RDA – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Armut und Anmut http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/armut-und-anmut/ Wed, 28 Sep 2011 06:00:17 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5127 Im Herbst 1988 habe ich die DDR bereist, zusammen mit einem Freund, mit dem Fahrrad. Wir kamen mit dem Zug aus München, was so ungefähr das Gegenteil der ganzen Angelegenheit DDR war. In Rostock feierte ich meinen zwanzigsten Geburtstag, und Rostock war damals exotischer als Neu-Delhi. Wenn ich heute jungen Menschen erzähle, dass man im alten West-Berlin den Ost-Berliner Fernsehturm einfach nicht wahrnahm, obwohl er doch nun in wirklich jeder Sichtachse steht: Glauben sie nicht. Darüber habe ich mich eine Zeitlang aufgeregt, aber es hat keinen Sinn, der Kalte Krieg ist Geschichte und das, sage ich mal von Berlin aus, ist auch gut so.

Um die DDR habe ich dann 20 Jahre getrauert, keine schlechte Zeit, immerhin meine Jugend, aber doch depressionsgeprägt. Es ist einfach schlechtes Timing, wenn die Zeitläufte nicht parallel zum Lebensalter laufen. Aber wie sagte der Dichter Ronald M. Schernikau ungefähr: Was macht der Künstler, wenn keine Revolution ansteht? Na Kunst!

„Sollte man glauben, daß der Depotismus Anhänger gefunden hat, weil er die schönen Künste fördert? Es ist nicht zu sagen, wie sehr das Zeitalter Ludwigs XIV. die Zahl der Leute, die so denken, vermehrt hat. Der Endzweck der Gesellschaft scheint ihnen zu sein, daß es schöne Tragödien und Komödien gibt. Diese Leute sehen alles Böse nach, was die Priester angerichtet haben, weil wir ohne Priester keinen Tartuffe hätten.“ Das ist wirklich in nuce die DDR, wie viele meiner Freunde (viele meiner besten) sie immer noch sehen: Ein Kulturstaat (und billige-gute-Brötchen-Staat; Recht-auf-Arbeit-Staat usw). Ein Staat der einen Dichter wie Peter Hacks hervorgebracht hat! Den Aphorismus oben habe ich in einer Ausgabe der „Französischen Moralisten“ gefunden, er stammt von Chamfort. Die Ausgabe lag bei mir in Neukölln beim Trödler, irgendein alter DDR-Bürger war gestorben, und seine gesamte schöne Leinen-Bibliothek ruhte nun in Bananenkisten in der Sonne und bevor sie im Regen aufquellen würde, kaufte ich zwanzig Stück für 10 Euro (solange es den Euro noch gibt, sollte man Vernünftiges damit anfangen).

Ich habe inzwischen in meiner Zeitung geschrieben, dass die die DDR ein Scheißstaat war, was mir viele meiner Freunde natürlich übel genommen haben (und meine Nicht-Freunde erst), aber Argumente haben sie keine. Da muss schon meine Nachbarin kommen (Jahrgang 1982, Ostberlin, aufgewachsen im oppositionellen Pfarrersmilieu) und mir sagen, dass die Reise durch die DDR für mich vielleicht nicht nur deswegen so wichtig war, weil ich durch die DDR radelte, sondern weil ich durch ein Mecklenburg fuhr, wo man stundenlang keinem Menschen (keinem Auto) begegnete, wo nur der Himmel immer war. Wir hatten Rügen und Belügen, sagt der Dichter Tom Schulz.

Nun stocke ich. Ich denke an den Bundestagsabgeordneten der Grünen, mit dem ich mich kürzlich unterhielt. Ich redete vom Grundeinkommen und darüber, dass all meine Altersgenossen, die sich in Baugruppen, Baumärkten und Wochenendbauwagen in der Uckermark als Immobilienbesitzer verwirklichen, das in der Regel nicht mit selbst verdientem Geld tun, sondern mit den noch üppigen Renten ihrer Eltern. Wir aber, sagte ich, werden nichts zu vererben haben. Der grüne Abgeordnete, von Haus aus Armutsforscher, sagte: Die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland hat schon jetzt nichts zu vererben. Sie besitzt nichts, außer vielleicht einem Auto (das der Bank gehört) und ein wenig Elektroschrott.

Die Antwort auf die Armut kann nicht der Despotismus sein. Trotzdem möchte ich festhalten, dass die nette Volkspolizistin, die sehr Haarspray gestärkt unsere Einreiseunterlagen prüfte, lächelte, als sie abschließend sagte: Da wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt in unserer Republik.

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Deutschland, 13. August 2011 http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/deutschland-13-august-2011/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/deutschland-13-august-2011/#comments Wed, 07 Sep 2011 06:54:07 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5027 Der Raum verengte sich. Allmählich wurde alles dicht gemacht. Bildbearbeitung, Dunkelkammer, Analogfotografie.

Habe ich ein Verhältnis zu dem Land, in dem ich geboren wurde, aufwuchs, lebe; – das ich nie länger verlassen habe als für vier Wochen? Und immer in der Nähe geblieben, nie aus Europa raus. Und als ich die Gelegenheit bekam, mich für ein anderes Land zu entscheiden, wollte ich nicht.

Schland und Zucker

„Das alles führte dazu, dass ich mich für den östlichen Teil Deutschlands entschied.“

Den ersten Tag der deutschen Einheit, den 3. Oktober 1990, habe ich in London, England, verbracht. Ich habe eine Nacht auf einer Parkbank geschlafen, irgendwo im Norden der Stadt, weil die Tube nicht mehr fuhr, und die Indie-Disko schon um 2 Uhr dicht gemacht hatte. Die erste Tube fuhr um halb sieben, half past six, und ich hatte mich um eine Stunde verschätzt, weil ich dachte half past six bedeute halb sechs.

Das Hotel erreichte ich dann gegen sieben.

Im Folgenden habe ich es fast in jedem Jahr geschafft, zum Tag der deutschen Einheit im Ausland zu sein. Republikflucht.

Später, im neuen Millenium, bin ich vom Rheinland nach Berlin gezogen, auch der Geschichte wegen. Faszination für die Hauptstadt, die einmal untergegangen war, und dann geteilt wurde, und im Osten wieder Hauptstadt war, bis die Mauer fiel, und Zwischenjahre vergingen, Zwischenjahre, die ich in Köln verbracht habe, der damaligen gefühlten Hauptstadt der rheinischen Republik, bis Berlin wieder zur Hauptstadt wurde, eine Hauptstadt mit Narben, mit Weite, mit Farben, und eine andere Hauptstadt als Paris, Rom, London, Madrid –

„Wir erklären uns solidarisch mit allen Bürgern, die nach 1990 für ihr verfassungsgemäßes Handeln zum Schutze der DDR von der Bundesrepublik Deutschland diskriminiert, kriminalisiert, verfolgt, bestraft und inhaftiert wurden und fordern ihre Rehabilitierung.“

Der 13. August 2011 ist ein Samstag. Morgens in der Bahn sitze ich zwei Teenie-Pärchen gegenüber. Die Mädchen auf dem Schoß der Jungen. Sie alle sind höchstens sechzehn (also in dem Alter, das sie für gewisse CDU-ler interessant werden lässt) und ich bin ob ihrer Unbefangenheit und Innigkeit sehr überrascht – das hatte es bei uns nicht gegeben, damals, als ich sechzehn war, da herrschte immer die Angst vor der Peinlichkeit, und der Bestimmung, und überhaupt die Angst vor dem Zwischengeschlechtlichen – damals, als die Mauer noch stand, 1987.

„Nun hatte der frühere US-Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius D. Clay, der nach dem 13. August als persönlicher Vertreter des US-Präsidenten nach Westberlin geschickt worden war, verschiedene Attacken auf die Grenze veranlasst, und ich hatte vom Stadtkommandanten Helmut Poppe den Befehl erhalten, mich an der Friedrichstraße aufzuhalten und darauf hinzuwirken, dass keine größeren Provokationen stattfanden.“

1987, habe ich überlegt, wäre eigentlich eine Zeitreise wert. Ich würde mir Zettelchen schreiben mit Hinweisen, Ratschlägen –
Petra küssen, Michaela küssen, Stefanie küssen –
bestimmte Schallplatten zulegen –

1987, Gorbatschow, Helmut Kohl, Hanns-Dietrich Genscher –
Flohmärkte, Restbestände, alte Postkarten in Schwarzweiß, Fotografien von Garagendächern, Fotos von bunten Tapeten, von Männern und Frauen vor Bergen und Tälern, ich könnte ein anderer Mann geworden sein.

1987, eine Zeitreise, ich stelle mir Selbstbegegnungen vor, auch unter sexuellen Vorzeichen – „Hilfe, ich wurde von mir selbst missbraucht“, usw. – ganz à la „Die Wirkung ging der Ursache voraus“.

Das geteilte Deutschland, das eine und das andere Deutschland, ein Österreicher ist ein Deutscher mit Hut, in der Schweiz hat man eine Ablautreihe nicht mitgemacht, in Luxemburg wird alles zerkaut, in Belgien die Ostkantone, „etwas Besseres als die Nation“, nicht schwer eigentlich, das zu finden, und wie war das mit der Mauer, ist das nicht langsam mal egal, die Mauer ist doch auch von kommunistischer Seite von vorne herein ein Fehler gewesen, immer diese Defensiven, die dann auch noch offensiv und gleichsam beleidigt verteidigt werden mussten, müssen, und ausgerechnet heute macht eine der beiden Zeitungen, für die ich arbeite, mit einer missglückten Satire auf, „Danke für 28 Jahre ohne Kapitalismus“, kann man das so machen, nein, das kann man eigentlich nicht so machen, eigentlich nicht, nein.

„Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Russen regieren zu wollen, ist ein Wahn.“

Deutschland: Das Wetter ist bescheiden, wie im ganzen Sommer. Wir bekommen allmählich Angst. Das Wetter war immer schon ein Argument gegen dieses Land gewesen. Dieses Land war immer zu kalt, sonnenarm, winterfest, regnerisch und trübe gewesen, kein Vergleich zu den mediterranen Sommern, vier Monate lange Hitzeperioden – davon träumte ich, an diesem Nachmittag in der Übergangsjacke, von den tropischen Nächten, von denen es in diesem Sommer eine, höchstens zwei gegeben hatte; eine typisch deutsche Sehnsucht also tauchte auf, die Sehnsucht nach Wärme.

Ein Mann neben mir, alt, verhuscht, weite, hellbraune Cordhose, Pullover in verwaschenen Farben, darüber eine abgetragene, bleichschwarze Weste, liest sich laut die BZ vor. Ich schaue aus dem Fenster. Jemand hat Hammer und Sichel an eine Häuserwand gesprüht; es sieht aus wie ein umgedrehtes Euro-Zeichen.

PA oder Partei. Hinter jedem Vertrag steht die Polizei.
Fotolagen, Redaktionsschluss, Bebilderungsfragen, niemand nimmt sein Foto mit ins Bett.

„Besser ein zerstückeltes Deutschland, von dem wenigstens der westliche Teil als Prellbock für die Kräfte des Totalitarismus wirkt, als ein geeintes Deutschland, das diese Kräfte wieder bis an die Nordsee vorlässt.“

Im Fernsehen war zu hören, dass auch der Bevölkerungsrückgang für den Frieden in Europa seit 1945 sorgte, neben dem allgemeinen Wohlstand. Es herrschten Ruhe, Zufriedenheit, Platz. Kein Volk konnte sich ein Millionenheer leisten.

Ein Mann in Militärhosen besah sich einen Bogen zur Steuermeldung.
Keine Harmonie mit Nazis.

Abends als fünftes Rad zum Pärchenabendessen. Die Frauen zogen sich in die Küche zurück, um über Beziehungen zu reden, die Männer blieben am Esstisch und redeten über Musik.

Etwas Besseres als die Nation.

Zitate aus: junge Welt, 13. August 2011

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Die Fremde, die Freiheit und das Leben http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-fremde-die-freiheit-und-das-leben/ Wed, 01 Sep 2010 15:08:48 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1554 In der vergangenen Woche habe ich viel Zeit mit einem Freund aus Amerika verbracht. Aus beiden Amerikas, wenn man so will. Javier ist Kolumbianer, lebt aber seit 16 Jahren in New York City. Er hat nicht vor, die Staaten jemals wieder zu verlassen. Im April ist er offiziell in den USA eingebürgert worden ist. Die Reise nach Berlin ist seine erste mit dem neuen Pass. Vorgestern hab ich ihn gefragt, ob er sich eigentlich mehr kolumbianisch oder mehr US-amerikanisch fühlt. Zu meiner Überraschung hat er nicht lange überlegt: „Ich bin US-Bürger“. „Inzwischen“, hat er dann angefügt.

Unsere gemeinsame Freundin Xenia, die aus Odessa am Schwarzen Meer stammt, genauso lange wie Javier in New York City lebt und ebenfalls die US-amerikanische Staatbürgerschaft hat, antwortet da immer etwas situationsabhängiger. Mal stellt sie sich als Russin vor, mal als Amerikanerin, manchmal als Ukrainerin. Je nach dem, was ihr passend erscheint. Sobald sie die Muttersprache ihres deutschen Ehemanns (und ihrer neuen Heimat) spricht, wird das ihre vierte Option werden. Das steht jetzt schon fest. Und irgendwie hätte sie damit auch Recht.

Ich fühle mich beiden darin eng verbunden. Das Thema Emigration begleitet mich mein halbes Leben – dabei hat es nur ein paar kurze Jahre lang eine konkrete Rolle gespielt. Doch der Schatten, den es damals auf mich und mein Dasein geworfen hat, ist bis heute riesig.

Seit ich fünfzehn war, hatte ich Pläne die DDR zu verlassen, seit ich siebzehn war, waren sie konkret. Ich wäre im Sommer 1990 ausgereist. So oder so. Aus der DDR auszureisen, bedeutete nicht einfach in ein anderes Land umzuziehen: Es bedeutete ganz und gar wegzugehen, seine Familie und die Freunde für immer zu verlassen. Vielleicht hätte ich keinen von ihnen jemals wieder gesehen. Ich wusste das. Es war der Preis meiner Freiheit. Ich kann bis heute nur ahnen, wie sehr ich unter der Trennung gelitten hätte.

Doch dann fiel 1989 die Mauer und ich musste nicht gehen. Ich war 18 Jahre alt, konnte studieren, konnte reisen, konnte selbst die Entscheidungen über mein Leben treffen. Und ich konnte all das tun, ohne meine Familie zu verlassen. Mir ist das Schlimmste erspart worden, und trotzdem ist in mir etwas geblieben von den geheimen Plänen damals, von der Jugend im isolierten Land, von den Träumen nach Freiheit, die sich nur in der Ferne unter Fremden verwirklichen kann.

Auf Reisen bin ich das frisch entkommene DDR-Kind geblieben, das glücklich und dankbar ist, wie durch ein Wunder doch noch die weite Welt sehen zu dürfen. Vor allem wenn ich in Amerika bin (im Süden genau wie im Norden), holt mich dieses Thema jedesmal ein. Nach wie vor. Eigentlich bewegt mich dort fast nichts anderes. Die Fremde, die Freiheit und das Leben. Ich kann gar nicht anders. Irgendwie habe ich den Fluchtinstinkt von damals bewahrt – oder werd ich ihn bloß nicht mehr los? Bin ich für immer ein Flüchtling, obwohl ich in Wahrheit nie einer war? Ich weiß es nicht.

In „Reise im Mondlicht“ (1937) lässt Antal Szerb seinen Protagonisten durch Venedig laufen und etwas fühlen, das ich sehr gut kenne: „Wenn er die Arme ausbreitete, konnte er links und rechts die Hauswände berühren, die schweigenden Häuser mit den großen dunklen Fenstern hinter denen sich, dachte er, geheimnisvolles und intensiv italienisches Leben abspielte.“ – genau diese Empfindung beherrscht auch mich, wenn ich in Amerika bin. Egal ob New York City oder Santiago de Chile. Ich laufe durch die Straßen, schaue fasziniert dem Leben dort zu (das dann natürlich nicht intensiv italienisch sondern intensiv chilenisch oder newyorkerisch oder was immer ist) und staune. Und dann fliegen in meinem Kopf plötzlich Bilder und Gedanken herum. Haarscharf am Logikzentrum vorbei und mit derselben Geschwindigkeit wie Landschaften am ICE… Ich bin dann stets verwirrt, aber auch stets erfüllt von tiefem Trost, wie ich ihn Zuhause selten fühle. Wenigstens für kurze Zeit bin ich dann voller Hoffnung, weil ich weiß, dass es einen Ort gibt, an den ich immer werde fliehen können, wenn es nötig werden sollte. Und das Leben am Ende immer einfach nur Leben ist.

Amerika war lange Jahre mein Licht am anderen Ufer. Es leuchtet immer noch. Und beruhigt mich. Es ist gut zu wissen, dass man weit weg gehen kann und immer noch da sein wird.

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Angie alleine in der Pampa http://superdemokraticos.com/editorial/angie-alleine-in-der-pampa/ http://superdemokraticos.com/editorial/angie-alleine-in-der-pampa/#comments Sun, 22 Aug 2010 15:22:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1140 Dieser Titel kam mir in den Kopf, als ich die Zeichnung von Valia Carvalho sah, die uns in den nächsten Wochen als Illustration des aktuellen Themas begleiten wird: Bürger sein. Die Frisur, die klobige Körperform, das gepunktete Kleid – wie ein Kittel –, das einzelstehende Haus im Hintergrund, das einen dunklen Schatten wirft, erinnerten mich an die deutsche Kanzlerin. Angie, so nennen die Deutschen ihre Regierungschefin, wuchs in der verschwundenen Deutschen Demokratischen Republik als Pastorentochter auf. Sie studierte Physik in Leipzig und schrieb 1978 ihre Diplomarbeit über „Der Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien“. Sie heiratete zweimal und hat keine Kinder. Ihre politische Karriere begann im Herbst 1989 als ehrenamtliche Mitarbeiterin des „Demokratischen Aufbruchs“ (DA), nachdem sie an der Demonstration „gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit“ auf dem Alexanderplatz teilgenommen hatte. Diese Demo vom 4. November ist sicherlich eines der jüngsten weltweiten Beispiele für die Bedeutung und den Wert von Zivilgesellschaft. Die Aktion begann als eine Initiative von Schauspielern und Arbeitern an zwei Ostberliner Theatern sowie vieler Künstler und schaffte es, etwa eine halbe Million Menschen zu versammeln. Die Grundidee war, das Volk als Träger der Landeshoheit einzufordern: Die Parole lautete „Wir sind das Volk“, und dieses Volk entschied durch diese Performance, aus eigener Kraft demokratisch zu sein. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen, die diese Bewegung unterstützten, nicht aufhören wollten, Sozialisten zu sein. Dass viele Menschen nicht damit einverstanden sind, wie die Wiedervereinigung umgesetzt wurde. Claudia Rusch spricht darüber in ihrem Essay.

Auf der anderen Seite erklärt uns Agustín Calcagno die Gründe, warum er selbst die Zivilbewegungen unterstützt, welche „demokratische Revolutionen“ herbeigeführt haben und sich als „bolivariano“ bezeichen, ein Begriff, den der venezolanische Präsident Hugo Chavez geprägt hat. Liliana Lara lässt uns mit einer gewissen Melancholie zurück, die einer Fremden, die den Wandel in den Gebieten, die sie bewohnt, direkt wahrnimmt. Die Distanz hat sie dazu gebracht, eine „virtuelle Kommandobrücke“ zu erschaffen, von dort aus teletransportiert sie sich in eine der beiden Wirklichkeiten, in denen sie gebraucht wird. Und ich verstehe sie völlig. Auf meinem Breitengrad lebe ich ähnlich, und ich sehe die Revolution, die gerade in Bolivien passiert, aus der Ferne. Oft frage ich mich, ob diejenigen, die so fühlen wie ich, Demokraten sein und weiter Sozialisten bleiben wollen. Das Volk hat souverän darüber entschieden, die Revolution zu unterstützen, und die Antwort des Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist es, abseits von allen Diskursen, jene Institutionen zu schleifen, die demokratische Transparenz garantieren. Augenscheinlich ist ein Hauptvorschlag, in das Jahr 1917 zurückzukehren, als hätte es 1989 nicht gegeben. Als ich noch klein war, herrschte in Bolivien noch eine Diktatur. Wir lebten in Santa Cruz und mein Vater verband mir den Arm oder den Fuß, um durch die Polizeikontrollen zu kommen und seine Pokerrunden zu treffen.

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Geschichte und Geschichten http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-und-geschichten/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-und-geschichten/#comments Wed, 07 Jul 2010 14:03:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=431 Augenscheinlich sind mir Geschichten wichtiger als Geschichte, sonst wäre ich ja Historikerin und nicht Schriftstellerin geworden – doch Geschichte spielt immer eine entscheidende Rolle. Ob man es möchte oder nicht. Auch beim Schreiben.

Literatur würde ohne althergebrachte Sprache und Alphabet, die beide schon allein Beweis dafür sind, wie wir aus und mit der Vergangenheit leben, gar nicht existieren. Auch das Geschichtenerzählen selbst ist dem Betrachten historischer Zusammenhänge nicht unähnlich, schließlich muss der Autor herausfinden, was der Kern des Geschehens ist, was die Figuren getrieben hat, warum sie so handeln wie sie handeln, um am Ende aus diesen Einzelfäden das Handlungsnetz zu weben.

Doch das einfachste und offensichtlichste ist natürlich der Umstand, dass Geschichte die Menschen formt. Lange bevor wir geboren werden. Ich bin nur deshalb die Person, also die Autorin, die ich bin, weil die Geschichte meines Landes einen so massiven Einfluss auf das Geschick meiner Familie genommen hat – und damit auf mein Leben. Meine Großmutter verlor als junge Frau durch den II. Weltkrieg alles, was ihr bis dahin selbstverständlich erschien: ihre Heimat, ihr Elternhaus, fast alle Verwandten, die Freunde, die Orte ihrer Kindheit, ihren Dialekt. Mein Großvater, der in seinem vom Krieg völlig unberührt gebliebenen Heimatdorf einen kleinen Skandal verursachte, als er ein Flüchtlingsmädchen und keine Einheimische heiratete, starb 1967 im Alter von 42 Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen in einem Stasi-Knast. Weder meine Mutter, die damals noch ein Kind war, noch meine Großmutter haben diesen Verlust jemals verarbeitet. Meine eigene Kindheit war vor diesem Hintergrund im Wesentlichen geprägt von Bewachung und dem Wunsch nach Freiheit. Dass ich eine höhere Schule besuchen durfte, verdanke ich ausschließlich dem Engagement einer mutigen Frau.

Selbstverständlich haben diese Dinge mich geprägt. Und mit mir prägen sie auch meine Geschichten. Niemand von uns fällt einfach so aus der Welt. Oder in sie hinein. Die unauflösliche Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit bildet den einen Raum unseres Daseins, in dessen Inneren wir uns ein Leben lang bewegen – und dem wir nicht entweichen können. Man versteht das Heute nur, wenn man es zusammen mit dem Gestern betrachtet. Das ist keine Frage von Interesse.

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Die DDR in mir ist nicht einfach verschwunden http://superdemokraticos.com/poetologie/die-ddr-in-mir-ist-nicht-einfach-verschwunden/ http://superdemokraticos.com/poetologie/die-ddr-in-mir-ist-nicht-einfach-verschwunden/#comments Sat, 12 Jun 2010 07:00:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=175 Ich bin 1971 in Stralsund an der Ostseeküste geboren und wuchs in den folgenden Jahren auf der Insel Rügen, in der Mark Brandenburg und ab 1982 in Berlin auf, wo ich seitdem immer noch lebe. Nach dem Studium (Germanistik und Romanistik) habe ich zunächst einige Jahre als Autorin und Redakteurin beim Fernsehen gearbeitet, hab mich 2001 jedoch entschlossen, das bunte Quotentheater zu verlassen und meiner eigentlichen Leidenschaft, dem Schreiben, nachzugeben. 2003 erschien mein erstes Buch, ein autobiographischer Erzählband, bei S. Fischer in Frankfurt/Main („Meine freie deutsche Jugend“), 2009 folgte dann im selben Verlag mein zweites Buch, ein ebenfalls weitgehend autobiographisch geprägter Band mit Geschichten und Essays anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls („Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau“). Beide Bücher behandeln die Themen Demokratie – Diktatur – Freiheit – Werte – jedenfalls sieht es die Presse so. Ich selbst würde eher sagen, es handelt sich um Kurzgeschichten über das Aufwachsen in einer Diktatur und das Leben danach, also darüber, was davon bleibt und womit man später noch umzugehen hat. Denn wir leben ja nicht in einem Hollywoodfilm: Was die DDR angerichtet hat in den Menschen, ist nach wie vor da. In meinem ersten Buch schrieb ich dazu einmal „Die DDR in mir ist nicht einfach verschwunden, nur weil das Land nicht mehr existiert.“

Ich verstehe mich selbst aber nicht als politische Autorin, sondern in erster Linie als Geschichtenerzählerin. Doch wenn ich aus der dunklen Zeit einer Diktatur erzähle, kann ich den politischen Hintergrund des Geschehenen nicht einfach ausklammern. Das wäre unlauter. Zumal viele meiner Geschichten dem Umfeld des (wie es heute genannt wird) Bürgerrechtler-Milieus entstammen, in dem ich aufwuchs, wo ich niemals die Chance hatte, einen romantischen Blick auf die Verhältnisse des realen Sozialismus zu entwickeln, in dem ich lebte. Schon deshalb bin ich heute eine entschiedene Verteidigerin der Demokratie – ich weiß, wie es ist, nicht in ihren Genuss zu kommen.

Mit Südamerika verbindet mich genau diese Erfahrung. Diktatur, Nachhall des Regimes im Land, Umgang mit Schuld und Verantwortung, Neustart und Klarkommen mit dem Leben in der Freiheit. Insbesondere zu Chile habe ich eine tiefe Beziehung, weil dort eine ganze Reihe enger Freunde leben.

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