Pedro Mairal – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Ich habe mir die Haare nicht entfernt http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/ich-habe-mir-die-haare-nicht-entfernt/ Mon, 11 Oct 2010 21:25:43 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2887

Pedro Mairal wurde 1970 in Buenos Aires geboren, seine Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt und in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland herausgegeben worden. 2007 wurde er von der Jury der Bogota39 zu einem der besten, jungen Schriftsteller Lateinamerikas erklärt. Er sprach über Argentinien, die Buchmesse und politisches Positionieren:

Wie Borges schon sagte: Man ist leider unvermeidlich Argentinier. Man kann es nicht vermeiden, Argentinier zu sein, man kann es nicht vermeiden, Lateinamerikaner zu sein. Man kann es nicht vermeiden, für die Europäer exotisch zu wirken. Man kann weder versuchen, noch kann man vermeiden, es zu sein. Mich interessiert sehr, wie die Politik und die Geschichte in der Intimität widerhallen, wie sie im Bewusstsein, im Körper widerhallen.

Mich interessiert Politik, wenn die gefällten Entscheidungen schlussendlich im Körper von irgendjemand Wirkung zeigen. Es gibt beispielsweise eine Erzählung über eine Frau, die gefoltert wurde. Sie wurde in den Keller gebracht, in einen Kerker geworfen und angewiesen, sich nackt auszuziehen. Sie wusste, dass sie gefoltert werden würde, aber das erste, an das sie dachte, als zu ihr gesagt wurde, sie solle sich ausziehen, war: Ich hab mir die Haare nicht entfernt. Diese kleine Windung des Gedankens, dieser Moment der Intimität, in dem der Scham größer ist, als alles andere, das ist der Moment, in dem für mich die Prosa eintreten soll. Nicht in der Makro-, sondern in der Mikro-Politik. In jener Intimität, da, wo die politischen Entscheidungen schlussendlich im Bewusstsein, im Körper widerhallen, und eine persönliche Verzweiflung hervorrufen. Ich versuche immer zu vermeiden, mich politisch zu positionieren. Das passt am besten zu meinem Wesen. Ich habe keine klare politische Einstellung. Das hängt ziemlich von der Laune ab, mit der ich morgens aufstehe, außerdem fühle ich mich durch keine der derzeitig in Argentinien existierenden politischen Parteien tatsächlich vertreten. Demnach fühle ich mich politisch ziemlich frustriert.

Ich bin mit der persönlichen Freiheit der Demokratie aufgewachsen, das ist die Kultur, die mich prägte. Die Gefahr, in der unsere Generation sich befindet, ist, dass wir sie als selbstverständlich ansehen. Aber wir sollen nicht vergessen, dass es etwas ist, das man erreicht hat, etwas, zu dessen Erhaltung man beigetragen hat, und in diesem Punkt glaube ich schon, dass ich eine persönliche Verantwortung habe, die darin besteht, für das Thema zu sensibilisieren.

Ich habe nur zwei Hallen von der Messe gesehen. Mir kommt es vor, als wären es mehrere Messen zusammen, es ist monströs, riesig, unüberschaubar. Ich war noch nie auf einer so großen Buchmesse. Ich versuche, alles zu sehen, was ich schaffe, aber ich weiß, dass es unmöglich ist, alles zu sehen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Das sind unvermeidbar wir! http://superdemokraticos.com/themen/buchmesse/das-sind-unvermeidbar-wir/ Sat, 09 Oct 2010 14:12:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2798
Marvin Kleinemeier betreibt das Blog Wilde Leser mit Informationen und Lektüren zum chilenischen Autor Roberto Bolaño und einem Argentinienschwerpunkt. Mit dem argentinischen Autor Pedro Mairal spazierte er durch die Messehallen.

Beim Betreten der Ehrengastausstellung müssen sich die Augen an die relative Dunkelheit gewöhnen. Das weitläufige Areal wirkt gleichzeitig zu groß und zu klein. Es ist Donnerstag Mittag, die Gänge sind leer, die eingeladenen Lateinamerikaner scheinen für einen Augenblick unter sich zu sein und diskutieren in kleinen Gruppen vor den Exponaten. Das erste Gesicht, das mir auffällt, ist ein bekanntes. Zwischen zwei weißen Spruchbannern, die bewegungslos von der hohen Decke herabhängen, sehe ich Pedro Mairal. Er wirkt unscheinbar, sein dünner Bart erscheint spitzer als auf den Verlagsfotos. Er hält sich mit beiden Händen an der Schlaufe eines kleinen Rucksacks fest, als fürchte er aus dem Setting zu rutschen. Er erinnert sich sofort an meinen Namen. Vor einigen Wochen hatten wir ein langes Interview geführt.

Wir schlängeln uns zwischen den Damokles-Bannern hindurch, beginnen einen kleinen Spaziergang durch die Ausstellung und ich frage ihn, ob er sich angemessen repräsentiert fühle. „Das sind AUCH wir. Das sind unvermeidbar wir!“, gibt er resigniert von sich, ohne mich anzuschauen. Sein Blick ist auf die überdimensionierte Propagandatafel der argentinischen Präsidentin gerichtet. Ein paar Schritte weiter begeistert er sich dann für die Karikaturen des argentinischen Cartoonisten Rep von der Zeitung „Página/12“ und zeichnet mit seinen Fingern die dünnen Linien nach. Während ich ihn beobachte, fällt mein Blick auf eine Vitrine, in der Ernesto Guevaras Tagebücher ausgelegt sind und erinnere mich an das Jahr meines Lebens in dem ich sie alle gelesen hatte. Pedro sage ich nichts davon.

Nach weiteren Schritten über den ungenau verlegten Holzboden erreichen wir ein Mahnmal für die Verschollenen der Diktaturzeit. Wir stehen vor einer Tafel, auf der die Schriftsteller aufgezählt sind, die während der Diktatur verschwunden sind. Es ist eine große Tafel. Vielleicht 60 Namen. Ich hörte bereits andere Schriftsteller den abgenutzten Begriff der „verlorenen Generation“ benutzen. Für Mairal geht das nicht weit genug. „Das ist ein Loch, ein Abgrund zwischen zwei Generationen. Eine ganze Stimme unserer Geschichte wurde ausgelöscht.“ Nachdem er das sagt, erneuert er seinen Griff um die Rucksackschnalle und blickt gedankenverloren auf die riesige Landkarte Argentiniens auf der Fläche nebenan, die mit plakativen Tourismus-Fotos beleuchtet wird.

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