Pressefreiheit – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Eine Clownsdemokratie … http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/eine-clownsdemokratie/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/eine-clownsdemokratie/#comments Wed, 29 Dec 2010 13:40:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3466

Privates Familienfoto, während des Chaco-Krieges, Bolivien.

„Ich respektiere ihn wohl, es ist schade, dass ich ihn nicht auch gern haben kann.“

– denken sicherlich viele Vertreter der sogenannten lateinamerikanischen Boom-Literatur über Jorge Luis Borges.

Ich war in Bolivien, als Mario Vargas Llosa der Nobelpreis verliehen wurde. Am selben Tag begann ich mit diesem Artikel für die Superdemokraticos. Ich wollte schildern, wie ich mein Land sah und erlebte, nachdem ich fast zwei Jahre nicht mehr seine Straßen entlang gelaufen war. Es ist mir schon immer schwer gefallen, den Fokus eines Textes zu verlagern und eigentlich wollte ich über meine Großmutter schreiben. Ich reagiere langsam; was soll ich machen, die Welt überrascht mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich erleben würde, dass Vargas Llosa den Nobelpreis erhält – Borges hat ihn wegen ähnlicher Ideen nicht bekommen. Außerdem sind 20 Jahre vergangen, seitdem ein Lateinamerikaner diese Auszeichnung gewonnen hat, und es ist sicherlich das erste Mal, dass Bolivien in einem solchen Festakt Erwähnung findet. Und obwohl dieser Text schon seit mehreren Tagen fertig sein sollte, bin ich sicher, dass sich diese Denkpause gelohnt hat. Auch ich trage Bolivien tief in meinem Herzen, und es fällt mir schwer, es heraus zu kehren und zur Schau zur stellen.

In den letzten Jahren, und vor allem zu Beginn des Wandels – wie die Amtszeit von Boliviens Präsident Evo Morales genannt werden wird – habe ich wie viele andere auch den revolutionären Prozess, der in meinem Land statt findet, offen unterstützt. Viele der Vorschläge und Slogans von Morales waren richtig, sind richtig, die Anerkennung unserer indigenen Völker und der Pluralität unserer Bevölkerung im Parlament sind fundamental, und ich empfand es als Zeichen der Reife des Wahlvolkes, dass dieser Wandel durch eine Wahl ermöglicht wurde. So wie Vargas Llosa denke ich, dass die Demokratie die beste Form des Zusammenlebens ist, weil sie auf dem freien Spiel der Bürger, der Individuen fußt und nicht auf hohlen nationalistischen Diskursen. In Bolivien laufen die Dinge nicht gut.

Damit eine Regierung demokratisch genannt werden kann, muss sie jenseits wohlmeinender Absichtserklärungen nicht nur die Stimme der Wähler respektieren, sondern auch die Gesetze, die das Zusammenleben ermöglichen. Durch das Machtvakuum in der Gerichtsbarkeit des „Plurinationalen Staates Bolivien“ – wie wir heute heißen – entstand ein Chaos, und der Machtmissbrauch der Exekutive ist so augenscheinlich, dass wir wahrlich von Angst innerhalb der Bevölkerung reden können. Unser Parlament – praktisch ohne Oppositionspartei in seinen Reihen – erlässt Tag für Tag Gesetze, als wären diese churros (heißes Spritzgebäck, Anm.d.Ü.) Es sind ambivalente Gesetze, die in vieler Hinsicht gegen unsere bestehenden Gesetzbücher verstoßen und gegen die kein Widerspruch eingelegt werden kann, da wir kein Verfassungsgericht haben, das diesen Namen verdienen würde.

Es gibt auch die scheinheiligen Gesetze. Das vom bolivianischen Präsidenten auf dem Klimagipfel in Cancún vorgestellte Gesetzespaket, welches angeblich die Pachamama und die indigenen Völkern schützen und verteidigen soll, ist nicht mit dem weiterhin von den Menschen in meinem Land geteilten Fortschrittsdenken vereinbar. Eine Idee des Fortschritts, die die Pluralität von Weltsichten nicht respektiert, ist noch in der kolonialen Logik verhaftet. Auch ist mir klar, dass das Prinzip der Plurinationalität, mit dem der Präsident all seine Amtshandlungen rechtfertigt, vielleicht die nicht andine, indigene Bevölkerung weitaus schutzloser zurück lässt, als sie es in den letzten 20 Jahren der demokratischen Herrschaft gewesen ist. Vielleicht ist dafür das neu gebaute Wasserkraftwerk in Argentinien das eindringlichste Beispiel. Durch dieses verlieren ganze Dörfer im bolivianischen Chaco-Gebiet ihre Existenzgrundlage, ohne dass sie dagegen juristisch vorgehen könnten. Die bolivianische Regierung plant ein ähnliches Kraftwerk im Amazonasbecken, von unseren Atomenergieplänen in Zusammenarbeit mit dem Iran ganz zu schweigen.

Die Opposition wird verfolgt. 2010 hat Evo Morales die „Verrechtlichung der Politik“ auf die Spitze getrieben, sowohl in seiner Gangart gegen die „korrupten Oppositionellen“ als auch gegen neue Führungspersönlichkeiten und mögliche Anwärter auf das Präsidentenamt bei den Wahlen 2014. Der Prozess gegen Luis Revilla, der junge Bürgermeister von La Paz und einer der anerkanntesten Köpfe der Partei Movimiento sin Miedo (Bewegung ohne Angst) – derzeit die einzige linke und demokratische Partei, die diesen Adjektiven würdig ist – ist schlicht und ergreifend beschämend. Von dem institutionalisierten Machismo, dem Drogenhandel und Schwarzmarktgeschäften ganz zu schweigen. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, so wie ihn Präsident Morales interpretiert, wirft mein Land, was die bürgerlichen Rechte der Gesamtbevölkerung angeht, zurück ins 19. Jahrhundert.

Ich stimme mit Vargas Llosa überein, dass die Demokratie in meinem Land genauso oder mehr noch eine Farce ist wie ihre Vorgängerinnen, mit dem Unterschied, dass die amtierende Regierung mit allen Mitteln die Meinungsfreiheit zu unterbinden versucht. Das neue Antidiskriminierungsgesetz ist, abgesehen von seinem politisch korrekten Namen, ist ein infamer Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die Antworten der Regierungsmitglieder auf Vargas Llosas Rede sind meines Erachtens ein klares Beispiel für den Zustand der Regierung. Sie zeigen, dass Evo Morales weder der Presse zuhört noch Zeitungen liest, sondern allein auf die Kritiken seiner Person reagiert. Seine tendenziösen Aussagen über den angeblichen Rassismus gegen die indigene Bevölkerung der Region sind lachhaft. Um so mehr, wenn man bedenkt, dass zum erste Mal ein kreolischer lateinamerikanischer Schriftsteller im Namen derjenigen, die wir so sind wie er, die Verantwortung für 200 Jahre Zurücksetzung und, in vielen Ländern, für die Ausrottung ganzer indigener Völker übernimmt. Die Verantwortlichen für das Geschehene sind unsere Großeltern – ich benutze die erste Person Plural, weil auch ich eine Kreolin und das heißt, schuldig bin, auch wenn ich es bevorzugen würde mich als andine Westlerin zu definieren, um so mit unserer despotischen Tradition zu brechen, ohne meinen kulturellen Wurzeln abzuschwören.

Ich bin sicher, dass der Plurinationale Staat Bolivien auch das Resultat der Arbeit von vielen Großeltern ist, die an die westlichen Werte der Aufklärung glaubten, und so wie Vargas Llosa denke ich, dass die Literatur eine viel wichtigere Funktion in unseren Gesellschaften hat, als die der Erziehung und der Unterhaltung. Ohne den Glauben daran, dass die Literatur für die Schaffung von individuellen Utopien und damit für die Ideenvielfalt auf innige Weise mit verantwortlich ist, gäbe es zunächst einmal weder Schriftsteller noch amerikanische Staaten. Auch das nehme ich aus Vargas Llosas Rede mit. Seine bequeme Haltung gegenüber dem neoliberalen Wirtschaftsmodell hätte ich stärker und besser kritisiert als Evo. Die Konsumfreiheit darf nicht die wichtigste Freiheit im Westen bleiben. Und es ist unehrlich, nur die aus dem Boden schießende Fanatiker zu kritisieren, ohne auch nur eine Sekunde bei den Berlusconis, Sarkozys und den anderen Clowns zu verweilen. Denn sie sind die wahrhaftigen Zirkusdompteure. Die ganze Barbarei unserer Kultur.

Übersetzung: Anne Becker

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Angie alleine in der Pampa http://superdemokraticos.com/editorial/angie-alleine-in-der-pampa/ http://superdemokraticos.com/editorial/angie-alleine-in-der-pampa/#comments Sun, 22 Aug 2010 15:22:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1140 Dieser Titel kam mir in den Kopf, als ich die Zeichnung von Valia Carvalho sah, die uns in den nächsten Wochen als Illustration des aktuellen Themas begleiten wird: Bürger sein. Die Frisur, die klobige Körperform, das gepunktete Kleid – wie ein Kittel –, das einzelstehende Haus im Hintergrund, das einen dunklen Schatten wirft, erinnerten mich an die deutsche Kanzlerin. Angie, so nennen die Deutschen ihre Regierungschefin, wuchs in der verschwundenen Deutschen Demokratischen Republik als Pastorentochter auf. Sie studierte Physik in Leipzig und schrieb 1978 ihre Diplomarbeit über „Der Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien“. Sie heiratete zweimal und hat keine Kinder. Ihre politische Karriere begann im Herbst 1989 als ehrenamtliche Mitarbeiterin des „Demokratischen Aufbruchs“ (DA), nachdem sie an der Demonstration „gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit“ auf dem Alexanderplatz teilgenommen hatte. Diese Demo vom 4. November ist sicherlich eines der jüngsten weltweiten Beispiele für die Bedeutung und den Wert von Zivilgesellschaft. Die Aktion begann als eine Initiative von Schauspielern und Arbeitern an zwei Ostberliner Theatern sowie vieler Künstler und schaffte es, etwa eine halbe Million Menschen zu versammeln. Die Grundidee war, das Volk als Träger der Landeshoheit einzufordern: Die Parole lautete „Wir sind das Volk“, und dieses Volk entschied durch diese Performance, aus eigener Kraft demokratisch zu sein. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen, die diese Bewegung unterstützten, nicht aufhören wollten, Sozialisten zu sein. Dass viele Menschen nicht damit einverstanden sind, wie die Wiedervereinigung umgesetzt wurde. Claudia Rusch spricht darüber in ihrem Essay.

Auf der anderen Seite erklärt uns Agustín Calcagno die Gründe, warum er selbst die Zivilbewegungen unterstützt, welche „demokratische Revolutionen“ herbeigeführt haben und sich als „bolivariano“ bezeichen, ein Begriff, den der venezolanische Präsident Hugo Chavez geprägt hat. Liliana Lara lässt uns mit einer gewissen Melancholie zurück, die einer Fremden, die den Wandel in den Gebieten, die sie bewohnt, direkt wahrnimmt. Die Distanz hat sie dazu gebracht, eine „virtuelle Kommandobrücke“ zu erschaffen, von dort aus teletransportiert sie sich in eine der beiden Wirklichkeiten, in denen sie gebraucht wird. Und ich verstehe sie völlig. Auf meinem Breitengrad lebe ich ähnlich, und ich sehe die Revolution, die gerade in Bolivien passiert, aus der Ferne. Oft frage ich mich, ob diejenigen, die so fühlen wie ich, Demokraten sein und weiter Sozialisten bleiben wollen. Das Volk hat souverän darüber entschieden, die Revolution zu unterstützen, und die Antwort des Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist es, abseits von allen Diskursen, jene Institutionen zu schleifen, die demokratische Transparenz garantieren. Augenscheinlich ist ein Hauptvorschlag, in das Jahr 1917 zurückzukehren, als hätte es 1989 nicht gegeben. Als ich noch klein war, herrschte in Bolivien noch eine Diktatur. Wir lebten in Santa Cruz und mein Vater verband mir den Arm oder den Fuß, um durch die Polizeikontrollen zu kommen und seine Pokerrunden zu treffen.

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