Platon – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Zu viele Süßigkeiten http://superdemokraticos.com/laender/peru/zu-viele-susigkeiten/ Fri, 24 Jun 2011 08:20:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4208 Die Superdemokraticos boten mir an, ausgehend von der Wahrheitskommission, einer Institution, über die ich letztes Jahr auf dem Blog schrieb, diesmal eine Abhandlung über das Thema Lüge zu verfassen. Gerne werde ich dieser Bitte nachkommen und im Anschluss von der Lügenkommission berichten, dem am weitesten verbreiteten und traditionsreichsten Netzwerk der peruanischen Gesellschaft.

 

Ich versuche mich kurz zu fassen, denn – wie sagen die Süßwaren-Verkäufer in den Bussen so schön – ich möchte ja nicht eure schöne Fahrt unterbrechen, ich komme nur eben vorbei, um dieses Produkt anzubieten, und ich mache diese Bemerkung nicht wegen euch, sondern weil ich selber viel zu viele von diesen Süßigkeiten gegessen habe.

Perus interner Krieg begann mit dem Zusammenstoß „Die subversive Gruppe Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad)“ vs. „Das peruanische Militär“. Er verwandelte sich schnell zu einem Massaker, bei dem die Bewohner der ärmsten Gegenden – dort, wo die Rebellion angefangen hatte – systematisch von beiden Fronten geschändet (die Damen) und hingerichtet (Herren und Kinder) wurden. Der aktuelle Stand: etwa 70.000 Tote. Diese Verluste wurden von einem Land mit dem schwersten und übergangenen inneren Konflikt schlicht und ergreifend jahrelang ignoriert, bis eine kurze und scharfsinnige Übergangsregierung nach einer brutalen Diktatur das Licht der Welt erblickte und wie ein Psychoanalytiker notierte: Denk daran, das lässt dich nicht weiterkommen. Und sie macht sich daran, eine Wahrheits- und Versöhnungskommission einzusetzen: für öffentliche Anhörungen der traumatisierten, quechua-sprachigen Verwandtschaft, die das „moderne“ Peru lieber vergessen würde, für Militärsanktionen und zivile Entschädigungen, welche die folgenden Regierungen nicht übernehmen wollen.

Das ist eine Dosis Wahrheit, der sich nur eine Lügenkommission entgegenstellen konnte, die auf ihrem monumentalen, gestreckten Mittelfinger jenes weise Sprichwort Platons schwenkt: WER DIE GESCHICHTE ERZÄHLT, LENKT DIE GESELLSCHAFT. Dieser schleimige Organismus unterwandert die gesamten soziale Struktur, sein Ursprung waren „gewisse“ Politiker, aber zu seinem tatsächlichen Ruhm verhalfen ihm die Medien (so, dass war mein Spruch, ich steige hier wieder aus dem Bus, denn ich komme gerade von einer dieser Wahlveranstaltungen, die dich so hart auf den Boden der Tatsachen zurückwerfen, als wärst du gegen Holz gerannt). Da wir so sehr daran gewohnt sind, betrachten wir die Lüge, die Demagogie lediglich mit einem Stirnrunzeln und akzeptieren fast die falschen Versprechungen als eine natürliche Charaktereigenschaft der Machthabenden, als inhärenten Defekt der Politiker-Klasse. Und ich fragte mich voller Angst, ob sich die Legitimierung der Verlogenheit im Alltag reproduziert; ich dachte eigentlich nicht! Denn ich kann immer noch sehen, wie der Nächste denunziert, ihm die Maske vom Gesicht gerissen wird, wie Kinder für Lügen und Betrunkene für die Wahrheit getadelt werden. Es gibt eine gewisse Rangordnung: wichtiger als der Anstand ist die Verteidigung eines persönlichen Territoriums der Wahrheit, das uns vor der von 58 Millionen Händen verfassten Fiktion retten wird.

In politischer Hinsicht glaubt jeder an das, was ihm passt; um seine Position, seine Sicherheit behalten zu können, gibt es für jede Tendenz und Zweckmäßigkeit ein Informationsmedium. Das brachte uns die Meinungsfreiheit bei: Wenn es dir nicht gefällt, schalte einfach weiter bis zu einem Sender, der eine Version bringt, die sich an deine Vorlieben anpasst.

An diesem Punkt angekommen könnte ich mich buchstäblich verlieren in all den Beispielen für Verheimlichungen, Täuschungen und Zynismus, die unser Erwachen zwischen der Überschrift und den täglichen Abschlusskommentaren schmücken. Aber ich beschränke mich auf einen einzigen Fall, den ich ergreifend lächerlich finde. Es handelt sich um die Geschichte eines Mannes, der die Willensschwäche aus der jungen Wählerschaft vertrieb (die Generation X, die sich ihre gesamte Lebenszeit darauf vorbereitete, keine X zu setzen, da sie die Worte der Politiker als leere Worte versteht, da Politiker ja keine Dichter oder Ähnliches sind). Er mobilisierte und begeisterte sie mit Marketingstrategien, unwiderstehlichen Farbdesigns und wahnsinnig unterhaltsamen Kampagnen in den sozialen Netzwerken. Dieses Post-Pubertäre Phänomen wurde über seine Initialen PPK bekannt, und ich habe es immer als äußerst unangenehm empfunden. Denn jeder Erwachsene oder Post-Pubertäre, der was auf sich hält, wusste bereits, dass er ein Spielball der internationalen Interessen ist.

Um sich von dem negativen Präzedenzfall Fujimoris, dem ehemaligen peruanischen Präsidenten, zu distanzieren, dessen doppelte Staatsbürgerschaft bekannt wurde, als seine Vergehen ans Licht kamen und er in einem Privatjet nach Japan flüchtete, wo er für Jahre Asyl erhielt, versprach PPK, seine U.S.-amerikanische Staatsbürgerschaft abzulegen. Während des Wahlkampfes bestätigte er, die ersten Schritte bereits eingeleitet zu haben und seine Fans glaubten ihm. Als er jedoch nach seiner Amtszeit erneut danach befragt wurde, erklärte er rotzfrech, dass diejenigen, die das geglaubt hätten, doch echt dumm sein müssten. Ich erinnerte mich an den Personalausweis von Fujimori, auf dem stand, dass er am 28. Juli geboren wäre, genau am Nationalfeiertag, was für ein außergewöhnlicher Zufall, auch das war eine Lüge. Er war nicht mal Peruaner. Eine Lüge, wir sind alle Peruaner.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Keine Ahnung ist keine Ausrede http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/keine-ahnung-ist-keine-ausrede/ Wed, 23 Jun 2010 10:34:20 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=323 Die Frage, was ich über die Geschichte meines Landes gelernt habe, ist für mich nicht einfach zu beantworten, weil das Land, das meines ist und dessen Sprache ich spreche, nicht immer mein Land war. Die ersten 18 Jahre meines Lebens verbrachte ich in einem Staat, in dem zwar dieselben Wörter und grammatischen Regeln verwendet wurden wie in dem Staat, in dem ich heute lebe, die Landessprache jedoch in jeder Hinsicht eine andere war…

Die Deutsche Demokratische Republik, in der ich aufwuchs, gehörte in den Reigen der kommunistischen Diktaturen Ost– und Mitteleuropas, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Weil man in diesen bis zum Schluss ein großes Problem mit dem eigenen Selbstverständnis hatte und deshalb nie so richtig aus einem historisch-politischen Erklärungszwang herauskam, ging die Gehirnwäsche sicherheitshalber gleich in der Schule los. Die Naturwissenschaften waren davon nicht näher betroffen, dafür die geisteswissenschaftlichen Fächer umso mehr. Allen voran der Geschichtsunterricht, dessen Themen und Melodien ohnehin stets von denen bestimmt werden, die die Macht haben. Im Fall der DDR wurden deshalb die meisten Fakten (wenn sie denn überhaupt welche waren) sorgfältig in ein Geflecht politischer Klassenauseinandersetzungen gezwungen, an deren Ende nichts anderes als die Diktatur des Proletariats, mithin der Sieg des Kommunismus stehen konnte. Dass das rigide System, welches uns umgab, unmöglich die Krone der Menschheitsgeschichte sein konnte, sah eigentlich jeder.

Wer trotzdem nicht anfing, die offiziellen Thesen zu hinterfragen, konnte schnell in ähnlich intellektueller Verwirrung enden, wie ein DDR-Philosophiestudent, von dem ich in meinem zweiten Buch erzähle. Er antwortete im Frühsommer 1989 auf die Frage, warum er Platon für einen idealistischen Philosophen halte, sehr ernsthaft und ohne Ironie: „Weil Platon die führende Rolle der Arbeiterklasse nicht erkannt hat“! Was im Grunde nicht mal von der Hand zu weisen ist. Natürlich hat Platon die führende Rolle der Arbeiterklasse nicht erkannt, er hat ja auch die Verdummungsgefahr durch das Privat-Fernsehen vollkommen unterschätzt. Oder die negative Wirkung von Elektrosmog auf Bach-Blüten.

Ich hatte mehr Glück als dieser bedauernswerte junge Mensch. In meiner Familie wurde großen Wert darauf gelegt, nicht einfach nachzubeten, was man uns einzureden versuchte, sondern sich eine eigene Meinung zu bilden – und zwar nachdem man sich, selbst denkend, mit dem Thema beschäftigt hatte. Eine elterliche Weisheit, die ich nach wie vor zu beherzigen bemüht bin. Denn ich halte eine gewisse Skepsis offiziellen Ansagen und Dogmen gegenüber auch heute, wo wir in einer Demokratie leben, noch für sinnvoll. Die Dinge und ihre Ursachen haben immer zwei (oder mehr) Seiten und man sieht nie alles, wenn man nur in eine Richtung schaut. Das betrifft die Geschichte genau so wie die Politik, die Liebe und das Leben überhaupt.

Und das Schöne an der Freiheit ist: Man darf sich über alles belesen, aufklären, erkundigen. Niemand muss mehr Platon und die Arbeiterklasse unbefugt in einen Topf werfen. Und wenn, ist man selbst Schuld. Die Zeit der Ausreden ist zumindest in Deutschland vorbei. Der ebenso kluge wie bitterböse Kabarettist Dieter Nuhr, den ich sehr mag, hat das Ganze mal treffend so zusammengefasst: „Wenn man keine Ahnung hat: einfach mal die Fresse halten!“ Oder sich informieren. Ist ja nicht mehr verboten.

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