MNR – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Familientauziehen http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/#comments Fri, 16 Jul 2010 08:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=460 Seit meinem fünften Lebensjahr besuchte ich jeden Sonntag meine Großmutter väterlicherseits. Meine Oma war an den Rollstuhl gefesselt. Mehrere Krankheiten hatten sie früh ihrer Jugend beraubt. Dieses Invalidendasein schien ihr einen inneren Frieden zu bescheren, welcher sich in einem scharfsichtigen historischen Sinn äußerte. Eine zu früh gealterte Frau als Speicher für das kollektive Gedächtnis. Jeden Sonntag also, nach dem Mittagessen, erzählte sie mir punktgenau ein Kapitel der bolivianischen Geschichte. Auf diese Weise versuchte sie, dem Einfluss entgegenzuwirken, den ich im Hause meiner Großmutter mütterlicherseits ausgesetzt war, wo ich von Montag bis Samstag wohnte. Dort waren sie flammende Anhänger der MNR (lange wichtigste Partei des Landes; in den 1940/50er Jahren linksgerichtete, nationalrevolutionäre später dann neoliberale Orientierung, Anm.d.Ü.). Meine Oma väterlicherseits erzählte mir von der Familie Barrientos und der Nationalgeschichte. Ihre Erzählung glich einem Spionagefilm. Wer die Guten und wer die Bösen waren, war für mich schwer zu durchschauen. Die Geschichten waren voller Mikrogeschichten. Sie erzählte mir von den Überstülpungen der Revolution von 1952, vom Leben ihres Vaters in den Minen, vom geheimen dekadenten Leben des Präsidenten Víctor Paz Estenssoro, genannt der„Affe“, vom inneren Exil meines Großvaters, der Mitglied der faschistischen Falange in Bolivien war, vom Tod meines Onkels bei einem Flugzeugabsturz direkt vor der Haustür, von dem anderen Onkel (dem berühmteren), der Paz Estenssoro gestürzt hatte.

Ich kam jedes Mal verwirrt und misstrauisch wieder im mütterlichen Zuhause an, und dort kontrastierten sie die Erzählung mit anderen Beweisstücken: die unübersehbaren Errungenschaften der Revolution von 52 (Nationalisierung der Minen und die Landreform, zum Beispiel), die manipulative Amtsführung von Barrientos als Präsident, der lange Protagonismus der MNR in der nationalen Politik als Beweis ihres Erfolgs.

Beide widerstreitende Erzählungen formten nach und nach meine Identität. Mit der Zeit habe ich dann selber die Erzählung unter Zurhilfenahme von Büchern und Lehrern neu zusammen gesetzt. Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass die Geschichte ein Prozess ist und keine Abfolge von historischen Ereignissen und schroffen Brüchen. Die Revolution von 1952 kann aus heutiger Sicht kritisiert und als unzureichend eingestuft werden, als eine Zeit voller Widersprüche. Doch zugleich wäre nichts von dem, was wir heute erleben, ohne diesen Prozess möglich gewesen. Nicht zuletzt die Revolution selber, die aus den indigenen Revolten hervorging, welche im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzten und bis in 1940er Jahre anhielten. Diese wiederum kündigten sich seit den Aufständen der Tupcas am Ende des 18. Jahrhunderts an. Tupac Katari und Tupac Amaru II waren zwei der wichtigsten indigenen Rebellen während der spanischen Kolonialzeit, sie umzingelten La Paz zweimal, 1750 und 1781.

Es gibt keine Stunde Null und kein Ende der Geschichte. Ich habe auch gelernt, dass die Geschichte nicht allein in den Geschichts- und Schulbüchern präzise beschrieben ist, sondern auch in den Liedern und in der Stimme unserer geliebten Mitmenschen.

Übersetzung: Anne Becker

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