trotz der Finanzkrise geht es, so erfahre ich, der Verlagsbranche nicht allzu schlecht, denn die digitalen Märkte boomen, ob in den USA, Spanien oder Deutschland – wie ist das in Lateinamerika?? Die Verlage machen keinen Unterschied mehr zwischen digitalen und, wie sie sagen, „physischen“ Büchern, einzig die Vermarktungswege wären unterschiedlich, hier kommt es auf die Vertriebswege an, aber auch um Zusatzservices wie Empfehlungen, nicht nur nach Algorhythmen. Aha, sag ich da, es geht um menschlichen Austausch. Carolyn Reidy vom US-amerikanischen Großverlag Simon & Schuster macht bei dieser Veranstaltung die poetischste Aussage: „Es werden sich neue Ebookformate entwickeln, aber wir haben sie noch nicht entdeckt. Das macht die nächste Generation, sie haben andere Gehirne als wir.“ Das kann ich bestätigen. Nach dem Aufstehen lief aus meinem linken Auge eine Wasserspur wie aus einer Tränenmaschine. Als ich in der Apotheke Tropfen kaufen wollte, sagte ich: „Es sieht so aus, als ob ich weine, aber ich weine nicht. Mein Auge macht das einfach so.“ Das kommt bestimmt vom Messeklima. Bücher wie Mäuse sollten auch mehr an die frische Luft!

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Meine deutschen Worte in einem Café in Berlin http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/meine-deutschen-worte-in-einem-cafe-in-berlin/ Thu, 07 Oct 2010 06:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2339 Ich stelle mir vor, dass jemand in einem Café in Berlin eine Zeitung (oder ist es eine Zeitschrift, verzeiht, aber ich bin zerstreut) auf einem Tisch liegen lässt. Bevor die Kellnerin sie in den Müll schmeißt, wirft sie einen mürrischen Blick auf die Zeitung. Sie ist müde: So viel Tassen sind abzuräumen, so viele Aschenbecher zu leeren. Doch auch so erweckt der Titel, in dem von schwarzen Puppen und Angosturabitter die Rede ist, ihre Aufmerksamkeit. Sie sieht meinen Namen dort stehen, sie findet, dass er komisch klingt. Ist Lara nicht ein russischer Name? – überlegt sie, bevor sie meinen Artikel liest. Sie liest schnell, eine flüchtige Lektüre, damit niemand bemerkt, dass sie liest, anstatt Tische abzuwischen. Sie lacht kurz. Am Ende wirft sie die Zeitschrift (oder ist es eine Zeitung?) weg und so enden meine in die Sprache Goethes übersetzten Worte in einem großen Mülleimer, angereichert mit Zigarettenstummeln, Brotresten, Kaffeetropfen. Naja, wahrscheinlich wird der Müll getrennt, und so finden sich meine Zeilen zwischen benutzten Servietten, Altpapier und zerrissenen Postkarten wieder. Zur selben Zeit bin ich, auf der anderen Seite des Globus, unglaublich froh, dass ich das Glück gehabt habe, an einem multikulturellen, globalen, transnationalen, Internetprojekt  teilnehmen zu dürfen, durch welches meine Worte in einer anderen als meiner Sprache gelesen werden konnten. Als ich 15, vielleicht 16 Jahre alt war, habe ich „Gruppenbild mit Dame“ von Heinrich Böll gelesen und beschlossen, dass er mein Lieblingsschriftsteller sein würde, auch wenn ich nur dieses eine Buch gelesen hatte (mit 15 Jahren sind alle Entscheidungen kategorischer Natur und so brauchte ich sie nicht lange hin und her zu wälzen). Seit diesem Moment haben sich deutsche Straßen, bestimmte deutsche Namen und ein paar Blumen wie auch eine übersetzte deutsche Syntax in meiner Vorstellungswelt eingenistet. Es war eine unglaubliche Erfahrung, mich in der Sprache von Böll zu lesen oder dies zu glauben.

Dieses globale und plurale Internetprojekt hat es möglich gemacht, dass meine Texte, auch in meiner eigenen Sprache, jenseits meiner unmittelbaren Umgebung von einem räumlich entfernten und in sich sehr unterschiedlichem Publikum gelesen werden konnten. So wie es auch ermöglicht hat, dass ich hervorragende, mir unbekannte lateinamerikanische Autoren lesen konnte. Die heitere Tilsa, die ultrapoetische Lena, die intellektuelle Lizabel, die leidenschaftliche María. Von den Jungs ganz zu schweigen! Mein Landsmann Leo Felipe Campos ist eine kleine „Perle“, ich bin sein erklärter Fan. Viele Intellektuelle, die über Migrationen, Exil, Bewegungen, Irrungen, Identitäten und sonstige Kleinigkeiten nachdenken, sagen immer wieder, dass die Heimat die Sprache ist. Und dieser Raum hat gezeigt, wie 15 so unterschiedliche Personen keinerlei Übersetzung unter einander benötigten, weil sie einer Sprache entsprangen, die sich zwar verästelt und verschiedene Farben annimmt, aber dennoch ein und dieselbe bleibt. Ich mochte es nie, über Lateinamerika als einer Einheit zu sprechen, aber es gibt gewisse Dinge, die wir, wenn wir weit von einander entfernt sind, als Einheit stiftend empfinden. Ich lese diese lateinamerikanischen Autoren und ich verstehe sie auf eine Art und Weise, die weit über das Verstehen der Wörter hinausgeht. Denn diese kosmische Sprache, die uns verbindet, reicht weiter, als es ihre eigenen Vokabeln tun. Ich, die ich Tag für Tag im sprachlichen Exil lebe, hege daran keinen Zweifel.

Ein andere wunderbare Erfahrung, die dieser Raum darbot, war die Möglichkeit deutsche Autoren meiner Generation zu lesen. Böll ist sehr gut, aber es war ein großes Vergnügen die wunderschön entrückte Sprache von René Hamann oder die Eleganz von Emma Braslavsky zu lesen. Euch alle zu lesen war, als ginge ich in diesem Moment die (gepflasterten?) Straßen einer deutschen Stadt entlang. Die Texte der fünf beteiligten deutschen Autoren zu lesen, bedeutete zeitgenössische deutsche Literatur zu lesen – eine für mich, die ich die Sprache nicht spreche und nicht über die Mittel verfüge, an Übersetzungen (sofern sie existieren) heranzukommen, so schwierige Angelegenheit. Ich spürte den Puls der Texte dieser unterschiedlichen Autoren und vermochte auch hier ein zart gestricktes Muster zu vernehmen, das es mir irgendwie ermöglichte, Zugang zu einer Generation von Deutschen zu bekommen, von der ich nichts wusste. Die Fäden dieses Strickmusters weisen Ähnlichkeiten mit meinem eigenen Strickmuster auf. Wir sind mit unsichtbaren Fäden mit einander verstrickt und nur dieser Raum hat sie spürbar werden lassen. Wir sind durch das Netz „verstrickt“, durch die Globalisierung, die Generation oder wie auch immer man das nennen mag, was mich dazu befähigt, euch zu verstehen, Übersetzer wenn man will, aber weit über den unmittelbaren Wortsinn des Übersetzers von Worten hinaus.

Ich danke Rery Maldonado und Nikola Richter für diese aus dem Wollknäuel ihrer Träume entwickelte Idee, uns alle zusammen zu bringen. Dank ihnen sind meine Worte in einem Café in Berlin. Und meine Stimme in einem Ort im Äther des Cyberspace. An einem Ort dieser Raumzeit Null – dieses Chronotopos cero – haben wir uns getroffen.

Übersetzung: Anne Becker

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Zeit, zum Globalichiater zu gehen http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/zeit-zum-globalichiater-zu-gehen/ Fri, 24 Sep 2010 15:55:07 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2179 Ich war nie ein globalisierungsfeindlicher Jugendlicher. Ich fand immer, dass die Globalisierung ein Mythos ist: die Globalisierung verstanden als eine einzige Nation. Das one & only Argument dieser Theorie ist das Internet. Das globale Netz infiziert die letzten Ecken der suave patria, des lieblichen Vaterlands (bekanntes mexikanisches Gedicht, Anm. d.Ü.). Ein polarisierender Effekt. Die wahrhaftige Globalisierung gäbe es dann, wenn die Ranch den ganzen Planeten übersähen würde. Wenn das Lokale und der Globus eine wirkungsträchtige Verbindung eingehen, haben wir es mit einem einfachen kulturellen Austausch zu tun. Dieser Austausch ereignet sich immer auf individueller Basis, fast nie kollektiv. Wo ist also das Globalisierende?

Es ist der Globalisierung wie auch den Unabhängigkeitskriegen oder Revolutionen eigen, von einem Projekt der Nation getragen zu werden. Die Globalisierung ist das Projekt einer gescheiterten Nation. Vielleicht ist die einzig mögliche Globalisierung die Globalisierung der Sprache. Nicht die Verknüpfung eines Netzes mit einem weiteren, sondern die Globalisierung eines Codes, der just vom Internet verbreitet wird. Ich war nie ein Verteidiger der Sprache. William Burroughs schlug vor, mit dem gesamten rationalen Denken Schluss zu machen. Die Globalisierung der Sprache könnte von einem Symbolsystem diktiert werden, das gar nichts mehr mit der menschlichen Vernunft zu tun hat.

Wie jede Neuinvasion der Technologie ist die Globalisierung unter anderem dazu gut, der Paranoia Nahrung zu geben. Ich schätze mal, dass die Globalisierung bei der Sprache anfangen und dazu führen wird, dass wir uns in außerirdische Wesen verwandeln. Es folgt meine Version, das, was meine Paranoia auf der Basis der vereinheitlichten Sprache erfunden hat.

Jahr 3000 (oder früher): Die menschliche Gattung hat ihre Art der Kommunikation modifiziert. Die Zunge wurde von den Emoticons des msn ersetzt. Alle Welt versteht sich anhand dieser Symbole. Es nicht mehr nötig, eine andere Sprache zu erlernen, um nach Kopenhagen oder Singapur zu reisen. Wie in der Fernsehwerbung ist das Geruchsorgan beliebig austauschbar. Dann wird die Luft so dick, dass es unmöglich ist, mehr als zwei Meter weit zu gucken; der Smog beerdigt das Konzept der Landschaft. Wir pflanzen uns durchsichtige Augenlider ein, verdunkelten Scheiben gleich, die uns die Nachtsicht wie bei Programmen von animal planet ermöglichen. Wir modifizieren unseren Körper so sehr, dass wir aussehen wie Kinder von Jaime Mausan. Dann taucht ein Raumschiff auf, eine Fliegende Untertasse oder ein U.F.O., wie ihr wollt, und verbindet sich mit dem gesamten Netz. Es verschickt eine Nachricht: Der Planet Erde wird explodieren. Wir verlassen die Erde in einer großen, intergalaktischen Arche Noah. Wir leben in entfernten Galaxien, auf dem Mond und auch gleich um die Ecke der Erde. Wir erfinden die Zeitmaschine, um ins 20. Jahrhundert zu reisen und versenden Zeichen in einer Sprache, die niemand versteht. Wir wollen uns selber warnen, dass wir in der Zukunft aliens sein werden. Dass wir der Zähmung der globalisierten Sprache Einhalt gebieten müssen. Dass wir es nie schaffen werden, uns zu verständigen. Die Sprache, die wir selbst erfunden haben, können unsere Vorfahren nicht verstehen.

In dem Moment, in dem die Vorstellung von planetarischen Nationalitäten einmal verinnerlicht wurde, entsteht auf einem Planten ein Projekt, dass sich vornimmt, das Wesen des Lateinamerikaners, Entschuldigung, den lateinamerikanischen alien zu ergründen. Sie heißen Die intergalaktischen Superdemokraten, Los superdemokráticos intergalácticos. Schriftsteller des Weltraums werden in ihrem Posteingang darauf warten, eine Einladung zur Mitarbeit in diesem Forum zu erhalten.

Übersetzung: Anne Becker

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