socialismo del S.XXI – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Derselbe Cholo in einem neuen Poncho http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/derselbe-cholo-in-einem-neuen-poncho/ Fri, 22 Jul 2011 10:44:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4521 Von der Ära der Inkaherrschaft zum Pluri-Multi-Staat.

Der seltsame Fall des bolivianischen Staates ist eine detaillierte Untersuchung wert, samt Lupe und Teleskop. Begreifen Sie „Staat“ in seiner erweiterten Bedeutung, in der Akzeptanz der beiden Aspekte: der politischen Organisation der nationalen und regionalen öffentlichen Institutionen einerseits und der historischen Entwicklung der gesellschaftlichen Situation andererseits.

Wir Bolivianer sind immer dieselben, die zusammen leben. Aber wir überleben das Miteinander, das seit der neueren Dekolonialisierungspolitik in Frage gestellt wird, immer noch mit den kreolischen Sitten der Mittelschicht, mit Jahrtausende alten Nuancen, je nach dem Ursprung der einzelnen, individuellen Kultur. „Wie geht es dir, Genossin?“, begrüßten wir uns in der Zeit der Republikaner; „Wie läuft’s so, Schwester?“, als die bunten Whipalas in Mode kamen. Wir Frauen verließen ein bisschen unsere Rolle als Sklaven des Inkas, um unsere genialen Rechte einzufordern: Außer zu nähen, zu kochen und zu waschen, dürfen wir auch arbeiten gehen. Wir sind Verkäuferinnen heißer Maiskolben neben einer modernen, stinkenden Mikro-Müllanlage neben dem Markt oder unsichtbare Arbeiterinnen am Herd, von Geburt an. Für diese Arbeiten braucht niemand Rechnungen zu stellen, so dass der Arbeitgeber solche Gehälter nicht als Ausgaben steuerlich geltend machen kann.

Unheimlich lustig diese Menschenrechte für Frauen. Immer schon. Dieselbe Chola (eine Frau in typischer Tracht mit Rock und Hut, Anm. d.Ü.) in einem neuen Rock, so lautet ein nationales Sprichwort. Es ist Produkt des kreolischen, machistisch-geprägten Scharfsinns, der sofort ein Stigma erschafft, um das Chaos zu verbergen.

Im Imperium, in der Real Audiencia von Charcas, in der unvollendeten Republik und dem jetzigen Plurinationalen Staat der Multilingualen und Plurikulturellen herrschten und herrschen weit vor den Menschen die unantastbaren Besitztümer des Geldes. Und natürlich werden die Menschen vergegenständlicht, um sie gleichermaßen auf der Seite des Angebots und der Seite der Nachfrage verteilen zu können, egal was sie sein wollen, was sie gerne tun würden, was sie glücklich machen würde. Und die Frauen trifft es in dieser Sache noch schlimmer als alle anderen.

Warum sollte es auch anders sein, wenn wir aufgrund der Tradition ja wissen, dass die Collita wegen allem heult und der Cambita einfach alles steht? Die Gewalt, die als etwas, „das immer schon existierte“, akzeptiert wird, weist alles mit Hilfe von Beschimpfungen, Schlägen und Gemeinheiten in seine Schranken.

In Evos Land ist der Präsident derselbe Cholo in neuem Poncho. Erinnert ihr euch, wie wir in der Grundschule lernten, dass die bolivianische Bevölkerung sich aus Kreolen, Mestizen, Cholos, Indigenen und Schwarzen zusammensetzt? Jetzt gilt es als pejorativ, wenn man sich auf diese Konzepte und auf die verschiedenen Kulturen bezieht. Sie gelten als Schimpfwörter! Klar,  diese Kulturen haben soziale Schichten gemeinsam, sicherlich, aber das, was sie am deutlichsten gemeinsam haben, will niemand sehen: Das ist die Gleichheit bei der Unterdrückung der Frauen. Wir Frauen wissen wohl wie wir mit all den Codes, denen es nicht an Strichen fehlt, zusammenleben können. Wir kümmern uns um die Familie, bekommen Kinder, die wir bis zur Volljährigkeit und darüber hinaus begleiten, wir sorgen für die Ernährung, die Gesundheit, den Schutz; gehen für den Lebensunterhalt auf die Straße und sind immer noch, jedes Mal mehr, das Oberhaupt der Familie. Und dazu werden wir beschimpft, geschlagen, die Söhne verleugnen uns, wir werden vor das Jugendamt zitiert, als hätten wir mit dem Heiligen Geist geschlafen!

Hausmütterlein, verkauf mir bitte Mandarinen. Hausmütterlein, kauf mir bitte Mandarinen ab.

An kleineren Sünden mangelt es uns nicht. Wir unterscheiden uns voneinander durch Neid, weil die eine besser aussieht als die andere, oder weil es eine besser getroffen hat. Aber wir leben mit derselben panischen Angst, mit denselben Unbeständigkeiten, demselben Argwohn, denselben Sorgen zusammen. Die familiäre Wirtschaft reduziert sich auf den Verbraucherpreisindex. Sieh selbst, wie du damit zurechtkommst, während die andere Wirtschaft, die sich nach Metallen, Taschen, Fiktion und Millionen ausrichtet zwar gute Titelgeschichten macht, sich aber in den Mündern einer Minderheit befindet, die uns deshalb unterdrückt, weil wir nicht die Koka-Blätter kauende Mehrheit sind.

Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke, aber in Evos Land hat sich nichts verändert. Weiterhin werden Schulden bei den USA getilgt, Schulden, die nicht wir verursacht haben, sondern diejenigen, die von den Liberalen und Republikanern beschuldigt werden, wie jene, die unter der Flagge des Sozialismus stehlen und immer wieder wiederholt haben: Vaterland oder Tod, wir werden siegen. Wir Frauen leben fast stillschweigend innerhalb der gemeinsamen Mission zusammen, die da heißt, unsere Spezies und unseren Gemeinsinn zu vermehren. Es würde ein kleiner Riss ausreichen, damit die euphorischen Farben unserer empörten und lächelnden Wangen wie der großartigste Vulkan explodieren.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Wer ist das denn? http://superdemokraticos.com/laender/venezuela/wer-ist-das-denn/ Wed, 15 Jun 2011 07:01:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4109 1.

In meiner dritten Nacht in Sao Paulo, Brasilien, unterhielt ich mich mit ein paar Typen, die ich gerade eben auf einer Party kennengelernt hatte: Geschichtsprofessoren, Produzenten, Philosophen und Künstler. Das war 2005. Es gab tolle Live-Musik und teure Cachaça. Dennoch haben wir es irgendwie geschafft, am Ende der Nacht bei den Themen Sex und Politik zu landen. Zwei Themen, die – und das wissen wir ‚Männer in Aktion‘ – weniger dazu da sind, darüber zu reden, als sie zu praktizieren.

Möglicherweise lag es daran, dass ich die Sprache ziemlich schlecht beherrschte, aber als ich einmal aus der Küche zurückkam, mit vernebeltem Blick und einer Flasche in jeder Hand, wurde mir bewusst, dass für meine Gesprächspartner das zweite Thema wesentlich interessanter war als das erste. Denn nach den anarchistischen Bewegungen, den alternativen Medien und dem Guerillakino, fiel er, der Name, besser gesagt der Nachname, auf den alle Venezolaner im Ausland seit etwa zehn Jahren angesprochen werden, und zwar immer in diesem fragenden Ton: Chávez?

Ich lache dann zuerst immer und wenn ich auf einer Party bin, frage ich nach einem neuen Drink. Und wenn es keinen neuen Drink gibt, denke ich an Sex. Aber ich antworte. Zuerst mit einer Scherzfrage: „Wer ist das denn? Den kenne ich gar nicht.“ Danach erzähl ich irgendetwas, das mir einfällt, um zu widersprechen.

Aber dieses eine Mal habe ich das Orakel gemimt: „Was wollt ihr wissen?“

Eine gute Freundin, die ich wegen ihres besonnenen Charakters, ihrer Lebenserfahrung und einer Sache, die ich gerne als mütterliche Klarheit interpretiere, sehr schätze, sagt immer zu mir: „Das, was in Venezuela derzeit passiert, ist wahnsinnig interessant… “, dann legt sie eine Pause ein und beendet den Satz: „ …wenn wir in Europa leben würden.“

So ungefähr wollte auch ich meinen neuen Kumpels aus jener bilingualen Nacht antworten, aber da fiel mir etwas Besseres ein: Ich lud sie zu mir nach Hause ein, so viele Tage sie auch bleiben wollen. Sie sollen zum Weltsozialforum kommen, das tatsächlich im ersten Quartal des Jahres 2006 in Caracas stattfand.

2.

Während der Feierlichkeiten dieses bezaubernden Massen-Events im darauffolgenden Jahr schaffte es ein Arbeitskollege, eine Retro-Hippie-Touristin von seiner tiefen Bewunderung für den Präsident überzeugen zu können, da dieser, wie er ihr immer wieder versicherte, keine Kosten und Mühen gescheut habe, um die U-Bahn in Caracas in Rekordzeit und nur für sie alle erbauen zu lassen. Und hier ist sie, sagte er – und ich stelle mir vor, wie er erst ihre Augen darauf lenkte, bevor er ihre Hand nahm.

Die Frau hat sich augenblicklich verliebt. In meinen Freund, in die U-Bahn und in Chávez. Mein Freund hat eine sehr zielstrebige politische Meinung: Er zielt immer auf die Mitte, genau auf den Punkt, der zwischen den Beinen der Frauen liegt. Man kann also sagen, in diesem Moment war er ein Diplomat. Er hat mir nie erzählt, ob er schlussendlich Sex mit der Ausländerin hatte oder nicht, aber wenn er hatte, kann wohl niemand verneinen, dass ein geringfügiger Anteil des Zustandekommens dieses Ficks doch auf die Lügen zurückzuführen ist, die sich von der Macht des Präsidenten ableiten lassen.

Die Lüge braucht die Wahrheit, um leben zu können, aber vor allem braucht sie Zeit um zu existieren. Die Lüge gibt es erst, wenn sie sich entfaltet hat, wenn sie geteilt wird, wenn sie hinausgeschrien wird. Aber sie hat auch ein Problem: Sie kennt keine Entfernungen und verändert sich je nach Geographie.

Diese Erfahrung mussten auch die beiden tapferen Brasilianer machen, die es tatsächlich wagten, zu mir zu kommen und bei mir zu Hause zu wohnen. Damals lebte ich in einem kleinen Anbau, zusammen mit meiner Freundin, die allerdings jetzt mit ihrem neuen Freund in Europa lebt und ununterbrochen von den Vorzügen des Fahrradfahrens spricht– um nur eines der Dinge zu erwähnen.

Dieses tapfere, glückliche Paar, beide Liebhaber des anti-imperialistischen Diskurs Chávez, durchreisten verschiedene Städte in Venezuela und machten auch Halt in Caracas. Er wurde krank, und sie pflegte ihn so gut sie konnte. Sie mussten sich damit abfinden zu akzeptieren, dass diese Regierung noch in den Kinderschuhen steckte, und sie stellten auch fest, dass die Preise der Produkte und Dienstleistungen unverhältnismäßig hoch im Vergleich zu den Mindestlöhnen und Durchschnittsgehältern waren, aber dass es von außen betrachtet besser wirke. Ich wollte nicht, dass sie desillusioniert das Land verließen, und meinte zu ihnen, dass das Gleichgewicht wiederhergestellt werden könne, wenn man verstünde, dass es auch von innen heraus betrachtet viele Menschen gibt, die es gerne schlechter sehen wollen würden.

Schon kurz nach Beginn seiner Amtszeit etablierte sich bei vielen Venezolanern, die ich kenne, eine einfache Formel, um die nationale Politik analysieren zu können: Wenn dir Chávez gefällt, verteidigst du ihn, wenn er dir nicht gefällt, kritisierst du ihn. Ende der Geschichte. Jeglicher Zweifel verortet dich auf der jeweiligen Seite oder – und das ist noch viel schlimmer – in einem unakzeptablen Limbus. Einem schwarzen Loch. Chávez hat mittlerweile sehr viel Macht an sich gezogen. Er konfiszierte Schuld und Verdienst. So ziemlich alles, was passiert, unterliegt seiner Verantwortung. Geht es dem Land gut, ist das so dank ihm und seiner Politik. Geht es dem Land schlecht, dann liegt das ebenfalls daran – obwohl des Öfteren auch die abgedroschenen Phrasen der Medien ins Spiel gebracht werden.

3.

Ich weigere mich, an dieser automatischen Lüge teilzunehmen. Zwölf Jahre bevor er an die Macht kam und einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts verkaufte, der wohl noch hundert Jahre braucht, bis er sich tatsächlich findet, kam ihm – nur um ein Beispiel zu nennen – eine Sache in den Kopf, die er „Misión Vivienda“ nannte. Bei dieser Mission wollte er nichts anderes als den Bau von Millionen von Häusern für Millionen von Menschen anregen, die keine Häuser hatten. Das wäre ehrenhaft und begrüßenswert gewesen, wenn Indikatoren der Makroökonomie und der Produktion nicht ein Bild der Realität konstruieren würden, welches das verblüffende Gegenteil davon aufzeigt.

Ich nahm nicht nur Teil an einer journalistischen Untersuchung zu diesem Immobilienbetrug, der die Unter- und Mittelschicht Venezuelas empfindlich traf und eine Konsequenz aus der Korruption, der niedrigen Produktion von Stahlstreben und Beton und der Konfrontation des öffentlichen Sektors mit den privaten Baufirmen des Landes war, sondern ich habe zudem auch noch einen verwegenen Umzugsdurchschnitt: Pro Lebensjahr bin ich 0,87 Mal umgezogen. Sollte ich vor Oktober diesen Jahres erneut umziehen, steigt dieser Schnitt auf 0,90.

Somit weiß ich, was es heißt, unter Obdachlosigkeit zu leiden. Somit hätte ich mich wahnsinnig darüber gefreut, wenn dieses Versprechen, dass ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl gegeben wurde, zur Freude vieler Leute gehalten worden wäre. Aber ich bin nicht die Touristin aus der U-Bahn. Und deshalb hätte ich es zwar gerne, glaube aber nicht mal auf lange Sicht daran, dass es sich erfüllen kann. So ist das mit diesem Land. Als Chávez versprach, seinen Namen zu ändern, wenn es ein Jahr nach seinem Amtsantritt immer noch bedürftige Kinder geben würde, war die Lüge noch nicht vollzogen. Aber so sind Revolutionen nun mal, sie fordern neue Paradigmen. Der tatsächliche Preis, der einen Mann antreibt, der so sehr von der Macht, von sich selbst und von der Geschichte begeistert ist, führt meist auch die Bürde der Erinnerung mit sich. Nun sind zwölf Jahre vergangen, und soweit ich weiß, heißt er immer noch Hugo.

In Fällen wie diesen sollte man an die Kraft des Wortes erinnern. Dinge anders zu benennen, bietet andere Perspektiven, sich neue Möglichkeiten vorzustellen und diese auszubauen. Und genau das ist es, zwischen den positiven sozialen Maßnahmen und einer langen Liste von Niederlagen, was bislang gemacht wurde. Wo es früher eine Realität mit einem Namen gab, existiert nun eine ähnliche Realität, sei sie besser oder schlechter, aber unter einem anderen Namen. Dieser Name vermittelt vor allem Hoffnung für die Ärmsten der Armen. Und ja, natürlich, das birgt etwas Revolutionäres, aber eher auf einer populistischen als auf einer sozialistischen Ebene. In Zukunft werden keine Lügen mehr existieren. Und ein guter Politiker wird ebenso wie ein guter Künstler wissen, wie schon Antonio Machado schrieb, dass die Wahrheit auch nur erfunden wird.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Eine Clownsdemokratie … http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/eine-clownsdemokratie/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/eine-clownsdemokratie/#comments Wed, 29 Dec 2010 13:40:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3466

Privates Familienfoto, während des Chaco-Krieges, Bolivien.

„Ich respektiere ihn wohl, es ist schade, dass ich ihn nicht auch gern haben kann.“

– denken sicherlich viele Vertreter der sogenannten lateinamerikanischen Boom-Literatur über Jorge Luis Borges.

Ich war in Bolivien, als Mario Vargas Llosa der Nobelpreis verliehen wurde. Am selben Tag begann ich mit diesem Artikel für die Superdemokraticos. Ich wollte schildern, wie ich mein Land sah und erlebte, nachdem ich fast zwei Jahre nicht mehr seine Straßen entlang gelaufen war. Es ist mir schon immer schwer gefallen, den Fokus eines Textes zu verlagern und eigentlich wollte ich über meine Großmutter schreiben. Ich reagiere langsam; was soll ich machen, die Welt überrascht mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich erleben würde, dass Vargas Llosa den Nobelpreis erhält – Borges hat ihn wegen ähnlicher Ideen nicht bekommen. Außerdem sind 20 Jahre vergangen, seitdem ein Lateinamerikaner diese Auszeichnung gewonnen hat, und es ist sicherlich das erste Mal, dass Bolivien in einem solchen Festakt Erwähnung findet. Und obwohl dieser Text schon seit mehreren Tagen fertig sein sollte, bin ich sicher, dass sich diese Denkpause gelohnt hat. Auch ich trage Bolivien tief in meinem Herzen, und es fällt mir schwer, es heraus zu kehren und zur Schau zur stellen.

In den letzten Jahren, und vor allem zu Beginn des Wandels – wie die Amtszeit von Boliviens Präsident Evo Morales genannt werden wird – habe ich wie viele andere auch den revolutionären Prozess, der in meinem Land statt findet, offen unterstützt. Viele der Vorschläge und Slogans von Morales waren richtig, sind richtig, die Anerkennung unserer indigenen Völker und der Pluralität unserer Bevölkerung im Parlament sind fundamental, und ich empfand es als Zeichen der Reife des Wahlvolkes, dass dieser Wandel durch eine Wahl ermöglicht wurde. So wie Vargas Llosa denke ich, dass die Demokratie die beste Form des Zusammenlebens ist, weil sie auf dem freien Spiel der Bürger, der Individuen fußt und nicht auf hohlen nationalistischen Diskursen. In Bolivien laufen die Dinge nicht gut.

Damit eine Regierung demokratisch genannt werden kann, muss sie jenseits wohlmeinender Absichtserklärungen nicht nur die Stimme der Wähler respektieren, sondern auch die Gesetze, die das Zusammenleben ermöglichen. Durch das Machtvakuum in der Gerichtsbarkeit des „Plurinationalen Staates Bolivien“ – wie wir heute heißen – entstand ein Chaos, und der Machtmissbrauch der Exekutive ist so augenscheinlich, dass wir wahrlich von Angst innerhalb der Bevölkerung reden können. Unser Parlament – praktisch ohne Oppositionspartei in seinen Reihen – erlässt Tag für Tag Gesetze, als wären diese churros (heißes Spritzgebäck, Anm.d.Ü.) Es sind ambivalente Gesetze, die in vieler Hinsicht gegen unsere bestehenden Gesetzbücher verstoßen und gegen die kein Widerspruch eingelegt werden kann, da wir kein Verfassungsgericht haben, das diesen Namen verdienen würde.

Es gibt auch die scheinheiligen Gesetze. Das vom bolivianischen Präsidenten auf dem Klimagipfel in Cancún vorgestellte Gesetzespaket, welches angeblich die Pachamama und die indigenen Völkern schützen und verteidigen soll, ist nicht mit dem weiterhin von den Menschen in meinem Land geteilten Fortschrittsdenken vereinbar. Eine Idee des Fortschritts, die die Pluralität von Weltsichten nicht respektiert, ist noch in der kolonialen Logik verhaftet. Auch ist mir klar, dass das Prinzip der Plurinationalität, mit dem der Präsident all seine Amtshandlungen rechtfertigt, vielleicht die nicht andine, indigene Bevölkerung weitaus schutzloser zurück lässt, als sie es in den letzten 20 Jahren der demokratischen Herrschaft gewesen ist. Vielleicht ist dafür das neu gebaute Wasserkraftwerk in Argentinien das eindringlichste Beispiel. Durch dieses verlieren ganze Dörfer im bolivianischen Chaco-Gebiet ihre Existenzgrundlage, ohne dass sie dagegen juristisch vorgehen könnten. Die bolivianische Regierung plant ein ähnliches Kraftwerk im Amazonasbecken, von unseren Atomenergieplänen in Zusammenarbeit mit dem Iran ganz zu schweigen.

Die Opposition wird verfolgt. 2010 hat Evo Morales die „Verrechtlichung der Politik“ auf die Spitze getrieben, sowohl in seiner Gangart gegen die „korrupten Oppositionellen“ als auch gegen neue Führungspersönlichkeiten und mögliche Anwärter auf das Präsidentenamt bei den Wahlen 2014. Der Prozess gegen Luis Revilla, der junge Bürgermeister von La Paz und einer der anerkanntesten Köpfe der Partei Movimiento sin Miedo (Bewegung ohne Angst) – derzeit die einzige linke und demokratische Partei, die diesen Adjektiven würdig ist – ist schlicht und ergreifend beschämend. Von dem institutionalisierten Machismo, dem Drogenhandel und Schwarzmarktgeschäften ganz zu schweigen. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, so wie ihn Präsident Morales interpretiert, wirft mein Land, was die bürgerlichen Rechte der Gesamtbevölkerung angeht, zurück ins 19. Jahrhundert.

Ich stimme mit Vargas Llosa überein, dass die Demokratie in meinem Land genauso oder mehr noch eine Farce ist wie ihre Vorgängerinnen, mit dem Unterschied, dass die amtierende Regierung mit allen Mitteln die Meinungsfreiheit zu unterbinden versucht. Das neue Antidiskriminierungsgesetz ist, abgesehen von seinem politisch korrekten Namen, ist ein infamer Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die Antworten der Regierungsmitglieder auf Vargas Llosas Rede sind meines Erachtens ein klares Beispiel für den Zustand der Regierung. Sie zeigen, dass Evo Morales weder der Presse zuhört noch Zeitungen liest, sondern allein auf die Kritiken seiner Person reagiert. Seine tendenziösen Aussagen über den angeblichen Rassismus gegen die indigene Bevölkerung der Region sind lachhaft. Um so mehr, wenn man bedenkt, dass zum erste Mal ein kreolischer lateinamerikanischer Schriftsteller im Namen derjenigen, die wir so sind wie er, die Verantwortung für 200 Jahre Zurücksetzung und, in vielen Ländern, für die Ausrottung ganzer indigener Völker übernimmt. Die Verantwortlichen für das Geschehene sind unsere Großeltern – ich benutze die erste Person Plural, weil auch ich eine Kreolin und das heißt, schuldig bin, auch wenn ich es bevorzugen würde mich als andine Westlerin zu definieren, um so mit unserer despotischen Tradition zu brechen, ohne meinen kulturellen Wurzeln abzuschwören.

Ich bin sicher, dass der Plurinationale Staat Bolivien auch das Resultat der Arbeit von vielen Großeltern ist, die an die westlichen Werte der Aufklärung glaubten, und so wie Vargas Llosa denke ich, dass die Literatur eine viel wichtigere Funktion in unseren Gesellschaften hat, als die der Erziehung und der Unterhaltung. Ohne den Glauben daran, dass die Literatur für die Schaffung von individuellen Utopien und damit für die Ideenvielfalt auf innige Weise mit verantwortlich ist, gäbe es zunächst einmal weder Schriftsteller noch amerikanische Staaten. Auch das nehme ich aus Vargas Llosas Rede mit. Seine bequeme Haltung gegenüber dem neoliberalen Wirtschaftsmodell hätte ich stärker und besser kritisiert als Evo. Die Konsumfreiheit darf nicht die wichtigste Freiheit im Westen bleiben. Und es ist unehrlich, nur die aus dem Boden schießende Fanatiker zu kritisieren, ohne auch nur eine Sekunde bei den Berlusconis, Sarkozys und den anderen Clowns zu verweilen. Denn sie sind die wahrhaftigen Zirkusdompteure. Die ganze Barbarei unserer Kultur.

Übersetzung: Anne Becker

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Teleskope und Mikroskope http://superdemokraticos.com/themen/burger/teleskope-und-mikroskope/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/teleskope-und-mikroskope/#comments Tue, 07 Sep 2010 15:25:41 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1597

© Agrupación Putos Peronistas

Ich verbringe meine Stunden zwischen Mikroskopen und Teleskopen, zwischen Kosmen und deutlich sichtbaren Gesichtsgrimassen, zwischen Dichtung und Utopie. Ich richte meine Augen, mein Fleisch, meine Lungen, meine Leber auf einen unmöglichen Ort, der sich zwischen den Machtbeziehungen und der Macht der zwischenmenschlichen Beziehungen befindet. Von dort aus schreibe ich und wüsste nicht, wie ich es anders tun könnte. Ich versuche, es zu rechtfertigen, um eine Art von zweideutiger Fixierung zu entwickeln, die darin besteht, politische Komponenten in den Blicken zu entdecken und mystische Elemente in einem Gesetz, das frisch aus dem Kongress kommt. Sicherlich schreibe ich deshalb diesen Aufmacher, oder den aller anderen meiner Artikel, um zu versuchen, mit den Händen Ideen zu erfassen, die abstrakt erscheinen mögen, wenn sie sich in das geschriebene Wort verwandeln.

Während ich darüber nachdachte, in welcher Form ich eine Rechtfertigung auf die äußerst negativen Rückmeldungen auf meine Notiz „Erleuchtende Spannungen“ verfassen könnte, fuhr ich gerade mit einem Bus nach Hause. Folgendes kritzelte ich unter Schwierigkeiten, die sich aus der Reise in einem mörderischen Rennwagen ergeben, in ein Heft:

Auf der Bühne gab es nur zwei silberfarbene Stühle. Sie wurden von zwei Herren in ihren Siebzigern belegt, die mit Mikrofonen und Wasserfläschchen in Reichweite ausgestattet waren. Ich näherte mich der Organisatorin und zeigte ihr die Bestätigung, dass ich als Redner geladen war, aber sie wies mich darauf hin, dass ich – da es „ein Panel höchsten Niveaus“ sei – hier nichts zu suchen habe. Ich hätte gehen können, schweigend und mit gesenktem Kopf, aber ich zog es vor, sie darum zu bitten, mir wenigstens „fünf Minütchen“ zu geben… die sie mir schließlich gewährte. Als ich an der Reihe war, trug ich im Wesentlichen dieselbe Idee vor, die ich bei den Superdemokraten eingereicht hatte, mit einigen zusätzlichen Abstufungen und humoristischen Einschüben, die sich aus dem oralen Aspekt einer Rede ergeben. Ich fügte ihm nur ein Element hinzu, das im Artikel aus Platzgründen nur am Rande Erwähnung finden konnte, und den ich für das definierende Element der gegenwärtigen Phase halte, in der sich die Region befindet: den hegemonialen Disput zwischen den populären Kräften und den historisch dominanten Klassen.

Heute können wir beobachten, wie die Diskussion (in vielen Fällen zum ersten Mal) bestimmter moralischer, ethischer und politischer Werte beginnt, die im Zuge der Konsolidierung der Nationalstaaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts als unumkehrbar geweiht wurden. Diese Form der Revision und Suche nach neuen Diskursen und Erzählungen schließt soziale Akteure mit ein, die von den traditionellsten Formationen bis hin zu Bloggern oder Artisten jeglichen Typs reichen, die sich stark mit den Bewegungen und neuen linken Regierungen Lateinamerikas identifizieren. Im Fall Argentinien gehören zu dem, was wir das „nationale und populäre Feld“ (nac&pop) nennen so heterogene Identitäten wie die Putos Peronistas (die Peronistischen Schwulen), Los Caniches de Perón (Peróns Pudel), der Anarkoperonismo (Anarchoperonismus), Gruppen, die sich in nationalen Strukturen gründen wie das Movimiento Evita (Bewegung Evita), und sogar Blognetzwerke wie La peronósfera (Die Sphäre Peróns) und andere, organischere, wie das PJ Digital.

Schließlich fügte ich noch hinzu, dass es aufgrund der Heterogenität dessen, was sich hier im Aufbau befindet, unnötig ist, einen einzigen Namen für all diese politischen und kulturellen Phänomene zu finden. Die doktrinäre Schwäche der verschiedenen Sozialismen des 21. Jahrhunderts, des Partido dos Trabalhadores (Partei der Arbeiter) oder desselben Peronismus, ist in Wahrheit ihre größte Stärke und Reichtum, da es ihnen ermöglicht, in ihrer Brust Forderungen und Gruppierungen aller Couleur in sich zu vereinigen, die sich um einen Namen herum bewegen, um einen leeren Signifikanten herum, würde Laclau sagen. Die multiplen Unsichtbarmachungen, die die herrschenden Klassen geschmiedet haben, um uns in eine einzige Stimme zu verwandeln (indem störende Bürger verschwinden, die Armenviertel „nicht urbanisierte Zonen“ genannt werden oder schlicht das Militär gegen mit Menschen gefüllte Wüsten eingesetzt werden), scheinen heute in gewissem Maße an Kraft zu verlieren und bringen die mannigfaltigen Semantiken verschiedener Skalen ans Licht. Das ist die Bewegung der Bewegungen, die sich wie der Wind bewegen… die den Kontinent durchqueren oder einem peruanischen Jugendlichen und mir den Nacken streicheln, während wir im Inneren eines der für Buenos Aires typischen Kleinbusse der erlesenen Fusion von kolumbianischer Cumbia und Minimal Tech lauschen.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Der Ort, an dem ich wohne http://superdemokraticos.com/themen/burger/der-ort-an-dem-ich-wohne/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/der-ort-an-dem-ich-wohne/#comments Fri, 27 Aug 2010 07:04:02 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1291 Mehr als die Situation meines Heimatlandes interessiert mich die Situation der Stadt, in der ich lebe. Caracas hat zwischen 4 und 8 Millionen Einwohner – je nachdem, welche Meinung gerade diensthabend ist; zwischen 22 und 80 Tote pro Woche, je nachdem welche Zeitung darüber berichtet oder je nach Beamtem, der die Zahlen präsentiert; es gibt sieben Rathäuser, aber eines, das „übergeordnet” genannt wird, und angeblich die anderen fünf delegiert, das arbeitet nicht, oder besser gesagt, man lässt es nicht arbeiten. Denn dieses siebte, das gibt es erst seit kurzem und es ist eigens von der exekutiven Macht eingerichtet worden, der Macht, die in Venezuela alle anderen Mächte dominiert: Es ist das Rathaus der Regierung und hat nun den größten Einfluss. Oder eben auch nicht.

Auf jeden Fall ist es ein Geldkuchen, der hierhin und dahin fließt, und man selbst, als Bürger oder Fußgänger, der weder sehr arm, noch sehr reich, noch ein großer Künstler in diesem Spiel der gewählten Politik ist, weiß nicht, ob diese Gelder an ihr Ziel kommen oder ob sie überhaupt den Ort erreichen, für den sie bestimmt sind. Jedenfalls gibt es sieben Rathäuser, aber es könnten auch sechs sein oder fünfeinhalb. In dieser Stadt gelten genaue Zahlen als ein unnötiger Luxus.

Jedes einzelne dieser fünfeinhalb oder sieben Rathäuser hat sein eigenes präventives Sicherheitssystem: Fünf verfügen über einen Polizeiapparat, der sich in Brigaden unterteilt, um Festnahmen und Vollzüge durchführen zu können, wenn es für notwendig erachten wird. Manche von ihnen regulieren sogar institutionell den Verkehr und die reibungslose Zirkulation der Autos, obwohl es auch eine Institution gibt, das Ministerium für Verkehr und Transportwesen, das über Beamte verfügt, die genaue diese Aufgaben ausüben sollten.

Ich habe gelesen, dass sich, laut der Aussage desjenigen, der 2008 Präsident dieser Institution war, die Hauptstadt mit 40 % des Fuhrparks von ganz Venezuela schmückt, und dass in jenem Jahr über 2 Millionen Autos täglich durch die Stadt fuhren, 400.000 davon, um von einem Bundesstaat zum anderen zu gelangen. Heute müssten es 100.000 mehr sein, wenn wir mal annehmen, dass jeder zweite Einwohner in Caracas ein Auto hat.

Oder, gut, vielleicht jeder vierte. Kommt darauf an.

Bis vor ein paar Jahren war die Rush Hour ungefähr zwischen 6 und 8 Uhr morgens, in der Mittagszeit und zwischen 5 und 7 Uhr abends. Heutzutage runden wir auf: zwischen 6 Uhr morgens und 7 Uhr abends, oder noch ein bisschen länger, kann man in einem Stau steckenbleiben, der ein bis zwei Stunden kostet. Wenn du also in deinem Auto oder im oberirdischen öffentlichen Nahverkehr sitzt, entspann dich, du kannst sowieso nicht wirklich was tun.

Caracas hat viele Parks. Es ist eine graue Stadt, mit grünen Muttermalen, den Blick aufs karibische Meer gerichtet, mit riesigen Gipfeln, auf denen die Spaziergänger herumklettern, die sich mit der Natur verbunden fühlen wollen, die Caracas wie Haare umschließen, und mit einem ziemlich blauen Himmel. Der Bart und die Flaumhaare des Körpers, um in diesem Bild zu bleiben, waren Berge voller Bäume, voller diagonaler, unbebauter und brachliegender Ländereien und voller Hügel. Mittlerweile sind sie voller selbstgebauter Häuser, gebaut aus Ziegelsteinen, Zink, Zement, Hoffnung und, abhängig von der Gegend,  viel Angst – wie wenn man denkt, es wird heftig regnen, und dann regnet es wirklich.

In Caracas gibt es mindestens 35 Einkaufszentren der gleichen Kette. Hier gibt es die größten, die mit dem schicken Namen, dem doppelten Konsonanten, in kursiver Schrift. Diese – ja, ist gut, ich erkläre den Witz – diese Malls, gemeinsam mit hunderten kleinen Ladengeschäften von mittelmäßiger Wichtigkeit, bilden einstimmig das kommunistische Bild eines Ortes, der einen so großen Anteil am lateinamerikanischen Markt der Blackberry-Telefone besitzt, dass der Begriff Sozialismus nicht nur erschreckt aus unserer Realität wegläuft, sondern uns auch noch seinen nackten Arsch zeigt.

Wie in vielen anderen Städten auf dem Kontinent, ist auch in Caracas der Kontrast die Regel. Es gibt Villen, in denen leben Minister, Vertreter der Regierung, glückliche Erben und Fabrikbesitzer, – manche mit Würde, andere ohne dass es sie auch nur interessieren würde, dass sie diese schon in ihrer Jugend verloren haben, vielleicht 100 oder 1.000 oder 20.000, mittlerweile wissen wir ja, dass Genauigkeit bei den Zahlen wenige in dieser Schicht interessiert. Gleichzeitig gibt es auch Millionen von Hütten, zwei, vier oder sieben, in denen der Hunger auf unangenehme Art vorherrscht, und wo man nun weiß, dass das Leben mit mangelnden Mitteln härter ist. Viel härter.

Feuerwaffen? Allein in Caracas, im ersten Halbjahr 2009, hat der Polizeiapparat 2166 davon beschlagnahmt. Das heißt, im Durchschnitt 12 am Tag. Aber wenn man sich mit irgendjemand unterhält oder den Meinungsvertreter im Dienst liest, glaubt man schlussendlich, dass – legale und illegale zusammen gerechnet – Millionen existieren. Die Konservativen sagen, es gibt 5 im ganzen Land. Die Apokalyptiker sprechen von mehr als 15. Wir reden hier über Millionen. Millionen von Feuerwaffen. Hast du schon mal bis zu einer Million gezählt? Na los, mach mal!

Ist es wichtig, ob es dreieinhalb oder 9.900 sind? Diese Zahl lässt uns so oder so schamvoll den Kopf senken. Im besten Fall denken wir nicht daran, weil es in der Realität unzählige andere, bessere Dinge gibt, mit denen wir die Zeit verbringen können, wie beispielsweise tanzen gehen oder eine Reise unternehmen, was hier sehr einfach und immer ermutigend ist. Im schlimmsten Fall multiplizieren wir Waffen mit den Jahrzehnten der Trägheit und den Jahrzehnten der Kugeln, und überlegen nu, wer sich das Geld dieses riesigen Geschäftszweigs einsteckt.

In Caracas kann man an die besten und an die schlechtesten Menschen geraten, hat mir vor ein paar Wochen eine Freundin aus Frankreich gesagt, die seit zwei Jahren in dieser Stadt wohnt, davor in den USA, Spanien, Mali, Madagaskar, Mexiko und Brasilien gelebt hat und durch Osteuropa, den Cono Sur (Teile Südamerikas) und Kolumbien gereist war. Wie meinst du das? hab ich sie gefragt. Naja, ich habe noch nie so nette und solidarische Menschen getroffen wie die Venezolaner, aber ich habe auch noch nie so viel Bosheit gesehen wie hier. Glaubt mir, zumindest bei ihr wollte ich in der ersten Gruppe sein.

Nimmt man die Worte meiner Freundin ernst, ist es bei dieser offensichtlichen Bipolarität nicht verwunderlich, dass es an diesem Ort, zusätzlich zu den Autos, Motorrädern, Feuerwaffen, Mobiltelefonen, Parks und Einkaufszentren, auch eine Unmenge an Alkoholläden gibt, um das Leid wegzutrinken und zu feiern, dass wir Rum haben, denn solange es Rum gibt, gibt es Hoffnung; genau wie die Unmenge an Friseuren und Fitnessstudios, um in Form zu bleiben und sich Montagmorgen das lange Haar glätten zu lassen; und die Drogerieketten, in denen es von Maismehl bis Fotokameras alles gibt und wo Freitagnacht Viagra meistens ausverkauft ist.

Ich werde gefragt, wie ich die Situation an dem Ort, an dem ich lebe, beurteile. Hier ist, ganz grob umrissen, die Antwort: Caracas ist hässlich, aber es packt dich, weil es ein Intensität besitzt, mit der es dir ganz selten langweilig wird. Es ist wie eine Droge, die dich schüttelt und dich versteckt, du weißt, dass du damit aufhören musst, bevor es zu spät ist. Ich wurde auch gefragt, ob ich glaube, einen Einfluss auf die Stadt haben zu können.

Die Wahrheit? Ich habe vier Zeitschriften gegründet, drei davon sind kulturelle, ich habe in einem Museum gearbeitet, als ich der Meinung war, dass die Kunst die Massen erreichen könnte, ich habe 2006 auch das Weltsozialforum und das alternative Sozialforum, das von der Gegenseite initiiert wurde, unterstützt, ich habe Informationen über ein audiovisuelles Magazin herausgegeben, in einer Zeit, in der die Politik extrem polarisierte, ich habe einige Chroniken über vergessene Räume der Stadt redigiert, Debatten und Diskussionsrunden organisiert, öffentlich zugängliche Partys, einige Workshops gegeben über das, was ich für guten, narrativen Journalismus halte (Martí, Walsh, Capote, Kapuscinski, Rotker, Lemebel, Monsiváis, Caparrós, Guerriero, Salcedo Ramos, Muñoz, Duque, usw.). Und bei jeder einzelnen dieser Taten hab ich mein Bestes gegeben und dabei zuerst an mich gedacht, dann an mein direktes Umfeld und danach letztendlich an Caracas. Und dennoch glaube ich es nicht.

Ich denke nicht, dass ich in einer Stadt wie dieser einen Einfluss haben kann, im positiven wie im negativen Sinne, nicht außerhalb meines direkten Umfeldes und innerhalb kürzester Zeit. Ich glaube es nicht und manchmal hätte ich gerne gehabt, dass es mir egal gewesen wäre, aber die Wahrheit ist, dass ich, solange wie ich hier leben werde, es weiter versuchen werde.

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Angie alleine in der Pampa http://superdemokraticos.com/editorial/angie-alleine-in-der-pampa/ http://superdemokraticos.com/editorial/angie-alleine-in-der-pampa/#comments Sun, 22 Aug 2010 15:22:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1140 Dieser Titel kam mir in den Kopf, als ich die Zeichnung von Valia Carvalho sah, die uns in den nächsten Wochen als Illustration des aktuellen Themas begleiten wird: Bürger sein. Die Frisur, die klobige Körperform, das gepunktete Kleid – wie ein Kittel –, das einzelstehende Haus im Hintergrund, das einen dunklen Schatten wirft, erinnerten mich an die deutsche Kanzlerin. Angie, so nennen die Deutschen ihre Regierungschefin, wuchs in der verschwundenen Deutschen Demokratischen Republik als Pastorentochter auf. Sie studierte Physik in Leipzig und schrieb 1978 ihre Diplomarbeit über „Der Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien“. Sie heiratete zweimal und hat keine Kinder. Ihre politische Karriere begann im Herbst 1989 als ehrenamtliche Mitarbeiterin des „Demokratischen Aufbruchs“ (DA), nachdem sie an der Demonstration „gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit“ auf dem Alexanderplatz teilgenommen hatte. Diese Demo vom 4. November ist sicherlich eines der jüngsten weltweiten Beispiele für die Bedeutung und den Wert von Zivilgesellschaft. Die Aktion begann als eine Initiative von Schauspielern und Arbeitern an zwei Ostberliner Theatern sowie vieler Künstler und schaffte es, etwa eine halbe Million Menschen zu versammeln. Die Grundidee war, das Volk als Träger der Landeshoheit einzufordern: Die Parole lautete „Wir sind das Volk“, und dieses Volk entschied durch diese Performance, aus eigener Kraft demokratisch zu sein. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen, die diese Bewegung unterstützten, nicht aufhören wollten, Sozialisten zu sein. Dass viele Menschen nicht damit einverstanden sind, wie die Wiedervereinigung umgesetzt wurde. Claudia Rusch spricht darüber in ihrem Essay.

Auf der anderen Seite erklärt uns Agustín Calcagno die Gründe, warum er selbst die Zivilbewegungen unterstützt, welche „demokratische Revolutionen“ herbeigeführt haben und sich als „bolivariano“ bezeichen, ein Begriff, den der venezolanische Präsident Hugo Chavez geprägt hat. Liliana Lara lässt uns mit einer gewissen Melancholie zurück, die einer Fremden, die den Wandel in den Gebieten, die sie bewohnt, direkt wahrnimmt. Die Distanz hat sie dazu gebracht, eine „virtuelle Kommandobrücke“ zu erschaffen, von dort aus teletransportiert sie sich in eine der beiden Wirklichkeiten, in denen sie gebraucht wird. Und ich verstehe sie völlig. Auf meinem Breitengrad lebe ich ähnlich, und ich sehe die Revolution, die gerade in Bolivien passiert, aus der Ferne. Oft frage ich mich, ob diejenigen, die so fühlen wie ich, Demokraten sein und weiter Sozialisten bleiben wollen. Das Volk hat souverän darüber entschieden, die Revolution zu unterstützen, und die Antwort des Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist es, abseits von allen Diskursen, jene Institutionen zu schleifen, die demokratische Transparenz garantieren. Augenscheinlich ist ein Hauptvorschlag, in das Jahr 1917 zurückzukehren, als hätte es 1989 nicht gegeben. Als ich noch klein war, herrschte in Bolivien noch eine Diktatur. Wir lebten in Santa Cruz und mein Vater verband mir den Arm oder den Fuß, um durch die Polizeikontrollen zu kommen und seine Pokerrunden zu treffen.

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Bürgerin von zwei Katastrophen http://superdemokraticos.com/themen/burger/burgerin-von-zwei-katastrophen/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/burgerin-von-zwei-katastrophen/#comments Fri, 20 Aug 2010 07:17:09 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=966 Meine zwei Länder sind zwei Katastrophen. Deshalb lebe ich jeden Tag mehr an einem imaginären Ort. Oder sagen wir besser: an einem virtuellen Ort. Meine gesellschaftliche Teilhabe als Bürgerin ist gleich Null, da ich eine unperfekte Bewohnerin bin, die weder von hier ist noch sich dort befindet. Ich habe keine Stimme, um über Venezuela zu urteilen, weil ich nicht dort bin – wird mir gesagt.

Ich kann nichts zu Israel sagen, weil ich Ausländerin bin – denke ich. Aus diesem bürgerschaftlichen Limbo heraus fühle ich mich annulliert und gehe den Schwierigkeiten, so gut ich kann, aus dem Weg. Die Gesetze von hier wie von dort haben Auswirkungen auf mich, doch sie wissen nicht, wie sie mit mir verfahren sollen. Damit meine Kinder nach Venezuela einreisen konnten, musste ich für sie die argentinische Staatsbürgerschaft beantragen – die ihnen väterlicherseits zustand. Es war kaum von Bedeutung, dass sie meine Kinder waren: Wenn sie mit israelischem Pass reisen, können sie in das Land nicht einreisen, in dem ich geboren bin und in dem ich bis vor kurzem lebte. Jedes Mal, wenn ich mich dem Schalter irgendeines Beamtens nähere, muss ich erläutern, wie ich hier gelandet bin. Jedes Mal, wenn ich eine Flughafen betrete, muss ich erklären, warum ich dort hin fahren möchte. An dem Tag, an dem meine Kinder die argentinische Staatsbürgerschaft erhielten, sind wir ein Steak in einem argentinischen for export-Restaurant essen gegangen, um zu feiern. Die Musik, mit der wir in diesem möchte-gern-gaucho-artigen Simulakrum empfangen wurden, spielte gerade jenes alte Tränendrüsenlied mit den Zeilen no soy de aquí, ni soy de allá (ich bin nicht von hier, noch bin ich von dort“.

Keine der Fahnen behagt mir. Falls im Nahen Osten das Wasser ausgeht, kehre ich nach Venezuela zurück. Falls ein neuer Krieg ausbricht, falls ich ein Attentat aus nächster Nähe erlebe, falls das Mittelmeer vor Medusen brennt, falls die so sehr versprochene Atombombe endlich auf dieser Seite landet, kehre ich nach Hause zurück. Aber mein Zuhause ist nicht mehr mein Zuhause, sondern ein Schlachtfeld, auf dem die Gewalt und die Verbrecherbanden mit großen Abstand über jede gute Absicht siegen. Mit Venezuela geht es den Bach hinunter dank seiner Irrfahrt mit Kurs auf ein Ziel namens „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ oder trotz dieses Unterfangens. Eine vorgeblich neuartige Doktrin, die aber auf uralten Konzepten und Worten aufbaut.

Seit zehn Jahren ist der Staat damit zugange, die Namen der Ministerien, der Institute, der Abteilungen, der Banken, der Fernsehanstalten, der Währung zu ändern. Alles muss einen Namen erhalten, der der neuen politischen Realität entspricht. Ich weiß von nichts mehr, wie es heißt. Währenddessen hält uns die Titelseite einer Auflage starken Tageszeitung eine schmerzhafte Realität vor Augen: Auf dem Foto sieht man die verhüllten Körper  von einem Dutzend Toten in einem Leichenschauhaus, die aus Platzmangel auf irgendeinem Flur aufgetürmt wurden. Alle wurden an einem x-beliebigen Wochenende in Caracas von Kriminellen ermordet. Körper, die verwesen, ohne dass jemand ihnen die Augen schließt und für das Begräbnis (ein Massengrab, natürlich) zurecht macht. Ein Krieg. Wenn irgendjemand sagt, dass er oder sie es nicht mehr aushält, mit so viel Gewalt zu leben, findet ein Minister das lustig. Vielleicht bezichtigt er diese Tageszeitung der Eschatologie und veranlasst ihre Schließung, um sich so von seinem riesigen Lacher zu erholen.

Dasselbe Lachen, mit dem sich eine Soldatin der israelischen Armee umringt von gefesselten palästinensischen Gefangenen mit verbundenen Augen portraitieren lässt. Die beste Zeit ihres Lebens – schreibt sie auf ihrer Facebook-Seite, auf der sie das heute berühmte Foto veröffentlicht, mit dem sie sich sofort einen Namen machte.

Wie es aussieht, gibt es in meinen zwei Ländern dieses Lachen in Hülle und Fülle. Und die Kadaver. Und die Entführungen. Und die Festgenommenen. Und die politischen Gefangenen. Und die Kriege. Und die Guerillas. In Venezuela gibt es mehr Hunger, das schon. Und ein tausend Jahre altes Elend, das niemanden schmerzt.

Meine bürgerschaftliche Teilhabe ist gleich Null. Ich lebe in meinem imaginären Land, meinem virtuellen Land, meinem Atom-U-Boot, meinem Asteroid B612. Wenn Krieg ist, schließe ich die Fenster, um ihn nicht zu hören. Ich recycle keinen Müll, ich spare kein Wasser, ich hoffe, dass das Ozonloch groß genug ist, um all die Ungerechtigkeiten zu verschlingen. Ich demonstriere nicht für irgendeine Minderheit, denn ich bin die Minderheit der Minderheiten. Niemand würde für mich auf die Straße gehen, genauso wie niemand denkt, dass meine politische Meinung irgendeinen Wert hat, da ich ja so weit weg bin, da ich ja so ausländisch bin.

Übersetzung: Anne Becker

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