Poesie – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Wozu ein Gedichteregen? http://superdemokraticos.com/laender/chile/wozu-ein-gedichteregen/ Wed, 21 Dec 2011 10:46:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6245

Der „Gedichteregen“ (Originaltitel: Bombardements mit Gedichten) ist ein Projekt des chilenischen Kollektivs Casagrande, bei dem 100.000 Gedichte von 80 zeitgenössischen Autoren aus Helikoptern auf Städte abgeworfen werden, die in der Vergangenheit Bombardements erleiden mussten. Dieses Projekt wurde bisher schon in Santiago de Chile (Chile, 2001), Dubrovnik (Kroatien, 2002), Guernica (Baskenland, Spanien, 2004), Warschau (Polen, 2009) und in Berlin (Deutschland, 2010) umgesetzt. 2012 folgt London.

Beim Nachdenken über den Film „Let the right one in”, den ich gerade gesehen hatte, fiel mir der ehemalige nordkoreanische Staatschef Kim Il Sung ein. Der Film hatte mich wegen seines mega-realistischen Fokus, den er auf das Genre Vampir-Film richtet, beeindruckt. Ich versetzte mich in die Rolle des Protagonisten, der ein Monster war, sympathisierte ich mit ihm und wünschte ihm, dass er die schrecklichsten Gräueltaten verüben möge. Es mag dumm klingen, aber während ich nach Hause ging, dachte ich lange über die moralischen Entscheidungen nach, die ich während des Filmes getroffen hatte, aus Angst, dadurch negative Aspekte meines Selbst preisgegeben zu haben. Vor allem wenn man bedenkt, dass die Geschichte erfunden war, meine Gefühle möglicherweise jedoch nicht. Ich kam zu keinem endgültigen Ergebnis, es kann schon sein, dass ich ein schlechter Mensch bin, aber wenigstens habe ich nach all den Jahren endlich eine Erklärung für die Bilder gefunden, welche von den Nachrichtenagenturen aus Nordkorea über den Tod von Kim Il Sung gebracht wurden: Dort gab es schreiende, weinende Menschen, die mitten auf der Straße Zuckungen und Anfälle bekamen oder ihre Köpfe gegen die Busfenster schlugen. Zu Beginn schienen mir alle verrückt zu sein, aber in Wahrheit (wie ich jetzt festgestellt habe), waren diese Menschen einfach nicht aus dem Kino herausgegangen. Ich dagegen konnte aufgrund der Freiheit, die ich besitze, die moralischen Kodexe, die mir ein guter Vampir-Film angeboten hatte, annehmen, aber sie auch wieder dort zurücklassen, und nach dem Verlassen des Kinosaals meine früheren Positionen wieder einnehmen. Diese Freiheit besitzen die Bewohner Nordkoreas nicht; sie leben innerhalb des Kinos.

Wie man weiß, sind die Filme, die die Regierungsparteien in Ländern ohne freie Wahlen zeigen, dazu bestimmt, um ihr Fortbestehen an der Macht zu rechtfertigen. Dank dessem wird die nationale Geschichte neu geschrieben, es entsteht ein Epos, der erzählt, wie die aktuelle Situation im Land entstanden ist, und es entstehen Riten zur Verehrung eines neuen Pantheons voller Helden-Darsteller jenes Epos. Als Resultat auf die Fiktion wird eine neue Realität geboren, die Menschen lernen, auf eine andere Art und Weise zu leben. Und wenn der „geliebte Führer“, das „verehrte Oberhaupt“ oder wie auch immer sich der verehrte Führer gerne nennen lassen will, stirbt, dann winden sie sich auf öffentlichen Straßen, als wären sie mit Chili vergiftet worden.

Die Fiktion kann auf viele verschiedene Arten Realität schaffen. Verschieden Studien haben gezeigt, dass beispielsweise die schulische Leistung zu einem großen Teil von der Erwartungshaltung der Lehrer abhängt. Ein Lehrer, der der Meinung ist, sein Schüler würde keinen Fortschritte machen, ist in der Lage diesen davon zu überzeugen und ihn zu einem mittelmäßigen Erwachsenen zu machen und umgekehrt ist es genauso möglich. Zusammengefasst heißt das, dass die Fiktion des Lehrers zur Realität des Schülers wird, als ob das Verhalten des einen die vorgeschrieben Umlaufbahn, in der sich der andere bewegt, definiert.

Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass sowohl Automobile als auch Himmelskörper vorgeschrieben Umlaufbahnen haben. Alles, was existiert und real ist, und somit auch die Fiktion, die ja nichts weiter als ein Vortäuschung der Realität ist, folgt einem Kurs, der vorhersehbar ist,  also an eine bestimmte Logik gebunden. Und es ist auch gut, dass das alles so ist, denn das erlaubt beispielsweise die Existenz des Lebens, welches ebenfalls vorhersehbar ist; man weiß ganz genau wann der Regen kommt und wann es sonnige Tage geben wird.

Die erlebte Erfahrung der Menschen während eines Gedichtregens ist ähnlich fiktiv; sie sehen nicht einfach eine Menge Papier aus einem Helikopter fallen, sondern etwas viel Tiefgründigeres. Und tatsächlich interpretieren sie jedes Gedicht, das vom Himmel gefallen ist und das sie auffangen konnten, als eine direkte und personalisierte Botschaft. Sie glauben bereits an die Botschaft, bevor sie diese erhalten haben.

Auf der anderen Seite beeinflussen die Gedichteregen durch die Anerkennung und die Legitimation des Schmerzes, den die Stadt erfahren hat, die Art und Weise in der sich die Bewohner dieses Orts mit der Stadt und ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. So wie mein Kollege Cristóbal Bianchi ein paar Jahre, nachdem wir dort Gedichte abgeworfen hatten, wieder nach Guernica reiste und ein paar Jugendliche befragte, wie ihre Erinnerung an das Bombardement sei. Ihm wurde eine Gegenfrage gestellt: „Welches der beiden? Das von 1973 oder das von 2004?“ In Guernica wird es niemals wieder ein Bombardement geben. Man kann sagen, dass die beiden Ereignisse, das eine als Trauma und das andere als Heilung, das eine als schreckliche und erfühlbare Realität und das andere als Simulation dieser Realität, aber als Fiktion im umgekehrten Sinn, dass diese zwei Ereignisse sind miteinander verbunden sind. Sie brauchen einander wie die beiden Pole eines Magneten.

Wir erschaffen, genau wie die Regierung in Nordkorea, eine Fiktion, wir erschaffen die Illusion, dass die Poesie, die vom Himmel herunter an einen Ort kommt, der mit Schmerzen verbunden ist, von absolut komplexem symbolischem Wert ist, aber wie auch der Regisseur eines jeden guten Vampir-Films zwingen wir die Menschen nicht, diese Fiktion außerhalb des Kinos zu akzeptieren. Natürlich sollten sie sie akzeptieren, aber sie sollten sich deshalb nicht auf dem Boden wälzen.

Übersetzung:
Barbara Buxbaum

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Hinter der Mauer, hinter Gittern http://superdemokraticos.com/themen/deutschland-themen/hinter-der-mauer-hinter-gittern/ Sat, 17 Dec 2011 00:16:45 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6214 Vielleicht lag es an unserer Unzufriedenheit. Uns war immer klar, dass Literatur keine Angelegenheit aus Papier ist, sondern eine gesellschaftliche Kraft. Mitte der achtziger Jahre betraf unsere Unzufriedenheit die Realität des osteuropäischen Sozialismus, der uns vorschreiben wollte, welche politischen Wahrheiten in unseren Texten zu stehen hatten und welche nicht. So entstanden die Leipziger Mittwochstreffen, auf denen wir in privaten Räumen Texte diskutierten, deren Publikation staatlich verhindert oder verboten worden war. Projekte wie das Unsichtbare Theater (das verschwiegene Themen in den Alltag der Großstadt Leipzig brachte) entstanden, und als die Staatssicherheit uns irgendwann einmal festnahm, lasen wir (die Dichterin Jayne Ann Igel und ich) beim Warten aufs Verhör in den Polizeifluren Gedichte vor, bis man uns die Bücher wegnahm – und wir mit all den Gedichten weitermachten, die wir auswendig kannten… Nicht zufällig gehörten etliche Besucher solcher literarischen Aktionen auch zu den ersten Leipziger Demonstranten im revolutionären Herbst 1989.

Mitte der Neunziger ging es in Berlin weiter: Neue Wirklichkeiten schufen neue Allianzen. Aus den Salons und Performances im familieneigenen Restaurant Walden entstanden neue Netzwerke literarischer Aktivisten. 2004 wurde die Berliner Literarische Aktion ein „eingetragener Verein“, was die Geldbeschaffung für Projekte zwar erleichterte, gleichzeitig aber viel Bürokratie (ohne Geld) bedeutet. Neben regelmäßigen Salons (unser Literatursalon am Kollwitzplatz ist ein Kontaktpunkt für Künstler aller couleur) sind diverse ungewöhnliche Projekte entstanden. Besondere Wirksamkeit entfaltet derzeit die Literatur hinter Gittern, bei der wir mit international bekannten Autoren in Gefängnisse gehen, um Lesungen und Workshops mit Gefangenen zu realisieren. Anfangs gingen wir nur sporadisch in die großen Männerknäste Berlins, später auch in die legendäre U-Haftanstalt Moabit, oder in kleinere Frauengefängnisse und in die Jugendstrafanstalt, was zunächst auf große Widerstände stieß. Daraus erwuchs ein Programm, das wegen der Nachfrage inzwischen das ganze Jahr läuft. Mancher skeptische Gefängnisbeamte erkannte den Sinn des Projekts allmählich an und gesellt sich heute selbst gern dazu, wenn wir international erfolgreiche Autoren in Kontakt mit diesem besonderen Publikum bringen. Die Energien, die bei einer Literaturveranstaltung im Knast fließen, sind so ungewöhnlich, dass unter den internationalen Autoren das Interesse im Gefängnis zu lesen mittlerweile so groß ist, dass wir gar nicht alle „Bewerber“-Wünsche realisieren können. Natürlich gibt es im Knast nichts zu verdienen als den Respekt der Gefangenen − und der organisatorische Aufwand für solche Veranstaltungen ist im Vergleich zu „freien“ Lesungen bedeutend höher. Mittlerweile ist unser Modell jedoch auch in Großbritannien, Nordirland, Italien, Spanien, Griechenland und Zypern gefragt und ist Teil europäischer Langzeitprojekte zur Kultur in Gefängnissen.

Bei all unseren Aktionen geht stets um eine direkte geistige Auseinandersetzung mit praktischen Folgen für alle Beteiligten: Dafür erfinden wir immer neue Formen. Literatur als Lebensmittel, als Triebmittel für die verflixte Kultur, in der wir leben… Es freute mich deshalb, als die chilenische Gruppe Casagrande aus Santiago mich neulich einlud, ein Geleitwort zum Buch über ihre Aktion Bombardeo de Poemas Sobre Berlin vom Sommer 2010 zu schreiben. Unter den 100.000 Gedichten junger deutscher und chilenischer Dichter, die aus einem Helikopter über Berlin Mitte abgeworfen wurden, war auch eines von Roberto Yañez (hier ein Text, den er für Superdemokraticos schrieb). Er ist der Enkel von Margot Honecker, jener berüchtigten ostdeutschen Ministerin, die uns damals in Leipzig das Leben so schwer machte. Dass Roberto heute als freier Dichter in Santiago lebt, ist ein großartiges Zwischenergebnis. Vielleicht liest er demnächst mal bei einer unserer Aktionen in Berlin?

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Worte als Steine http://superdemokraticos.com/laender/mexiko/worte-als-steine/ Thu, 20 Oct 2011 08:51:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5302 Als ich damals spanische Philologie an der Universität studierte, entbrannte in unseren Klassenzimmern ein immer wiederkehrender Streit, der uns in zwei Lager spaltete. Jedes Lager verteidigte Positionen, die wir für unvereinbar hielten. Auf der einen Seite verschanzten wir, die wir an „L’art pour l’art“ glaubten und die Kunst um ihrer selbst Willen verteidigten, uns und fühlten uns beschützt in unserem Elfenbeinturm. Das dachten wir zumindest, um von dort aus über die Torheit der Widersacher zu urteilen. Auf der Gegenseite, von dem vermeintlichen Straßendreck aus, warfen die Verteidiger der zielgerichteten Kunst dialektische Steine auf uns und beschuldigten uns der frivolen Oberflächlichkeit. Das alles geschah gegen Ende der 90er Jahre, nicht in den 70ern, wie man vielleicht vermuten könnte, was die zumindest in Lateinamerika lange Dauer dieser Konfrontation bestätigt.

Wir Soldaten der Kunst für die Kunst entschieden uns, Proust, Joyce und Kafka zu lesen und fanden großes Vergnügen an der masturbierenden Anwendung der Metaliteratur, was damals in der spanischen Literatur sehr in Mode war. Es ist durchaus richtig, das die Zeit damals weniger bewegt war als heutzutage. Uns war wichtig, den vermutlichen Ausgang der Geschichte zu konstatieren, und die Welt hatte immer noch nicht ihre letzten beiden Umdrehungen vollführt, mit denen sie droht aufs Neue zu Grunde zu gehen: der Krieg gegen den Terrorismus und die Krise, die von dem Finanzsektor ausgelöst wurde. Im regionalen Kontext kam für uns Mexikaner noch eine weitere Umdrehung dazu: Unsere Realität begann auf noch schnellere Art und Weise zu zerbröseln, Schuld daran trägt der Krieg gegen die Drogenmafia.

In diesem wenig hoffnungsschimmerden Szenarium ertappte ich mich des Öfteren dabei, meine Standpunkte, meine Ideen zu überdenken, und erinnerte mich an jene kämpferischen Morgen an der Universität, um zu dem Schluss zu kommen, dass es sich damals um eine falsche Fragestellung gehandelt hatte. In der wahren Kunst, in der wahren Literatur existiert eine solche Gegenüberstellung nicht. Die Kunst ist sich einerseits selbst genug, sie benötigt nichts weiter als sich selbst, aber gleichzeitig geschieht sie und wirkt sich aus auf eine Gesellschaft, die deren Geburt erleben durfte: Jede Form der Kunst ist politisch.

Aber was ist eigentlich die wahre Kunst, die wahre Literatur? Die Essenz der wahren Literatur liegt in den Worten und darin, den Unterschied zu überwinden, den Sartre uns vorgibt, zwischen den Worten als Dingen – die ihmzufolge zur Poesie gehören – und den Worten als Zeichen – die zur Prosa gehören. Die Worte sind nicht nur Signifikanten im Dienste des besseren Erzählers, des geschickteren Verfassens von Paradoxen und Sophismen. Es ist die Verpflichtung des Schriftstellers, die Worte als Dinge zurückzugewinnen, ungeachtet des literarischen Genres. Die Prosa sollte ebenfalls ein Raum sein, in welchem die Worte sich neu erfinden und wiedergeboren werden, ein Raum, der sie aus der Leere des Sinns rettet, in den sie durch ihren alltäglichen Gebrauch verbannt wurden und der oftmals als manipulative Waffe diente.

Wir müssen zu den Wörterbüchern zurückkehren, auf die Straße gehen und mit den Menschen sprechen, mit grenzenloser Aufmerksamkeit zuhören, Etymologie studieren und unsere Philologen liebevoll behandeln.

Wir müssen unsere Worte lernen, als wäre es das erste Mal, sie wieder verstehen und sie umformen, ihnen neues Leben einhauchen. Wir müssen diejenigen aufsuchen, die sie in all diesen Jahren verraten haben, die den Diskurs in Misskredit brachten, die einen so großen Schmerz in der Gesellschaft verursacht haben, dass die Gesellschaft schlussendlich bat: „Taten, keine Worte.“ Und wir müssen ihnen sagen: Nein! Die Pflicht des Schriftstellers ist es, den Leuten zu zeigen, dass es nicht die Worte sind, die stinken, sondern nur der unangenehme Geruch mancher Personen, die sie verderben.

Worte als Dinge. Worte als Steine, die wie eine Warnung dienen können, um denjenigen abzuraten, die sie verbiegen oder verraten wollen, aber sie können gleichzeitig auch das Material sein, aus dem ein Spur gelegt oder ein Weg gepflastert wird – genau wie im Märchen: ein Weg, um nach Hause zu finden.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Als Juan Gelman die Mystiker las http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/als-juan-gelman-die-mystiker-las/ Tue, 12 Oct 2010 07:26:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2838

Der Dichter Juan Gelman wurde 1930 als Kind russisch-jüdischer Migranten in Buenos Aires geboren und gehörte der Dichtergruppe Pan Duro (Hartes Brot) an. Außerdem arbeitete er als Journalist. 1975 ging er wegen der argentinischen Militärdiktatur ins Exil, sein Sohn wurde entführt und getötet, ebenso dessen schwangere Frau. Über einen Jesuitenpater in Rom erfuhr Gelman „The child was born“. Heute lebt Gelman in Mexiko. 2007 erhielt er den Premio Cervantes. Wir fragten ihn nach der Rolle des Intellektuellen heute, aber er wollte dazu keine Auskunft geben. Warum, erklärt unten einer seiner Leser. Der Mitschnitt des Podiumgesprächs ist leider sehr leise, aber wir wollten es euch nicht vorenthalten.

„Gelman ist ein Mann der Linken. Er ist ein Mann, der für die Linke seinen Dienste geleistet hat und seiner persönlichen Einstellung konsequent treu geblieben ist. Er hat beispielsweise nie Gewalt unterstützt. Ich glaube, er will über viele Themen seine Meinung nicht offen kundtun, denn er hat Angst, dass man seinem Beispiel folgt. Er versteht, dass junge Menschen – die 16 oder 20 Jahren alt sind – dieses oder jenes tun könnten, weil er das so gesagt hat. Das könnte sehr gefährlich sein, und von diesem Gesichtspunkt aus, ist er verantwortlich für das, was er sagt. Und er will diese Richtung nicht einschlagen. Nur als Leser kann man erfahren, was er denkt.“

Pablo Alfonzo, argentinischer Lektor und Besucher der Frankfurter Buchmesse

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Wer bläst den Globus auf? Eine Umfrage http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/wer-blast-den-globus-auf-eine-umfrage/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/wer-blast-den-globus-auf-eine-umfrage/#comments Wed, 22 Sep 2010 06:22:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2088 Anleitung: Wählen Sie für jede Frage eine Antwortmöglichkeit und fügen Sie diese in das Feld für Kommentare ein. Fühlen Sie sich frei, eine kurze, persönliche Erklärung dazu abzugeben, falls Sie das für nötig halten.

1- Hat in einer globalisierten Welt ein Poet, der auf Englisch schreibt, irgendeinen Vorteil gegenüber einem Poeten, der auf irgendeiner anderen, viel weniger verbreiteten Sprache schreibt?

a)      Ja.

b)      Nein.

c)      Nein, vorausgesetzt, der Poet aus der anderen Sprache wird nachträglich ins Englische übersetzt.

d)     Der Poet, der auf einer Minderheitensprache schreibt, hat einen Vorteil gegenüber dem Poeten, der auf Englisch schreibt, denn die globalisierte Welt strebt nach Pluralität und Multikulturalität, und deshalb wird er durch positive Diskriminierung begünstigt.

2- Wenn sich ein portugiesischer Dichter (wie es Pessoa eines Tages tat) dafür entscheidet, Gedichte auf Englisch zu verfassen, verliehe diese idiomatische Entscheidung seinem Werk einen Hauch von:

a)      Internationalität.

b)      Globalität.

c)      Universalität.

d)     Kosmopolitismus.

3- Wenn sich ein mexikanischer Dichter (wie es Pessoa eines Tages tat) dafür entscheidet, Gedichte auf Englisch zu verfassen, verliehe diese idiomatische Entscheidung seinem Werk einen Hauch von:

a)      Immigrant.

b)      Verdächtig.

c)      Pro Yankee.

d)     Globalophil.

e)      Pessoaesk.

4- In wie viele Sprachen muss ein Gedicht übersetzt werden, um ein globalisiertes Gedicht zu sein?

a)      Die Übersetzung ins Englische, falls es auf einer anderen Sprache geschrieben wurde, ist absolut ausreichend.

b)      Mindestens in drei westliche und eine fernöstliche Sprache.

c)      Mindestens in zehn indigene Sprachen.

d)     Es hängt nicht von der Übersetzung, sondern von der Verbreitung ab.

5- Ein globalisiertes Gedicht ist in letzter Instanz:

a)      Ein multikulturelles Gut.

b)      Universelle Literatur.

c)      Eine Ware.

d)     Eine Utopie.

6- Welches Gedicht passt besser zu der Idee von einer globalisierten Welt?

a)      Ein Gedicht, das auf mehreren Sprachen verfasst wurde, sich auf verschiedene Kulturen bezieht und in der Lokalzeitung eines kleinen, ländlichen Dorfes erscheint.

b)      Ein hypertextuelles Gedicht, veröffentlicht auf einem dunklen, privaten Blog.

c)      Ein Sonett eines berühmten, US-amerikanischen Dichters, der gerade mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde.

d)     Ein Gedicht, das auf irgendeiner indigenen Sprache verfasst wurde, sagen wir auf Tzotzil, und bei einem internationalen Poesiefestival in Paris verlesen wird, an dem 100 Personen teilnehmen.

7- Wenn der Autor des Gedichtes auf Tzotzil aus Antwort d) der vorherigen Frage sich entscheidet, in Paris zu bleiben, wird er zu:

a)      Einem internationalen Poeten.

b)      Einem Produkt der Globalisierung.

c)      Einem illegalen Einwanderer.

d)     Einem Problem für die Veranstalter des Festivals.

8- Angenommen, Sie hätten als Publikum bei diesem angenommenen internationalen Poesiefestival teilgenommen (bei dem unser mittlerweile geschätzter Autor des Gedichtes auf Tzotzil aufgetreten ist) und, natürlich nur angenommen, dass wir von nationaler Literatur sprechen könnten und uns darüber bewusst sind, dass wir vermutlich in der Annahme einer vermutlich globalisierten Welt leben: Für welchen Dichter hätten Sie mehr applaudiert?

a)      Für einen mexikanischen Dichter, dessen Gedichte wirken, als wären sie von einem US-amerikanischen Dichter verfasst worden.

b)      Für einen US-amerikanischen Dichter, dessen Gedichte wirken, als wären sie von einem kubanischen Dichter verfasst worden.

c)      Für einen deutschen Dichter, dessen Gedichte wirken, als wären sie von einem deutschen Dichter verfasst worden.

d)     Für den Autor des Gedichtes auf Tzotzil, obwohl Sie nichts von dem verstanden hätten, was er gelesen hat (und möglicherweise genau deswegen).

e)      Sie würden für sich selbst applaudieren, da Sie ohne Murren eine Lesung von über einer Stunde ertragen haben, die voll von fatalen Vorträgen war, die glücklicherweise jeglicher weltlicher Transzendenz entbehrten, denn Poesie interessiert ja sowieso keinen.

9- Was, glauben Sie, verbirgt sich hinter der offensichtlichen Unschuld eines internationalen Poesiefestivals:

a)      Eine globalophobe Gruppierung, die vorgibt, die Verschiedenheiten und die Regionalismen zu betonen, indem sie die unterschiedlichen Nationalitäten ihrer eingeladenen Dichten hervorhebt, als Akt des geheimen Widerstands.

b)      Eine globalophile Gruppierung, die eine internationale Handvoll Dichter eingeladen hat, aus reiner Geilheit auf exotische Waren, genau wie bei diesen asiatischen Soßen, über die sie jedes Mal so sehr in Aufregung geraten, wenn sie in den Supermarkt gehen.

c)      Eine weder globalophobe noch globalophile Gruppierung, sondern lediglich eine Gruppe von gelangweilten Menschen, die versuchen, ihrem Leben einen Sinn zu verleihen, so armselig dieses auch sein mag.

d)     Eine Gruppe Dichter, die andere Dichter in ihr Land einlädt, in der Hoffnung, dass diese sie ebenfalls einladen und in den jeweiligen Ländern empfangen werden: ein Zweig von dem, was man nun allgemein Fairtrade nennt, eine billige Art des Reisens, literarischer Tourismus, zusammengefasst, eine Gruppe dahergelaufener und opportunistischer Dichter.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Sagmirwasdufühlstismus http://superdemokraticos.com/themen/koerper/sagmirwasdufuhlstismus/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/sagmirwasdufuhlstismus/#comments Mon, 26 Jul 2010 18:44:50 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=528 „Da wir glauben, Fragen der Sexualität seien Privatangelegenheiten, hören wir auf, sie in ihrer sozialen und politischen Dimension wahrzunehmen.“ G. Louro

Im Fernsehen verschlingt ein Junge, der Bastian heißt, ein Buch. Sein Gesicht trägt den verstörten Ausdruck eines Abenteurers, der sich in der Wüste verlaufen hat und dem nur noch wenige Seiten in der Feldflasche verblieben sind, der junge Held bedeckt seinen Rücken mit einer Decke, weil die Welt der Fantasie durch das Dach verschwindet, durch das Nichts verwüstet wird und… Werbepause.

Ich erkenne meinen Körper, putze mir freiwillig die Zähne, schlafe alleine, ohne Angst zu haben, ahme die Sänger im Radio nach, wenn niemand da ist, ich durchlebe eine Phase zwanghaften Lügens und Stehlens, entwickle meine persönliche Vorstellung von Gut und Böse. Entscheidende Augenblicke für die Herausbildung der ersten Intimität: der eigenen. Jede Person müsste über solch eine Umgebung verfügen und sie nach Belieben schmücken dürfen, um anschließend Besuch empfangen und sich noch später ein erfülltes, gesundes und geteiltes Heim einrichten zu können. Nachdem der Mensch den infantilen Solipsismus überwunden hat, erreicht er – paradoxerweise – während der Pubertät den Lebensabschnitt „Nur du existierst“.

Meine liebsten Tischgespräche mit jemandem, den ich soeben erst kennen gelernt habe, handeln von der Intimität. „Erzähl mir ein Geheimnis, etwas, von dem ich nicht weiß, und reißen wir ohne lange Vorreden dieses von der Gesellschaft gesäte Kraftfeld ein. Etwas, das du noch nie jemandem erzählt hast, sprich über dein erstes oder dein letztes Mal, von deinen immer wiederkehrenden Träumen. Beichte mir, ob du dich einsam oder elend fühlst, ich werde nicht flüchten. Verkünde, dass du ein glücklicher Mann bist und keine Hemden trägst, das muss gesagt werden.“

Der „Sagwasdufühlstismus“, eine polemische Bewegung, die mir Freude und Gemeinschaft einbrachte, wie auch Unverständnis und ungemütliche (lustige) Situationen, die so weit gingen, dass ich mich eines bestimmten Tages betreten beklagte: „Wenn mir jedes Mal ein Dollar gegeben würde, weil ich alles sage, was ich fühle, würde ich mich in diesem Moment vielleicht besser fühlen.“ Guacira Louro sagt hierzu: „Die Fragen, die Fantasien, die Zweifel und das Experimentieren mit der Lust werden ins Geheime und Private verwiesen. Wir erlernen die Scham und die Schuld, experimentieren mit Zensur und Kontrolle durch die multiplen disziplinierenden Strategien.“

Über Jahrhunderte hinweg mussten Frauen „Anstand wahren“, und bis heute schüchtert es das puritanische Subjekt ein, wenn eine Dame offen über ihr Sexualleben spricht. Das erinnert mich an das wunderschöne Lied von Chabuca Granda „Cardo o ceniza“ (Distel oder Asche), in dem die Dichterin die außergewöhnliche Episode einer passionierten Hingabe schildert und in der letzten Strophe, beschämt von der vollständigen Hemmungslosigkeit der vorangegangenen Nacht, neben ihrem Geliebten aufwacht.

Wenn ich dichte und jemandem, der mir nahe steht, die Gedichte zeige, und später, wenn ich sie veröffentliche, wenn ich sie lese, finde ich die eindringliche Intimität in der Poesie. Indem wir mit der Logik und Sensibilität des Künstlers fließen, folgen wir dem Labyrinth, das er in einem magischen und einsamen Moment zeichnete.

Die Mittäterschaft, in der man sich desselben Deliktes unschuldig weiß, bringt einsame Kenner eines schlechten Witzes, einzige Gäste eines verwunschenen Hotels hervor. Es weiche das magnetische Feld, öffnen wir die Türe. Geheimnisse ohne Beichtstuhl.

Der Intimismus wird zu einem Ismus des Gleichen: einen Teller Essen, den Dessertlöffel, die Keime, das Bett miteinander teilen, den Arm ausreißen, der den Arm, der verschwindet, lähmt.

Schon immer wollte ich mein Bankgeheimnis lüften, damit ihr und ich intim sein können, ohne Angst davor zu haben, auf das glamouröse Tuch des Geheimnisses zu verzichten, das mich wie ein aus Gefühlen bestehender Schleier der Frauen Limas schmückt, da das Geheimnis über vielfältige Instanzen und ein eigenes Ministerium im Inneren verfügt. Viele Aspekte müssen übereinstimmen, bevor darüber entschieden wird, dass es sich in eine Party für zwei verwandelt. Nicht jede macht einen Ausflug zu sich selber, und noch seltener wird man regelmäßig zu einem Reisenden, wenn ich mir schließlich die Tätowierung von der Stirn entferne, die besagt: „Liebe den wilden Schwan“ („Ama al cisne salvaje“, Gedicht von Luis Rogelio Nogueras, Anm.d.Übers.), und ich verstehe das durchsichtige Kostüm als ausgepacktes Geschenk, das vor den Augen des riesigen Kindes erstrahlt.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Privatsphäre konfigurieren http://superdemokraticos.com/themen/koerper/privatsphare-konfigurieren/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/privatsphare-konfigurieren/#comments Wed, 21 Jul 2010 07:00:34 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=491

Gif: Carolina Niño, http://photobucket.com/

1983. Zungenküsse mit Silvana del Carmen auf den Schaukeln vor ihrem Haus. Sie ist sieben Jahre alt.

1984. Ich bin nur knapp einer Entführung entkommen. Ich ließ eine schöne Frau in mein Haus. Sie stahl die Juwelen meiner Mutter und ein paar Dessous. Hand in Hand gingen wir zum Bahnhof. Die Frau bereut es im letzten Moment und lässt mich zurück, ohne sich zu verabschieden. Enttäuscht von ihrer Zurückweisung gehe ich zurück nach Hause.

1986. Ich höre sexuelle Geräusche im Dunkel meines Zimmer. Ich halte es für ein Kätzchen, das Milch trinkt. Wenigen Stunden davor war ich wegen einer plötzlichen schweren Asthmaattacke ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ich sage zu der Krankenschwester, dass Sauerstoff nach Vanille schmeckt. Sie antwortet mir nicht.

1989. Ich spiele Atari und springe über die Dächer in meiner Nachbarschaft. In der Schule wählen mich die Mädchen zur männlichen Begleitung der Klassenvertreterin für die Wahl zur „Patin des Sports“. Sie heißt Marianne und ich bin verliebt. In der Nacht lenke ich meine Tagträume, in denen wir am Ende immer heiraten. Mein Vater streitet vor dem kindlichen Schönheitswettbewerb mit meiner Mutter. Meine Mutter versichert, dass sie mich immer wegen meiner Größe wählen. Meine Nachbarn spielen schon Nintendo.

1992. An einem Samstagmorgen bekam ich überraschenden Besuch von meinem Cousin. Er hatte erfahren, dass wir endlich einen Videorekorder bekommen hatten und führte mich in die audiovisuelle Welt der Pornos ein. Mein Ruf verbreitet sich, und ich erfreue mich wachsender Beliebtheit im Viertel. Rosa arbeitet bei uns als Hausangestellte, ich mag sie sehr gern. Rosa würde mir gefallen, wenn ihr nicht die beiden Schneidezähne fehlen würden. Einige meiner Freunde aus der Nachbarschaft stören sich nicht an solchen Kleinigkeiten: Sie machen einen Quantensprung im Vergleich zu mir und meiner Pornographie. Bevor sie das Haus verließ, musste Rosa abtreiben, mit einer selbstgebrauten Mixtur aus irgendwelchen Kräutern.

1993. Riesige Poster von Nirvana in meinem Zimmer. Ich trete von der Virtualität in die Wüste der Wollust ein.

1996. Ich spiele die „Stimme des Schattens“ in einem Brecht-Stück. Ich finde es großartig, weil ich wie Brandon Lee in Die Krähe geschminkt werde. In dieser Nacht im September treffen ich einen meiner Lehrer, einen Priester, im einem Nachtclub. Zum Jahresende unterzeichnen die Guerrilla und die Regierung den „festen und dauerhaften Frieden“.

1998. Wir geben mit unserer und anderen Bands ein Konzert, aus Solidarität für die Opfer des Hurrikan „Mitch“. Als Eintritt müssen die Leute einen Sack Mais oder Bohnen mitbringen.

1999. Ich reise nach Nicaragua, zu den Feierlichkeiten anlässlich des 20. Jahrestags der sandinistische Revolution. An der Grenze hatte ich ein Offenbarung. Meine Freundin schreit mich an, dass ich ihr ein Sandwich machen solle, weil sie gleich verhungert. Ich mach drei aus Schinken und gebe eins dem Bettler, der zu uns kommt um Geld zu schnorren. Der Bettler gibt von seinem Brot die Hälfte seinem Hund. Als wir nach Guatemala zurückkommen, beenden wir die Beziehung.

2000. Ich übe täglich „Die Sims“, ein Videospiel mit Strategie und Gesellschaftssimulation. Ich werde „Prehistorik 2“-abhängig. In Havanna kaufe ich eine wundervolle Ausgabe der „Gesammelten Kurzgeschichten“ von Edgar Allan Poe, übersetzt von Julio Cortázar.

2002. Ich miete mir ein Haus in der Straße Roosevelt. Ich leben mit meinem Hund Rilke. Ich feiere viel. Ich höre hartnäckig die CD Sub von Bohemia Suburbana.

2003. Aus Schamgefühl kann ich gar nichts erzählen, was in diesem Jahr passiert ist.

2005. Während einer Party in unserem Haus in der Rue d’Alésia in Paris fange ich Feuer. Ich hatte mich zu nah an ein paar Duftkerzen gesetzt. Ich habe keine Verbrennungen, bin aber vor allen nackt. Viele lachen und zeigen mit dem Finger. Meine Freundin lädt mich auf das R.E.M. Konzert in das Palais des sports ein. Auf das von Tori Amos will ich sie nicht begleiten. Im Internet lese ich, dass der Tropensturm Stan den Ort Panabaj dem Erdboden gleichgemacht hat.

2006. Ich surfe durch die Realität zwischen Fehlgeburten, schweren Depressionen, almodovorianische Partys und den Wundern der florentinischen Renaissance.

2008. Während meines Aufenthaltes in Medellín, lass ich mich von einem einheimischen Vergil führen, der Erfinder eines Stadtrundgangs, der sich „Anthropologie des Todes“ nennt. Poesie-Vorleserinnen schieben mir Zettelchen unter meiner Tür im Hotel Nutibara durch. Ich lege mir ein Facebook-Profil an. Ich durchquere Frankreich in Hochgeschwindigkeitszügen. Ich erlebe ein wundervolles Jahresende an den Stränden der Copa Cabana. Dort kommt mir die Idee ein Buch über mexikanische und zentralamerikanische Frauen zu schreiben, die nach Brasilien reisen, um ihre flüchtigen Ehemänner einzufangen.

2009. Ich informiere mich endlich über die Operation, die ich schon lang hätte machen lassen müssen, und finde heraus, dass ich mich für eine Prothese entscheiden kann. Ich nehme an Poesielesungen in Second Life teil und verwandle meine Chat-Sucht auf Gmail in ein Werkzeug meines Schreibens. Viele meiner Phantasien werden erfüllt, ohne das es meine Absicht war. Aus Versehen wasche ich meinen Reisepass in der Waschmaschine mit. Er kommt aufgelöst wieder heraus, als wäre ich nie geflogen. Wie ein Zombie irre ich auf der Straße Guatemala in Buenos Aires umher – so endet für mich das Jahr.

2010. Ich stelle die Privatsphäre auf meinem Facebook-Profil auf die höchste Stufe.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

Gif: Carolina Niño

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Astrologische Biographie http://superdemokraticos.com/poetologie/astrologische-biographie/ http://superdemokraticos.com/poetologie/astrologische-biographie/#comments Sat, 12 Jun 2010 08:02:14 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=185 Ich wurde am 1. Oktober 1974 um 16:34 in Mexiko Stadt geboren. Das heißt, ich bin Waage, Aszendent Fisch, mit dem Mond in Widder. Das heißt, mein Mond steht in einer Opposition von 180° zu meiner Geburtssonne. Das erklärt meine ständige Anspannung und Nervosität. Während die Sonne in der Waage auf ein romantisches, liebevolles, diplomatisches und geselliges Naturell hinweist, ist der Mond – (der symbolisiert das Herz) – im Widder dagegen impulsiv, eigensinnig und unbezähmbar. Genau das ist das Drama, in dem sich mein Leben abspielt: In mir leben unablässig widersprüchliche Wünsche, die sich gegenseitig bekämpfen.

Wie man im Allgemeinen weiß, werden Waagen von der Venus dominiert. Diese steht für Liebe, Schönheit und Kunst. Aber es ist mein Neptun im neunten Haus – in Verbindung mit dem MC, der Himmelsmitte, und der aspektierenden Sonne – der meine Berufung zur Kunst, vor allem zur Poesie, bestätigt. Trotzdem erschwert mir Saturn, „die schwarze Sonne der Melancholie“, den ich im fünften Haus habe, das Haus der Kreativität und der Kinder, das Schreiben. Das macht aus mir einen sehr laaangsaaamen Schriftsteller: ich habe meine (wenigen) Gedichte, die ich zwischen 1996 und 2006 geschrieben habe in einem dünnen Buch gesammelt, das Cabaret Provenza heißt. Ein aktuelles Buch, La sodomía en la Nueva España (Die Sodomie in Neu-Spanien), soll im September bei dem valenzianischen Verlag Pre-Textos erscheinen.

Außerdem bin ich Autor einer Essay Sammlung mit dem Titel Leyendo agujeros und einer in meiner Heimat umstrittenen Anthologie neuer mexikanischer Poesie Divino Tesoro. Vor ungefähr einem Jahr verfasste ich auf Einladung der Zeitschrift „Letras Libres“, die „Autobiografía travesti o mi vida como Dorothy“. Mit dieser Einladung wurde eine kleine Gruppe junger Schriftsteller dazu aufgerufen, eine „frühreife Autobiographie“ zu schreiben. Ich gebe hier mal den Link zur Seite an, falls jemand neugierig genug oder so sehr ohne Beschäftigung ist, seine Zeit damit zu vergeuden diesen Artikel lesen zu wollen.

In Wahrheit wäre ich lieber Rockstar geworden. Ich bin der Meinung, dass Popsongs wunderbar die Funktion erfüllen, welche in früheren Zeiten die Poesie erfüllt hat. Aber nun gehe ich durchs Leben und prahle damit, das zu sein, was früher Poet genannt wurde und von dem ich heute nicht weiß, wie ich es nennen soll. Die Poesie, die mir so unmöglich ist, gibt meinem Leben einen Sinn. Ich habe die Poesie immer schon als einen weiteren Sinn angesehen: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen und Poesie. Mit der Poesie ist es möglich diese Dimension von Menschen und Dingen wahrzunehmen, die man früher Mysterium nannte – und von der ich heute auch nicht weiß, wie man sie nennt. Ja, ich wäre gerne ein Rockstar und würde gerne von Leuten auf der Straße nach Autogrammen angesprochen werden. Ich glaube, der Poesie fehlt ein wenig die Magie des Pops. Mit dieser „Magie des Pop“, so Greil Markus über die Sex Pistols, „in which the connection of certain social facts with certain sounds creates irresistible symbols of the transformation of social reality“.

Dazu kommt noch, dass man mit Versen nicht viel Geld macht. Mein Mond im zweiten Haus, das Haus der materiellen Güter, deutet darauf hin, dass meine finanzielle Situation dazu neigt, alles andere als stabil zu sein. So wie der Mond zunimmt, abnimmt und wieder zunimmt und damit die Ebbe und Flut des Meeres bestimmt, schwanken auch meine Einnahmen. Um zu überleben mache ich eine Vielzahl von Jobs: Ich unterrichte ein bisschen Literatur an der Universidad Iberoamericana, bin Herausgeber von Galleta China, einer Zeitschrift über zeitgenössische Kunst, die von der Casa Vecina – Espacio Cultural –, gefördert wird, und ich schreibe Texte für alle, die mich dafür bezahlen.

Zusammengefasst kann man sagen, ich bin der typische freelance, der seine Rechnungen hierhin und dorthin schickt, um ein bisschen Geld zu verdienen, ohne staatliche Unterstützung zu bekommen. Aber ich lebe lieber mit dieser Unsicherheit als mit der Sicherheit einer Festanstellung: Ich ertrage die Vorstellung, in einem Büro eingeschlossen zu sein oder gar einen „Chef“ zu haben nicht. Das erklärt sich dadurch, dass mein sechstes Haus, das Haus der Arbeit und der Gesundheit, vom Sternzeichen des Löwen beeinflusst wird. Ich sage immer, dass meine „Armut“ luxuriös ist: Ich hab die Freiheit alles zu tun, was ich will und kann Zeit verschwenden. Aber denkt nicht, dass es hierbei um Ideale geht: Es geht um Bequemlichkeit. Ich mag Geld, aber nicht so sehr, dass ich meine Bequemlichkeit dafür opfern müsste, um mehr als nötig zu verdienen.

Ja doch, ich mag Geld und weil man nie genug Geld hat, freunde ich mich mit dem Gedanken an, Astrologie zu studieren: Geburtshoroskope zu entwerfen, könnte ein vielversprechendes Geschäft sein, dass man bequem von zu Hause aus machen könnte. Diese Berufung zur Esoterik wird auch von Merkur im Skorpion in meinem achten Haus angedeutet: ein deutliches Zeichen für das Interesse an Okkultem, Unbekanntem und – man muss ja alles sagen – an Obszönem. Ja, ich finde es auch großartig Pornographie zu sehen: diesem Thema habe ich schon wertvollste und unwiederbringliche Stunden gewidmet.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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