Sehnsucht – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Wie jemand, der umzieht, packte ich meinen Koffer http://superdemokraticos.com/poetologie/wie-jemand-der-umzieht-packte-ich-meine-koffer/ http://superdemokraticos.com/poetologie/wie-jemand-der-umzieht-packte-ich-meine-koffer/#comments Tue, 15 Jun 2010 21:22:21 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=263 Geboren bin ich 1971 in Caracas, aber eigentlich habe ich dort kaum gelebt. Als ich klein war, zog meine Familie in eine Stadt im Osten von Venezuela. Ein klitzekleine Stadt, jedoch mit sehr viel Öl. Eines Tages kamen Menschen von überall her hier an, um ihr Glück mit dem Öl zu machen; und der Bauboom, das Geld, die Sprachen und Menschenmassen verwandelten meine Stadt in eine kaputte Metropole. Auf dem Höhepunkt des Ölbooms verließ ich die Stadt und zog zum Literaturstudium ein Stück weiter, in eine immer noch im Osten gelegene Stadt an der Küste, von der man vor Ort sagt, sie sei die erste Stadt gewesen, die die Spanier auf dem Kontinent gründeten. Doch da dies nur die Leute wissen, die dort wohnen, kann es gut sein, dass es sich um eine lokale Legende handelt. Auf jeden Fall habe ich das nie woanders gehört oder gelesen. Wie dem auch sei – diese Stadt an einer Karibikküste fast ohne Touristen sieht eher aus wie die letzte Stadt des Kontinents.

Später bin ich in meine Geburtsstadt Caracas als Fremde zurückgekehrt: Ich kannte weder ihre Straßen und Ecken noch ihre Gewalt. Sogar der Akzent der Bewohner war mir fremd. Dort studierte ich einen Master in Lateinamerikanischer Literatur. Im Jahr 2000 begegnete ich einem Argentinier-Israeli. Wir überquerten mehrfach den Ozean, um uns kennen zu lernen und erkennen zu lernen. Mitte 2001 beschlossen wir zusammenzuziehen. Wie jemand, der umzieht, packte ich meinen Koffer mit ein paar Anziehsachen und ein paar Büchern und traf so in einem Kibbutz im Süden Israels ein, was so viel heißt wie inmitten des Nichts. Die Kargheit der Wüste füllte meine ersten Jahre: Ich tat nichts außer vor laufendem Fernseher, in dem ich rund um die Uhr Telenovela-Sendungen schaute, aus Sehnsucht zu rauchen und zu heulen. Ich brauchte es, meine Sprache zu hören und mich ein wenig zu ent-fremden angesichts  eines erdrückend fremden Alphabets, angesichts der Attentate und ihrer wohlbekannten Repressalien, der Kriege, der Unterschiede. Mit der Zeit verwandelten sich meine Sehnsüchte auch in hiesige und meine Sprache versetzte sich mit semitischen Lauten. Heute bin ich von hier und von dort, aber zugleich bin ich auch von nirgendwo.

Von diesem anderen Osten aus schreibe ich in einer anderen Sprache, als jener die mich umgibt, ich träume in zwei Sprachen und leide an den Ungerechtigkeiten von hier und dort. Ich gebe Spanischunterricht. Ich möchte zurückkehren, aber ich weiß nicht wohin.  Ich glaube, dass die Literatur eine Religion ist. Ich habe zwei kleine Kinder, die mir jeden Tag alle möglichen Wunder zeigen. Mit all diesen Themen stricke ich ein Blog. Ich habe ein Buch mit Kurzgeschichten veröffentlicht: „Los jardines de Salomón“ (Die Gärten des Salomon), für das ich den 1. Preis der Bienal Narrativa José Antonio Ramos Sucre in Venezuela  gewann. Derzeit schreibe ich an einem Roman, einem venezolanischen Roman, geschrieben im Norden von einer der vielen Wüsten auf dieser Seite der Erdkugel.

Übersetzung: Anne Becker

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