Nationalität – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 schluss mit dem wackelkontakt http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/schluss-mit-dem-wackelkontakt/ Wed, 28 Dec 2011 10:28:07 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6261 in einer stadt mit einer dichten dichte an dichterInnen dichten heisst dichten sprich schreiben sprich literatur(be)treiben aktiv sein schlechthin und das in einer stadt mit zweihundert nationalitäten davon hundertdreiundsechzig allein in meinem neukölln heisst ein zwischenspiel der vielen sprachen begegnen lesen übersetzen lesen und dann natürlich bierchen trinken das gehört dazu so könnte ichs mir vorstellen aber

leider bleiben die verschiedenen gruppierungen meist unter sich in dieser stadt obwohl man hats versucht ich denke an rage into the night im st. gaudy café oder ähnliche mehrsprachige lesungen im alten finanzamt oder eben auch der schöne samstagnachmittagliche hinterzimmersalon von einst oder eine schöne von lauter niemand bzw. no mans land veranstaltete schifffahrt an einem verregneten samstag im vergangenen sommer wo neben deutsch auch englisch und spanisch zu hören waren zumindest solange der wackelkontakt im mikrofon es zugelassen hat ja

das ist es vielleicht

den wackelkontakt aufzuheben der das gemeinsame literaturmachen stört sogar verhindert i have a dream

worin besteht denn meine ganz persönliche beteiligung in der literaturszene in dieser stadt? bekanntschaften und freundschaften unter schreibenden die lyrik und prosa schreiben sowohl englisch als auch deutsch ich gehe zu deren lesungen und treffe sie gelegentlich auch privat das könnte man nennen: passiver literaturaktivismus ich schreibe selbst lyrik auf englisch und übersetze deutsche lyrik vorwiegend von meinen freundInnen und bekannten ins englische übersetzungen die dann in zeitschriften erscheinen zum beispiel bei no mans land oder shearsman oder great works oder horizon review oder litter aber auch in einigen german poetry special features die in den usa erschienen sind – in der chicago review in der atlanta review in LITmag in shampoo und 2010 erschienen bei shearsman books auch meine übersetzungen von norbert hummelt im band berlin fresco dann noch zweisprachige lesungen unter anderem auch im poets corner im poesiefestival berlin oder in der lettretage gemeinsam mit andré jahn der meine gedichte ins deutsche übertragen hat aber auch auf besagtem boot an besagtem verregneten samstagnachmittag im sommer was man aktiver literaturaktivismus nennen könnte so habe ich sozusagen ein fuß in beiden lagern

im anglophonen lager ist mal mehr mal weniger los mit lesungen und regelmäßigen austausch mit anglophonen communities in prag paris amsterdam und mit kontakten auch zur insel denn jedes jahr im november gelingt es lyriker und lyrikerinnen aus großbritannien und anderen europäischen städten nach berlin zu locken um bei poetry hearings teilzunehmen unserem festival von anglophoner poesie in berlin habe ich prag erwähnt

denn

dort habe ich etwas erlebt was als vorbild dienen könnte wie man und frau die voneinander abgegrenzten literaturaktivismen in berlin zusammenbringen könnte i have a dream

it goes something like this

es wird gemeinsam in verschiedenen sprachen auf einer bühne gelesen – deutsch englisch spanisch französisch russisch und jede andere sprache in der in berlin geschrieben wird – und alle vorgetragenen texte werden vorher übersetzt in die jeweiligen anderen sprachen übersetzt und dann entweder mit vorgetragen oder projiziert

aber so was kann nur dann funktionieren wenn finanzierung gefunden wird um die übersetzungen zu bezahlen oder wenn engagierte menschen die übersetzungen unentgeltlich übernehmen wie ich so oft getan habe und soll das ganze denn an dem schnöden geld scheitern aber das wäre realer literaturaktivismus literarische integration

i have a dream

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Heute Bürger, morgen Fremder? http://superdemokraticos.com/themen/burger/heute-burger-morgen-fremder/ Thu, 09 Sep 2010 07:48:29 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1785

Cover, Sherry Yorke: Multicultural Literature. Foto: Linworth Books

Mein Land ist Kuba, aber heute bin ich zu Besuch in den USA, um genauer zu sein, in Miami. Eine erstaunliche Stadt, voller Latinos – Immigranten aus Lateinamerika – und mit einem Klima, das dem von Havanna ähnelt. Die Kategorie Latino scheint nur hier Sinn zu machen oder im Rest der USA und Kanada. Latino ist eine Etikettierung, die ich politisch sehr produktiv finde, da sie von den kulturellen Unterschieden und Ähnlichkeiten Zeugnis ablegt, das heißt, den Unterschiedlichkeiten und Ähnlichkeiten zwischen dem Nordamerikanischen oder dem, was als Gringo bezeichnet wird, und den verschiedenen Kulturen Lateinamerikas.

Es ist nicht so, dass alle Latinos in den USA denselben Umgang mit dem Nordamerikanischen führen würden, natürlich nicht. Die Kubaner, die Puertorikaner, die Mexikaner – die in Texas am zahlenstärksten sind – die Kolumbianer, die Menschen aus der Dominkanischen Republik, unter vielen anderen, eignen sich auf verschiedene Weise den american dream an. In Miami, zum Beispiel, scheinen die Kubaner tendenziell nach einem wirtschaftlichen american dream zu streben und ihn zu erreichen. Ich weiß von Puertorikanern in manchen Gegenden dieser Stadt, die in Vierteln wohnen bleiben, die als arm und schwarz gelten. Ersteres kann man dort mit eigenen Augen erfahren, zweiteres hat mit der Stellung zu tun, die bestimmte kulturelle Identitäten innerhalb der Vorstellung des Nordamerikanischen innehaben, die von dem Attribut „white people“ dominiert wird, was zugleich auf eine ethnische wie eine politisch-ökonomische Überlegenheit hinweist. Mit „white people“ meint man Angelsachsen oder deren Nachfahren. Alles, was da nicht reinpasst, fällt bezeichnenderweise aus der Kategorie Weiß heraus – was uns in Erinnerung ruft, dass die Kategorie Rasse zur Zeit der Kolonisierung Amerikas geboren wurde.

In einem informellen Treffen mit Studenten und Bibliotheksangestellten der Universität von Miami traf ich auf junge Leute, die aus Puerto Rico, Mexiko, Kolumbien, Haiti, Kuba… ausgewandert waren. Alle lebten schon seit Jahren in den USA, und ich hatte den Eindruck, dass sie von ihrem Ursprungsland wie von einer entfernten Vergangenheit sprachen oder wie von einem Ort, den man verlassen musste, weil die USA ein besserer Ort seien. Sie fragten mich, ob ich nicht lieber hier bleiben würde, statt nach Kuba zurückzugehen. Als ich verneinte, fragten sie mich, warum.

Warum würde jemand in ein Land zurückgehen wollen, in dem die wirtschaftliche und soziopolitische Lage instabil ist oder  gar einem Alptraum gleicht – in dem Sinne, dass sich das Land in einem Teufelskreis ohne sichtbaren Ausweg zu befinden scheint? Meine Antwort liefert keine Begründung, sie basiert auf Intuition. Auch wenn ich es für wichtig erachte, die Latino-Identität als ein Gegenmittel zur  unheilbringenden Ideologie der bis zu einem gewissen Grad hinfälligen nationalen Identität zu stärken, möchte ich zurückkehren. Denn ich erachte es für wichtig, sich in der Zivilgesellschaft jener Länder einzubringen, die zurück gelassen werden, wenn die Menschen auswandern. Ich finde es wichtig, Migration weniger als Auswanderung aufzufassen – Kuba und jedes andere  lateinamerikanische Land sind so an Abschiede und an durch Ozeane getrennten Familien gewöhnt – denn als ein Hiersein, während man dort ist und viceversa. Nicht gen Norden oder nach Europa als einem Vorbild zu schauen, sondern als ein Beispiel dessen, was wir nicht sind und nie sein werden. Ich schlage also das Reisen als einen Lernprozess vor. Damit meine ich nicht eine Auswanderung, um eine neue nationale Identität oder eine doppelte Nationalität zu erlangen, sondern den Versuch, die sich selbst überholte oder im Wandel begriffene – wann war das in Lateinamerika nicht der Fall? – nationale Identität  abzulegen und zu einer neuen Form der Idenität zu gelangen. In dieser Identität kreuzt sich das Erfahrungswissen, das Wissen, was aus nichts anderem als aus der Erfahrung gewonnen wird… , mit den eigenen und fremden kulturellen Praktiken.

Ich schlage vor, das Fremdsein als eine Form des bürgerschaftlichen Handelns zu praktizieren. Meine Heimat, meine Stadt, befinden sich vor allem an Schnittstellen. Und ich glaube, damit bin ich nicht die einzige…

Übersetzung: Anne Becker

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Formular http://superdemokraticos.com/themen/burger/formular/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/formular/#comments Wed, 01 Sep 2010 07:00:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1345 Heute erhielt ich von meiner Anwältin die Nachricht, dass der Moment gekommen ist: Wenn ich möchte, kann ich mich nun, wann immer es mir beliebt, um die US-amerikanische Staatsbürgerschaft bewerben. Ich lud mir sofort das Formular aus dem Internet herunter, als ob es sich um Leben und Tod handelte, und fing an, es mit größter Geschwindigkeit auszufüllen.Vor einigen Jahren hätte mein linker Vater einen Kreislaufkollaps bekommen, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich der US-amerikanischen Flagge die Treue schwören und all die schrecklichen Zeremonien über mich ergehen lassen würde. Bestimmt wäre auch mein Kreislauf kollabiert. Ich habe gegen den Krieg demonstriert, habe alle linken Zeitschriften und Bücher von Revolutionären gelesen, die Dinge waren für mich sehr klar. Ich wollte dieses Land nicht mögen, ich wusste nichts über seine Geschichte oder seine Bevölkerung, und ich vermute, ich wollte auch nichts darüber wissen.

Aber die Dinge ändern sich. Nicht so sehr draußen, denn die Kriege und die Politik und die Folter bleiben dieselben, sondern in mir drin, auf einer privaten und sentimentalen Ebene. Das Leben zieht dich hinter sich her, öffnet dir den Mund und steckt dir den Finger hinein, es zeigt dir Dinge, die du nicht sehen wolltest. Ich lebe jetzt seit fünf Jahren hier und fühle mich zu Hause, auch wenn ich mich nicht „von hier“ fühle. Ich weiß nicht einmal, ob ich hier bleiben werde.

Aber mit der Staatsbürgerschaft könnte ich dort wählen, wo ich lebe und wenigstens Forderungen stellen, wozu die Steuern verwendet werden sollen, jene eingeschlossen, die wir Millionen von Einwanderern ohne Staatsbürgerschaft bezahlen. Ich könnte mich zumindest dafür einsetzen, dass die Bibliotheken erhalten bleiben, in die ich mich setze, um zu schreiben, die Universitäten, in denen ich studieren möchte und dafür, dass jene Menschen heiraten können, die heiraten möchten. Kurz und gut, um an der kollektiven Illusion der Demokratie und seiner Riten teilzunehmen. Und nun, ich vermute, es würde mir auch ermöglichen, für die Bundesregierung (der Vereinigten Staaten, Anm. d. Ü.) zu arbeiten, sollte ich irgendwann eine Spionin der CIA werden wollen.

Ich denke oft über die Staatsbürgerschaft nach, die ich heute habe, mit der ich geboren wurde, die costa-ricanische. Sie für eine andere einzutauschen, fühlt sich wie ein kleiner Verzicht an, auch wenn es keiner ist. Aber meine jetzige Staatsbürgerschaft ist die eines Landes, das es nur in meinem Kopf gibt. Das Leben erreicht mich nur, wenn ich die Tageszeitungen lese, ich im Internet herumhänge und wenn ich am Wochenende mit meinem Vater telefoniere. Jedes Mal, wenn ich körperlich da sein kann, gehe ich wählen, aber selbst so bringt es mir einen Dreck, weil das Land dort hingeht, wo es hingeht und nicht, wohin ich möchte, dass es geht. Die Staatsbürgerschaft hat sich für mich in ein vages Gefühl der politischen Zugehörigkeit zu einem Territorium verwandelt, in dem ich immer fremd sein werde, auch wenn ich nicht abwesend bin.
Ich hake fleißig die Kästchen des Formulars ab, das die nordamerikanischen Neurosen enthüllt: Nein, ich war nie Mitglied der Kommunistischen Partei, ich wollte niemals, außer in meinen tiefsten Träumen, mit Gewalt irgendeine Regierung stürzen, ich habe nicht zwischen 1933 und 1945 mit der Nazi-Regierung in Deutschland zusammen gearbeitet, ich war immer gut und wurde niemals verhaftet, ich habe weder die Prostitution noch die Bigamie ausgeübt, ich habe keine illegalen Wetten abgeschlossen, und ich weiß nicht, was sie damit meinen, wenn sie von einem Gewohnheitstrinker sprechen, aber vorsichtshalber werde ich das Nein ankreuzen.

Viele Menschen wünschen sich die Staatsbürgerschaft dieses Landes, einen legalen Status, der die Probleme von Millionen von Menschen lösen würde, die heute in der ökonomischen, familiären und persönlichen Ungewissheit leben. Nur die Privilegiertesten unter ihnen, wie ich, sind so einfältig, dass sie philosophische Erwägungen zu einem Problem anstellen, das sie nicht haben. Vielleicht ist es Teil des Spiels, vielleicht ist es gar nichts Großes, vielleicht hat es keine Bedeutung, aber ich habe das Gefühl, dass mir die Staatsbürgerschaft wenigstens erlauben würde, zu wählen, Einspruch zu erheben, den Respekt vor den Menschenrechten jener, die diese Entscheidung nicht treffen können, einzufordern.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Meine Oma und meine Freunde … http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/meine-oma-und-meine-freunde/ Tue, 31 Aug 2010 07:00:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1298 Freunde sind ein Juwel, so lautet ein Ausspruch meiner Oma. Sie sind so wertvoll, dass man von ihnen nur einige wenige hat. Warum? Das hat mir meine Oma nicht erzählt, sie hat mich nur immer dazu aufgefordert, es auszuprobieren. Mit Freunden und Freundinnen habe ich gelacht, geweint und unendlich viel Dinge gelernt. Die kritischen Momente, die wir gemeinsam erschaffen haben, sind wie ein Angriff auf die Vernunft. Wir befreien sie von ihrem absolutistischen Anspruch, entblößen sie und sehen, was sie so sehr zu verstecken versucht, nämlich ihre Vergangenheit, Gegenwart und die verdunkelte Zukunft. In diesen Soirées ist es immer notwendig, schon im Vorfeld zu sagen, wie viel getrunken wird, zehn Flaschen Wein, zwanzig oder soviel, bis es nicht mehr geht. Damit tun wir so, als ob wir alles unter Kontrolle hätten.

Diese gar wunderbaren Momente des intellektuellen und emotionellen Austauschs werden gewöhnlicherweise von Festessen und Feierlichkeiten begleitet, die entweder mit Ideen für große Projekte enden können, in meisterhaften Lehrstunden oder einfach in maßlosen Besäufnissen. Bei einer dieser gesellige Gesprächsrunden voller Musik erzählte Safo von der unruhigen Hand des Olympe de Gouges. Die Redakteure der monumentalen Déclaration des droits de l’Homme et du Citoyen (Erklärung der Menschen und Bürgerrechte) hatten ihre Mütter, Schwestern, Frauen und Kampfgefährtinnen vergessen, weshalb es sich Olympe zur Aufgabe machte, eine Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne (Erklärung der Frauen und Bürgerinnenrechte) herauszugeben. Anlässlich dessen haben ihm möglicherweise einige illustre Bürger jener Zeit, von denen es nur wenige gab, den Kopf abhacken lassen.

Das Rekapitulieren von Safo entfachte die Nacht. Freud hatte sich schon ein paar Drinks genehmigt und wollte einen Einwand bringen, aber Madame Beauvoir, die sich an seiner Seite befand, ließ ihn nicht zu Wort kommen. Herder stotterte, mit konziliantem Geist: Zeitgeist, mehr ist es nicht! Bukowski fügte ungehalten hinzu: Wozu all diese Diskussion, wenn schlussendlich die Bürger und Bürgerinnen sowieso nichts ändern können. Marx betrat mit einer Flasche Wein in der Hand den Raum und rief: Klassenkampf! Was wir zu tun haben is… Tina Modotti gab ihm unvermittelt einen Kuss, während Hannah Arendt die beiden verächtlich beobachtete und mit eisiger Stimme sagte: „Karlchen, pass mit diesen Behauptungen auf, die zum Totalitarismus führen.“ Aber er schien entschlossen nicht darauf hören zu wollen, zu viel Leidenschaft.

Die Situation schien außer Kontrolle zu geraten. Mitten in all jenem sang zu uns die felsenfeste Stimme von Chavela Vargas: El Último Trago (Der letzte Drink). Mir wurde bewusst, wie wenig mich die Nationalität interessierte und wie sehr ich das Mensch-Sein schätzte. Martí, der immer an meiner Seite war und intuitiv meine Sorgen spürte, erzählte mir: Das Wichtigste sind wir: Männer und Frauen. Dieses Wir steht aber für diese unsere Fähigkeit, Beziehungen einzugehen, deshalb darf der politische Ausdruck dieses Beziehungen-Eingehens, das Bürger-Sein, nicht aus den Augen verloren werden. Octavio Paz, der gerade damit aufgehört hatte Chavela Beifall zu klatschen, sagte zu Martí: „Vergiss nicht, dass wir die Söhne der Gefickten sind.“ Er – und er deutete auf mich – ist Bürger keines Landes. Nicht von Kuba, weil er trotz seiner angeblichen Rechte nichts machen kann. Nicht von Berlin, weil er dort keine Rechte besitzt, und selbst wenn er sie hätte, könnte er eher wenig tun.

Bakunin, der zu meiner Rechten auf dem Boden saß und sich mit Tagore unterhielt, hatte das wohl gehört und fügte hinzu: Der Status des Bürgers ist Lug und Trug, denn ein Staat, der von dieser Annahme ausgeht, unterscheidet zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern und vergisst darüber die Wurzel von allem: den Menschen. Lezama Lima legte Gardel auf, der Volver (Zurückkommen) sang. Foucault und Gramsci, die links neben mir ohne Musik in einer Ecke getanzt hatten, dankten ihm und machten weiter. Unglaublicherweise sagte Kant die ganze Nacht gar nichts, er sah traurig aus; jemand erzählte, dass Juana Bacallao von ihm schwanger wäre; aber möglicherweise war das nur ein Gerücht.

Was für eine Nacht! Lewis W. Hine hat ein Foto davon gemacht. In diesem Moment befand sich meine Oma an irgendeinem Ort im Wohnzimmer; sie, Ikonoklastin, Veteranin des Kampfes, die mit ihrem Lächeln Herzen zum Leuchten brachte, mit einem Mojito in der Hand. Sie ist der Leuchtturm, an dem ich mich orientiere. Wir sahen uns an, lächelten. Mit diesem Lächeln gehe ich von einer Versammlung zur nächsten, wie meine Oma immer sagt: Das Beste ist noch zu erwarten oder selbst zu machen, würde ihr Ana Laura mit einem Augenzwinkern sagen …

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Bürgerin von zwei Katastrophen http://superdemokraticos.com/themen/burger/burgerin-von-zwei-katastrophen/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/burgerin-von-zwei-katastrophen/#comments Fri, 20 Aug 2010 07:17:09 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=966 Meine zwei Länder sind zwei Katastrophen. Deshalb lebe ich jeden Tag mehr an einem imaginären Ort. Oder sagen wir besser: an einem virtuellen Ort. Meine gesellschaftliche Teilhabe als Bürgerin ist gleich Null, da ich eine unperfekte Bewohnerin bin, die weder von hier ist noch sich dort befindet. Ich habe keine Stimme, um über Venezuela zu urteilen, weil ich nicht dort bin – wird mir gesagt.

Ich kann nichts zu Israel sagen, weil ich Ausländerin bin – denke ich. Aus diesem bürgerschaftlichen Limbo heraus fühle ich mich annulliert und gehe den Schwierigkeiten, so gut ich kann, aus dem Weg. Die Gesetze von hier wie von dort haben Auswirkungen auf mich, doch sie wissen nicht, wie sie mit mir verfahren sollen. Damit meine Kinder nach Venezuela einreisen konnten, musste ich für sie die argentinische Staatsbürgerschaft beantragen – die ihnen väterlicherseits zustand. Es war kaum von Bedeutung, dass sie meine Kinder waren: Wenn sie mit israelischem Pass reisen, können sie in das Land nicht einreisen, in dem ich geboren bin und in dem ich bis vor kurzem lebte. Jedes Mal, wenn ich mich dem Schalter irgendeines Beamtens nähere, muss ich erläutern, wie ich hier gelandet bin. Jedes Mal, wenn ich eine Flughafen betrete, muss ich erklären, warum ich dort hin fahren möchte. An dem Tag, an dem meine Kinder die argentinische Staatsbürgerschaft erhielten, sind wir ein Steak in einem argentinischen for export-Restaurant essen gegangen, um zu feiern. Die Musik, mit der wir in diesem möchte-gern-gaucho-artigen Simulakrum empfangen wurden, spielte gerade jenes alte Tränendrüsenlied mit den Zeilen no soy de aquí, ni soy de allá (ich bin nicht von hier, noch bin ich von dort“.

Keine der Fahnen behagt mir. Falls im Nahen Osten das Wasser ausgeht, kehre ich nach Venezuela zurück. Falls ein neuer Krieg ausbricht, falls ich ein Attentat aus nächster Nähe erlebe, falls das Mittelmeer vor Medusen brennt, falls die so sehr versprochene Atombombe endlich auf dieser Seite landet, kehre ich nach Hause zurück. Aber mein Zuhause ist nicht mehr mein Zuhause, sondern ein Schlachtfeld, auf dem die Gewalt und die Verbrecherbanden mit großen Abstand über jede gute Absicht siegen. Mit Venezuela geht es den Bach hinunter dank seiner Irrfahrt mit Kurs auf ein Ziel namens „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ oder trotz dieses Unterfangens. Eine vorgeblich neuartige Doktrin, die aber auf uralten Konzepten und Worten aufbaut.

Seit zehn Jahren ist der Staat damit zugange, die Namen der Ministerien, der Institute, der Abteilungen, der Banken, der Fernsehanstalten, der Währung zu ändern. Alles muss einen Namen erhalten, der der neuen politischen Realität entspricht. Ich weiß von nichts mehr, wie es heißt. Währenddessen hält uns die Titelseite einer Auflage starken Tageszeitung eine schmerzhafte Realität vor Augen: Auf dem Foto sieht man die verhüllten Körper  von einem Dutzend Toten in einem Leichenschauhaus, die aus Platzmangel auf irgendeinem Flur aufgetürmt wurden. Alle wurden an einem x-beliebigen Wochenende in Caracas von Kriminellen ermordet. Körper, die verwesen, ohne dass jemand ihnen die Augen schließt und für das Begräbnis (ein Massengrab, natürlich) zurecht macht. Ein Krieg. Wenn irgendjemand sagt, dass er oder sie es nicht mehr aushält, mit so viel Gewalt zu leben, findet ein Minister das lustig. Vielleicht bezichtigt er diese Tageszeitung der Eschatologie und veranlasst ihre Schließung, um sich so von seinem riesigen Lacher zu erholen.

Dasselbe Lachen, mit dem sich eine Soldatin der israelischen Armee umringt von gefesselten palästinensischen Gefangenen mit verbundenen Augen portraitieren lässt. Die beste Zeit ihres Lebens – schreibt sie auf ihrer Facebook-Seite, auf der sie das heute berühmte Foto veröffentlicht, mit dem sie sich sofort einen Namen machte.

Wie es aussieht, gibt es in meinen zwei Ländern dieses Lachen in Hülle und Fülle. Und die Kadaver. Und die Entführungen. Und die Festgenommenen. Und die politischen Gefangenen. Und die Kriege. Und die Guerillas. In Venezuela gibt es mehr Hunger, das schon. Und ein tausend Jahre altes Elend, das niemanden schmerzt.

Meine bürgerschaftliche Teilhabe ist gleich Null. Ich lebe in meinem imaginären Land, meinem virtuellen Land, meinem Atom-U-Boot, meinem Asteroid B612. Wenn Krieg ist, schließe ich die Fenster, um ihn nicht zu hören. Ich recycle keinen Müll, ich spare kein Wasser, ich hoffe, dass das Ozonloch groß genug ist, um all die Ungerechtigkeiten zu verschlingen. Ich demonstriere nicht für irgendeine Minderheit, denn ich bin die Minderheit der Minderheiten. Niemand würde für mich auf die Straße gehen, genauso wie niemand denkt, dass meine politische Meinung irgendeinen Wert hat, da ich ja so weit weg bin, da ich ja so ausländisch bin.

Übersetzung: Anne Becker

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