rimbaud – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Ontbijtjes http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ontbijtjes/ Thu, 21 Oct 2010 13:23:05 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2671

29a Bienal SP © Sabine Scho

Zurück am Schreibtisch in São Paulo, den Blick auf die Sendemasten der Avenida Paulista gerichtet, der Verkehr rauscht, Kinos in Laufnähe, den Ibirapuerapark mit der Biennale vor der Tür. Ein privilegiertes Leben und doch ein wenig lost in Translation und im falschen Film, aber, was solls, was schadet schon das Wandern, wenn Romulo Froes nicht weniger schön als David Bowie Lieder von einer jedweden Odyssee zwischen Bangkok und Calgary zu komponieren weiß.

Ich kann eigentlich nur Melancholie, was soll ich auch anderes zu Wege bringen, wenn mich einsame Langstreckenläufer oder frühe zu Bett Gänger, oder eigenschaftslose Männer, die sich ein Jahr Urlaub von ihrem Leben nehmen, also kurz gesagt, Protagonisten, die nichts beherzt angehen, sondern sich treiben lassen, für sich einnehmen?

Müßiggänger, erdacht von Menschen, die wohl alles andere als das waren, sondern unermüdlich an abgelehnten Habilitationen schrieben, mit der immer wieder enttäuschten Hoffnung auf Arbeit, die endlich mal ein angemessenes Auskommen hätte gewähren können, und die ihrer Berliner Kindheit nachsannen: Wie sie dem Fischotter zusahen, der im Dunkel des Teichs verschwand, wie sie in der Dämmerung dem verhaltenen Knall beim Entzünden der Gaslaterne lauschten, wie sie das Telefon und damit die Geschäftigkeit der Kontrakte machenden Welt in ihre Verstecke einbrachen sahen, wie sie ihren Blick immer rückwärts richteten und ein Sturm vom Paradies sie mit dem Rücken in die Zukunft blies.

Und nicht viel mehr wünsche ich mir von Dichtern heute, als dass sie wie Wolfgang Herrndorf schreiben: „Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.”

Es ist die Knipserin in mir, die sich diesen Stillstand wünscht, einen freeze frame, die nach einem Eishockeyspiel, wie der Kupferstecher die Radierung von der Platte, die Zufallsgrafik der Kufen vom Eisfeld nehmen möchte und darin Sieg und Niederlage nicht anders deuten könnte, als ein Falkner die Himmelsspur seines Raubvogels. Bilder, aus denen die Motive längst entschwunden sind. Vielleicht, weil ich mich noch nie zur rechten Zeit am rechten Ort wähnte und mich nie wirklich nah genug heran wagte, um mit Robert Capa sagen zu wollen: If your photographs aren’t good enough, you are not close enough.

Ich war immer erst zur Stelle, wenn das Konzert schon begonnen hatte und die Party schon abgefrühstückt war. Vielleicht daher auch der Wunsch, die Welt wie ein Ontbijtje zu lesen, ein Barockstilleben, dass mehr noch von einem Zuspätkommen als einer Stellvertretung der Menschen erzählt, und vielleicht auch daher die Melancholie, die ihre autosentimentalen Geschichten nie aus der Gegenwart schöpft, sondern etwa aus einem Regentag in einem Hamburger Fahrradladen, in dem sie einmal selbstvergessen stand, um sich ein Bild zu machen für ihr Album:

tagessieger

ich sah euch alle wanken a. rimbaud

contre la morte im wiegetritt
im frühjahr vielleicht
durch den rahmen bläst es
gischt und schaum in dolden
wenn winde gehen, segeln
fallen die treidler zurück
können nicht mehr folgen
treiben auf den planken
ihrer leicht gebauten räder
gemartert wie an bunten pfählen
gejohle um sich her, kurbeln
wie verrückt, mit nach innen
verlegten zügen, ein sehnen-
relief aus gliedern, und einem
geharnischten blick

ihr treibgut bin ich
verkapselte strapaze
pochen in den schläfen
reißen in den beinen
ich trete auf der stelle
die bilder lernen laufen
praxinoscoper reigen
ohne ende, die ankunft
auf die schnelle
muss enttäuschen
die knie schmerzen
schweißperlenbildend
schweigend, der narr in gelb
der den weg zum sieger kürt

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Zufällige Begegnungen mit zufälligen Fremden in einem Telecafé: Meine Freundinnen der Oberstufe erforschten die unergründlichen Möglichkeiten des Internets, während ich Gedichte aus dem Netz in ein blaues Notizheft kopierte. Die ersten Fiktionen waren Lügen, aber der Spaß währte nicht lange, wenn du jemandem sagtest, du seist ein dicker Gefängnisaufseher, der um Mitternacht gelangweilt in einem Hochsicherheitsgefängnis kandierte Erdnüsse isst, weil niemals etwas passiert und du dich nicht einmal mit den Gefangenen unterhalten kannst, weil sie vor ihren Laptops sitzen und über hi5 neue Verbrechen koordinieren. Oder wenn du einem potentiellen Mann sagtest, du seist eine legasthenische Blonde mit Infarktpotential, die einst schwor, jungfräulich in die Ehe zu gehen, die aber in dieser einzigen Nacht beschloss, alles zum Teufel zu schicken und sich mit einem Nutzer des Latinchats im Bett zu wälzen. Relative Freiheit. Sie gleicht dem nackten Gang durch dein Haus, es ist kaum möglich, dich alleine zu bekleiden, bis du dich erkältest oder etwas Schlimmeres zuziehst. Sofortige Beratung bei medicinplus.com, das die Symptome feststellt. Du beschließt, aus reiner Neugier Gratisproben gegen bipolare Störungen zu bestellen oder außergewöhnliche sexuelle Störungen zu sammeln, um eine Erzählung damit zu füllen.

Der Akt der Registrierung war einmal ein Motiv für Argwohn: Meine persönlichen Daten? Gebe ich meine beiden Nachnamen an, beide Telefonnummern, beide sexuellen Orientierungen, meine vollständige Adresse? Wer steckt dahinter? Gibt es im Cyberspace einen Gott oder einfach nur Operatoren? Später stellst du fest, dass es eine binäre Schlange gibt, die durch die Computer der Welt kriecht und unsere Eigenartigkeiten in einer riesigen Datenbank vernetzt, aber das ist nichts Persönliches.

Als Kind betrachtete ich das Foto mit Rimbaud in der Mitte. „Ich möchte auch sterben und von mir soll nur ein einziges, schmutziges Bild die Zeit überdauern, das in einem von gelehrten Silberfischchen angefressenen Buch gefunden wird, und so würden mich meine zukünftigen Leser wie ein Heiligenbildchen betrachten.“ Die Ankunft der Digitalkamera beerdigte meine kindlichen und heidnischen Träume. „Zur Erinnerung, zur Erinnerung!“ Und so entstehen 10, 90, 450 Momentaufnahmen, die nicht notwendigerweise historisch sind, aber ich kann die Markierungen entfernen. Ich mache weder das Zeichen für Liebe oder Frieden noch strecke ich die Zunge raus. Du verlierst das Recht über dein Bild, die binäre Schlange hat deinen Schatten gescannt und hat sie auf den Baum der oberflächlichen Kenntnis gehoben. Es ist verwirrend. Meine verschlossenste Freundin ist aktives Mitglied eines BDSM-Forums, ein durch den Zahnarzt betäubtes Kind ein globales Ereignis, so viel entbehrliche Informationen, die dir raten, Dinge an Menschen, die du liebst, weiterzuleiten, um ihre Tage zu erheitern

Wir befinden uns Ende 2010. Die Technologie liegt dem menschlichen Herzen zugrunde, die Landschaft ist ein chrom-grüner Monitor. Wir könnten überall sein, der Jetlag verschwindet mit dem Breitband. Diese Frau kann sich operieren lassen, um wie Brangelina zu strahlen. Es wird bestätigt, dass Woody Allen eine Szene dreißigmal wiederholen musste, in der Carla Bruni lediglich gehen musste; ein Monat später wird die erste französische Dame Hündin genannt, weil sie eine iranische Frau verteidigt, die aufgrund eines Ehebruchs zur Steinigung verurteilt ist. Lady Gaga ist die erfolgreichste Künstlerin des Universums und repräsentiert all jene (uns), die sich immer anormal gefühlt haben. Einer der im Ausland herausragendsten Peruaner, der Fotograf Mario Testino, weiht – begleitet von Kate Moss – in Lima eine Porträtaustellung ein, die unter dem Motto „Wie schwer es sein muss, kein Peruaner zu sein“ steht. Es kommen auch T-Shirts in Mode, auf denen steht: „Wie schwer es sein muss, nicht Testino zu sein.“ Alle sagen, dass die Welt zu Ende geht, aber sie laden weiterhin Archive runter. Es gibt Menschen, die mit einem Link grüßen. Es gibt viele Künstler in Madrid und Berlin. Es gibt eine neapolitanische Tänzerin mit österreichischen Vorfahren, die in Puerto Rico geboren wurde und aus Caracas kommt, dank eines in Paris ansässigen Kubaners. Ein peruanischer Präsident tritt in Japan zurück, und indem er sich auf seine doppelte Staatsbürgerschaft beruft, verzögert er seine Auslieferung um fünf Jahre. Sind das Beispiele für Globalisierung?

Mit dem Breitband verschwindet der Jet, es ist schwierig, im globalen Dorf Geheimnisse zu wahren. Sensationelles Werkzeug, um Kontakt, hervorragende Zusammenarbeit, innige Freundschaften herzustellen. Bis es das Natürlichste auf der Welt ist, sich öffentlich zu beschweren und zu fantasieren, Hausmittel und Dichter zu empfehlen und lautstark zu lieben. Was du tust und die Ideale, die du unterstützt, zu verbreiten. Ich lasse mich durch die Zeiten tragen und bin eine gute virtuelle Staatsbürgerin, jede Nacht leere ich den Spamordner, aber heimlich bewahre ich die Gewissheit, dass mein Bild mir gehört.

Es ist im August 2010, als ich ein absurdes Fanzine bastele, in das ich ein Nacktfoto von mir in niedriger Auflösung einfüge, es zwanzigmal vervielfältige und auf einem lokalen Markt unter die Leute bringe.

Übersetzung: Marcela Knapp

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