Migration – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Reisefahrplan http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/reisefahrplan/ Wed, 08 Dec 2010 19:07:15 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3371 Vom Bett aus sieht man, wie der Raureif der Morgenstunden das Glas der Fensterscheibe des Zimmers liebkost. Der Schnee möchte herein kommen, um Hallo zu sagen, nur die Wärme der Heizung hält ihn davon ab. Ich habe kaum mehr als vier Stunden geschlafen. Lust aufzustehen, habe ich nicht besonders, aber ohne Visum im Pass wäre alles komplizierter. Die zehn Schritte bis zum Bad, die Zahnbürste und Zahnpasta, ein schnelles Zähneputzen, das Gefühl von Sauberkeit bringen mich dazu, unter die Dusche zu springen und auf diese Weise das Gefühl der Verzückung zu verlängern und die Gerüche von gestern abzustreifen. Eines feindseligen Gestern. Zusammen mit einem guten Lied, um den Tag zu beginnen und das erste Glas Wasser zu trinken. Gedanken verwandeln sich in Aktion. Aus dem Bett steigen, die Schritte, Bugge Wesseltoft mit It’s snowing on my piano, die Dusche, das Handtuch, das Wasser: die Ruhe der kleinen Dinge, die die Seele besänftigen.

Andares.

Die Uhr hingegen kennt keine Ruhe und zeigt an, dass eine halbe Stunde vergangen ist. Du hast 15 Minuten länger für etwas gebraucht, was du in zehn Minuten hättest erledigen sollen. Es ist kein Kaffee da. Beeil dich! Zieh dir die schönste Hose zum schönsten Hemd an, Schal und Mantel. Man muss einen guten Eindruck machen. Vergiss nicht, die Unterlagen mitzunehmen, die du gestern vorbereitet hast und vergewissere dich noch einmal, dass sie vollständig sind. Lauf schnell die Treppen hinunter, aber stolpere nicht, das ist kein Moment für Unfälle. Kalte Luft. Die Schritte versinken im Schnee; hoffentlich vergessen sie nicht, die Kieselsteinchen zu streuen, die uns vor dem ständigen Ausrutschen schützen. Habe ich wohl alle Unterlagen? Die U-Bahnstation ist keine fünf Minuten entfernt. Durch Neukölln zu laufen hat seinen Reiz. Auf seinen Straßen flaniert ein besiegter Surrealismus umher, der mich zur Rebellion einlädt. Neukölln stellt seinen messerscharfen Barockismus zur Schau.

Um acht Uhr morgen hat der türkische Bäcker an der Ecke Selchower Straße schon ein paar Bewohner. Mit eingespieltem Hallo nehme ich lächelnd meinen Kaffee entgegen und gehe schnell in Richtung Herrmannstraße weiter. Hundert Meter weiter, einmal links abgebogen, und ich bin schon auf dem U-Bahnhof. Der Zug kommt in zwei Minuten. Wenn du mit der U-Bahn fährst, siehst du die Stadt anders, du siehst sie in dem Blick ihrer Fahrgäste, im Hin- und Herwanken ihrer Körper, einer gegen den anderen. Du siehst sie in dem Kontrolleur der BVG, in dem Schwarzfahrer, in dem Mädchen auf dem Weg zur Universität, dem elegant gekleideten Typen und dem Haufen Seelen, die sich nicht mehr an den Toren zum Fegefeuer drängeln, sondern an der automatischen Waggontür der U-Bahn. An der Osloer Straße steige ich in die U 9 um, fahre bis zur Amrumer Straße, zwei Stationen und fast bin ich da. Ein Schild kündigt die Nähe meines Ziels an: Ausländerbehörde nach rechts.

Das Gebäude ist nicht einladend, aber es führt kein Weg daran vorbei. Trotz allem bin ich 13 Minuten zu früh da, so dass ich den richtigen Raum in Ruhe suchen kann. Ich orientiere mich an den kleinen Lageplänen, die mir anzeigen, wo ich hin muss. Zweiter Stock nach rechts. Ich setze ich mich in das erste Wartezimmer auf der linken Seite und warte darauf, dass auf der Anzeigentafel meine Nummer aufleuchtet. Zum Glück habe ich einen Termin, zwei Monate habe ich auf ihn warten müssen. Ich ziehe das Buch, was gerade an der Reihe ist, aus meiner Tasche. Heute ist die tausendfach wieder gelesene Gedichtanthologie von Mario Benedetti dran. Ich schlage es irgendwo auf und Benedetti entlockt mir ein Lächeln: Er bittet mich, mich nicht zu retten. Als wäre es so einfach…

Ein Mann, der zwischen 30 und 35 Jahren alt sein muss, kommt auf mich zu. Er fragt mich, ob er hier für B richtig ist, ich bejahe und er setzt sich neben mich. Und wo kommst du her? – fragt er mich. Aus Kuba – sage ich. Oh, Kuba! Che Guevara… er versucht ein Grinsen. Ein schönes Land – fügt er hinzu. Ich glaubte nicht, nervös zu gucken. Doch mein Gesicht scheint das Gegenteil auszudrücken, denn mein neuer Freund führt fort: Mach dir keine Sorgen, Kubanern geben sie sicher ein Visum. Ich komme aus dem Libanon, mich lassen sie länger schwitzen.

Ein Geräusch teilt mir mit, dass eine neue Nummer aufgerufen wird. Meine. Ich verabschiede mich mit einem Lächeln und gehe auf die Tür mit der Nummer 264 zu. Benedetti hämmert mir weiterhin ein, mich nicht zu retten, mich nicht mit einem glücklichen Plätzchen auf der Erde zu begnügen. Ich kontrolliere meine Wut. Klopfe an die Tür und trete ein.

Übersetzung: Anne Becker

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Globalisierung: Für Kuba zutreffend? http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/globalisierung-fur-kuba-zutreffend/ Wed, 22 Sep 2010 15:14:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2057 Das Wort Globalisierung ist auf Kuba doppeldeutig. Wir haben sicherlich nicht diese in vielen Ländern vorzufindende hybride Wirtschaftsform, die ein allgemein anerkanntes Kennzeichen der Globalisierung ist. Eigentlich haben wir gar keine Wirtschaft. Auf Kuba war das lange ein verbotenes Wort. Zunächst einmal deshalb, weil in der von der Kubanischen Revolution geschaffenen Staatsform der Staat die Verantwortung für die Wirtschaft übernahm. Es ging darum, ein Modell für ein zukünftiges Land aufzubauen, oder besser gesagt, für eine zukünftige Welt. In diesem Modell war, wie in jedem Modell, die Wirtschaft grundlegend.

Die Konsequenz? Heute haben wir einen Expräsidenten, einen historischen Mythos und einen halbwegs linksradikalen Dinosaurier – Fidel Castro, jawohl – der in einem Interview zugibt, dass das Modell des kubanischen Sozialismus nicht sonderlich gut funktioniert. Auch wenn er später die Aussage zurücknahm, steht diese Erklärung doch sehr offensichtlich im Zusammenhang mit den neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen von Präsident Raúl, seinem Bruder, in denen zum ersten Mal seit 50 Jahren nicht nur das Privateigentum wertgeschätzt wird, sondern auch über Massenentlassungen Anreize für die private Akkumulation geschaffen werden. Wie spiegelt sich das im Alltag wider? Sagen wir mal so, dass die Globalisierung der Wirtschaft eine Legende ist, über die ich so viel gehört habe, dass ihr Einfluss auf die Wirklichkeit dem Einfluss der Legende vom Weihnachtsmann gleicht…

Ein weiteres Kennzeichen der Globalisierung: die Zunahme der Migrationsbewegungen. Im Fall von Kuba hat auch hier der nationalistische-kommunistische-sozialistische Staat (das waren die verschiedenen Bezeichnungen des revolutionären Prozesses) unter je unterschiedlichem Vorzeichen, in verschiedenen Kontexten und zu sehr umstrittenen Bedingungen massive Auswanderungswellen angestoßen. Zugleich wurden dem normalen kubanischen Staatsbürger Auslandsreisen verboten. Die Ausreiseerlaubnis – und die Einreiseerlaubnis für den emigrierten Kubaner – machten die Insel zu einem gigantischen Gefängnis, dessen Außenmauer das Meer war. Also, … das mit der Migration ist ein delikates Thema für jeden Kubaner und weit vom modus vivendi eines privilegierten Bürgers der Ersten Welt entfernt.

Zu guter Letzt betet die Propaganda der neuen, vom Norden gehätschelten Ideologie der – Globalisierung (welche andere hätte es sein können? ) – vor, dass jeder von uns ein Mosaik sei. Nun gut, von Lateinamerika aus betrachtet würde die Sache anders aussehen oder sieht sie anders aus… Die Befreiung unserer Länder von der Kolonialherrschaft wurde auf der Basis des Ausschlusses vieler Teile des kontinentalen Mosaiks errungen. Die Ureinwohner, Schwarzen und Chinesen und andere mehr wurden innerhalb jedes Landes an die Ränder einer kreolischen Gesellschaft gedrängt, die sich als weiß und europäisch verstand.

Gegen Ende dieses Prozesses fingen viele „Ethnologen“ an – auf Kuba haben wir Fernando Ortiz –, über Synkretismus, Transkulturalisierung, letztlich über kreuz und quere Mischungen zu sprechen. Jedoch hat dieses Bestreben, alle Teile des Mosaiks als Zutaten ein und der selben Suppe zu verstehen, etwas sehr Trügerisches und Vorgegaukeltes. Es handelt sich um eine Form des Einschluss ohne einzuschließen: Was schließen wir ein, wenn alles schon da ist? Die Entwicklungslinie dieses Denkens – welches positivistische Züge trug – reicht bis ins 20. Jahrhundert und fand Eingang in die Kubanische Revolution. Und zwar in dem Moment, als diese auf einzigartige Weise erklärte, alle Minderheitenorganisationen des Landes auflösen zu wollen und jede Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe zu verbieten, indem sie einerseits eine Politik der positiven Diskriminierung ins Leben rief und anderseits verlautete, dass ein Revolutionär nicht rassistisch sein könne. Es würde eine gute Lektion in Politik abgeben, würde man analysieren, wie die Kubanische Revolution die Differenz zwischen dem „Sollen“ und dem „Sein“ ideologisch gehandhabt hat: leider aber eine Lektion in Politik, die dazu führen würde, über den „Multikulturalismus“ zu sprechen, diese globalisierte Etikette.

Übersetzung: Anne Becker

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Das Land der Weicheier http://superdemokraticos.com/themen/burger/das-land-der-weicheier/ Wed, 15 Sep 2010 13:11:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1952 Ich schreibe aus einem Land heraus, das mich, das Bürgerkind aus der linken Mitte, (noch) watteweich umschließt und mich weltweit vor schlechten Erfahrungen schützt. Ich bin noch nie diskriminiert worden, zumindest nicht wissentlich, und schon gar nicht aufgrund von Rasse, Kultur oder nationaler Herkunft. Groß, schlank, weiß und gut gekleidet komme ich eigentlich überall auf der Welt locker durch – das ist zumindest meine bisherige Erfahrung. Noch nie bin ich vor Clubs an einem Türsteher gescheitert, noch nie wurde mir eine Mitgliedschaft verwehrt und selbst die Homeland Security der Vereinigten Staaten winkt gelangweilt ab. Der Gipfel an Diskriminierung in meinem Leben waren einige anti-deutsche Spitzen eines norwegischen Austauschschülers. Im wahrsten Wortsinn: ein Witz!

Was ich sonst eigentlich sehr begrüße und an diesem Land so schätze, erscheint mir in Fragen der Sensibilisierung für Diskriminierung wie ein Fluch: Es scheint uns, den deutschen Deutschen (also den porentief weißen Kindern deutscher Eltern und Enkeln deutscher Großeltern), unmöglich, nicht auf der Sonnenseite der Welt zu stehen – es sei denn, wir begäben uns willentlich und wissentlich in Armut und Gesetzlosigkeit, aber das hat dann nichts mit Diskriminierung zu tun, sondern allein mit Dummheit und Erfahrungssucht.

Ist es nun Sophisterei zu sagen, dass ich durch offensichtliche Undiskriminierbarkeit gleich doppelt diskriminiert bin? Der Satz „Auch ich möchte mich irgendwann mal diskriminiert fühlen“, mit dem die erste Fassung dieses Eintrags begann, geht zwar gewiss zu weit, er beinhaltet jedoch einen Kern, der mir gerade angesichts der zurzeit in Deutschland tobenden Debatte über die Integration muslimischer Einwanderer entscheidend erscheint: Wie soll der durchschnittliche „Herkunftsdeutsche“, wie das jetzt schon von einigen genannt wird, ermessen, was es bedeutet, aufgrund von Herkunft, Kultur und Hautfarbe diskriminiert zu werden? Wie soll derjenige, der einer Leitkultur und einer Rasse angehört, die ihn weltweit vor Diskriminierung zu schützen scheint, die Situation derer ermessen, die zu eben dieser Kultur keinen Zugang finden oder schlimmer noch: denen der Zugang verwehrt wird?

Ohne die Erfahrung einer alltäglichen Diskriminierung kann ich nur ahnen, wie unverschämt es sich aus Sicht der Betroffenen anfühlen muss, wenn jetzt jene, die in diesem Land die Gruppe der muslimischen Migranten kollektiv diskriminieren, auf einmal selbst von „Diskriminierung“ sprechen, wenn sie – nicht zuletzt aus den Reihen dieser Migrantinnen und Migranten – scharfe Gegenrede erfahren. Die Erfahrung einer wirklichen Diskriminierung aufgrund von Religion, Kultur und Hautfarbe, von allen Bewohnern des Landes geteilt, würde die Kultur der Zuspitzung, des Tabubruchs, des „Man wird ja nochmal sagen dürfen …“ im Keim ersticken.

Bis es so weit ist (und es kann nie dazu kommen, das wäre ja paradox), wird man ja wohl nochmal sagen dürfen, dass die bürgerlichen „Herkunftsdeutschen“ nichtsahnende Weicheier sind, denen es nur gut täte, selbst mal irgendwo eine diskriminierte und – und das wären diese Leute (wir) bei ihrer ganzen kulturellen Hybris gewiss – eine schwer zu integrierende Minderheit zu sein.

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Leben in der Fremde http://superdemokraticos.com/themen/burger/espanol-vivir-afuera/ Mon, 13 Sep 2010 07:04:33 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1867 In letzter Zeit denke ich darüber nach, fortzugehen und mich den fast drei Millionen Bolivianern im Ausland anzuschließen (obgleich diese Ziffer offiziell nicht bestätigt ist). Für andere Länder wäre das keine bedeutsame Größenordnung, aber für Bolivien, das innerhalb der Landesgrenzen circa 10 Millionen Einwohner hat,  ist diese Zahl bolivianischer Migranten der Schwerpunkt wissenschaftlicher Überlegungen, Grund zum Handeln für die Internationale Zusammenarbeit und Gegenstand von Regierungsprogrammen. Die Motive, das Leid und die Routen derjenigen, die migriert sind, weil sie Schulden haben, die aufgrund von Tilgungsverzug und der Zinsen unbezahlbar geworden sind, derjenigen, die weggehen,  weil es hier immer schwieriger wird, Arbeit zu finden oder die Kaufkraft der Gehälter lächerlich ist, derjenigen, die gezwungen sind zu gehen, weil der Boden unfruchtbar geworden ist oder wegen des Klimawandels, derjenigen, die aufbrechen, weil sie es hier nicht mehr aushalten. So verschiedene Städte wie Buenos Aires, Madrid, Washington, Sao Paolo gehören zu den bevorzugten Zielorten der bolivianischen Diaspora. Ich weiß nicht so recht, was mich im Ausland erwarten würde,  aber ich ziehe, genauso wie viele der Ausgewanderten,  diese ferne Ungewissheit des Fremden der Masse von lokalen und vertrauten Unsicherheiten vor. Aber ich weiß, dass ich zurückkommen will, und ich habe schon im Vorhinein Heimweh: Die Beklemmung der Grenzen ergreift mich.

Das Phänomen ist nicht nur komplex und mit einer Reihe anderer sozialer Prozesse transversal verknüpft, es hat auch historische Vorläufer. Migrationsbewegungen sind eine Konstante, deren Richtungen zahlreich waren: von den mitimaes, den Zwangsumsiedelungen während des Inkareiches zu politischen, ökonomischen und territorialen Herrschaftszwecken bis zu den Pionieren gegen Ende des 20. Jahrhunderts, die still und leise die Netzwerke gesponnen haben, entlang derer heute massenweise Bolivianer leben. Wenigen von ihnen geht es sehr gut, viele andere werden Opfer von Menschenhandel oder leben in sklavenähnlichen Verhältnissen, werden diskriminiert und schlecht behandelt. Hinzu kommen diejenigen, die noch nicht einmal den anvisierten Zielort erreichen, sondern festgenommen und abgeschoben werden. Und die Odyssee all derer, die das Land verlassen haben, weil sie keine Zitronen mehr verkaufen oder betteln wollen und an fremden Orten als anonyme Gespenster enden (neulich hat mir jemand, der vom Land kommt, erzählt, dass er sich im Ausland wie auf einem anderen Planeten gefühlt hat: Es war nicht nur so, dass ihm alles fremd und widrig vorkam, sondern er wurde auch wie ein Außerirdischer behandelt).

Der Exodus wird wohl nicht aufhören, auch wenn die Verschärfung der Grenzkontrollen, die immer restriktivere Einwanderungspolitik des Nordens, wie beispielsweise die Lage in Iowa oder die Rückführungsprogramme deutlich machen, die Situation der Migranten ohne Papiere kriminalisieren (vor allem die Lateinamerikaner und Afrikaner). Diese Situation der Verwundbarkeit und Segregation (zusätzlich zu den Auswirkungen der globalen Rezession) hat inzwischen den Traum der Rückkehrer, die sich gescheitert fühlen, zerstört. Sie hat auch den Traum der Zurückgebliebenen zerstört, die das Leben der anderen in der Ferne erwartungsvoll mit verfolgen (die remesas, die Geldüberweisungen der Migranten stellen eine der Haupteinnahmequellen des Landes dar). Unerwünschte Ausländer: Der universalistische Diskurs der Toleranz wird  von dem kapitalistischen Utilitarismus in sein extremes Gegenteil verkehrt. Bewegung ist ein so unabdingbares Menschenrecht wie Wasser; und Bewegungen einzudämmen zu wollen ist so, als wollte man einen Fluss mit einem Deich aus Sand stoppen.

Aber wir sind an Widrigkeiten und Unglücke gewohnt und wir werden weiterhin gehen (und zurückkommen). In letzter Zeit sind wir sogar optimistisch. Wir haben gar angefangen, die Mythen zu überprüfen, die uns manchmal das Atmen schwer machten: Wir sind nicht so traurig und auch nicht so mediterran und auch nicht so selbstzentriert. Außerdem können wir an jedem Ort ein Stück der imaginären Gemeinschaft (mit Musik, Bildern, Essen oder einer Unterhaltung) reproduzieren – wie eine Projektion eines Familienhologramms. Wir ziehen schweigsam los, so als würden wir die Welt einnehmen wollen, mit einem ají (Chilischote) in der Jackentasche. Lass uns los gehen. Schweigen, Exil, List.

Übersetzung: Anne Becker

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Werdet Bus-Bürger http://superdemokraticos.com/editorial/werdet-bus-burger/ Sun, 12 Sep 2010 11:18:29 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1884 Unser Blog Los Superdemokraticos verbindet zwei Regionen, die sehr unterschiedlich auf Migration blicken, dieses Phänomen, dass weltweit die Gesellschaften, die Literaturen prägt: Deutschland hat Probleme, seine Immigranten als integralen Teil zu akzeptieren (siehe Sarrazin-Debatte, bei Jo Schneider und Emma Braslavsky), dabei hat bereits in Berlin jedes zweite Kind Migrationshintergrund, lateinamerikanische Länder wie Argentinien verstehen sich dagegen schon lange als Einwanderungsland (siehe Karen Naundorfs Text), andere Staaten – Mexiko, Bolivien, Kuba – sind durch Abwanderung geprägt: in die USA, nach Europa soll es gehen.

Doch: Jeder Mensch trägt gewisserweise einen Migranten in sich, vielleicht ist das der gute Bürger, den René Hamann getroffen hat. (Wer jetzt mit dem Kopf schüttelt, braucht in seiner Familiengeschichte nur ein paar Generationen zurückgehen.) Neu ist, dass jeder durch Internet, Kabelfernsehen, Radiostreams und Skype mit seiner ursprünglichen Heimat verbunden bleibt. Die Überseekabel dienen als Nabelschnur und das Fort-Da-Spiel von Freud wird somit ad absurdum geführt: Es ist möglich, sowohl hier, als auch da zu sein, zumindest als hyperrealer Bruder, Freund, Elternteil, Facebook-Freundin. Aus dieser Spannung heraus kann „eine neue Form der Identität aus eigenen und fremden kulturellen Praktiken“ gefunden werden, wie Lizabel Mónica es formuliert. Sie fordert weiterhin, das „Fremdsein als eine Form des bürgerschaftlichen Handelns zu praktizieren“. Wer fremd ist, sieht die Dinge anders. Wer fremd ist, kann konstruktive Vorschläge machen. Wer fremd ist, erlebt Missstände.

Heute reicht es, mit dem Bus zu fahren, um sich, ich sage mal, „produktiv fremd“ zu fühlen. Um zu erkennen, wo die gesellschaftliche Debatte hakt. Im Liniennetz des öffentlichen Nahverkehrs begegnen sich Arbeiter und Arbeitslose, Touristen, Asylanten und Alteingesessene, Familien, Paare und Singles, Studenten, Bauarbeiter, Straßenmusiker Sie benutzen Kollektivos, Trams, U-Bahnen und Zügen völlig zufällig. In einem Gefährt werden sie zu Gefährten eines gemeinsamen Alltags. Agustín Calcagno lauscht im Bus einer Mischung aus Cumbia und Minimal Tech, Maria Medrano den Stimmen der Frauen, die ihre Verwandten im Gefängnis besuchen, Leo Felipe Campos bedauert ausländischen Besuch, der sich den „Abenteuern der verschiedenen öffentlichen Verkehrsmittel“ nicht stellt, Rery und ich treffen Touristen und einen berühmten bolivianischen Maler in der M 29. Ich plädiere hier dafür, eine neue Form der Staatsbürgerschaft, die Bus-Bürgerschaft zu gründen. Vor dem Bus sind alle gleich. Fahrt mehr Bus! Erhascht den Blick des Anderen.

PS: Ihr könnt natürlich sagen, das ist doch Schwachsinn. Aber diese Form der Annäherung an unterschiedliche kulturelle Codes wäre zumindest ein Anfang. Wir könnten anfangen, mit denen zu reden, die neben uns sitzen. Zu beiden Seiten. Und Bus und Bussi, das geht gut aus.

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Mein genetisches Muster für Migration http://superdemokraticos.com/themen/burger/mein-genetisches-muster-fur-migration/ Thu, 09 Sep 2010 15:00:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1763

Doppelhelix - Wikipedia, GNU Free Documentation License

Wenn man – wie ich – mit Ende 30 auf einmal von einem Beamten im Berliner Senat offenbart bekommt, dass man durch die Eltern Migrationshintergrund habe und das im Antragsformular für ein Stipendium auch ankreuzen solle, wankt erst einmal gehörig das Selbstbild. Bis dahin hatte ich angenommen, einfach nur deutsch zu sein (in meiner Kindheit wurde ich nie wie ein Migrantenkind behandelt, weil die DDR diese historische Fußnote in den Lebensläufen meiner Eltern, die beide nach dem Krieg aus den Ostgebieten vertrieben oder umgesiedelt oder was weiß ich worden sind, lieber unter den Teppich kehrte). Aber auf einmal wurde alles viel komplizierter. Von da an brauchte ich für die Wiederherstellung meines kognitiven Gleichgewichts das Wort: Heterogenität.

Jo Schneider hat schon in seinem Essay auf die gerade in Deutschland geführte, leidige Debatte um Anstieg und Fall des gesamtdeutschen Intelligenzquotienten durch (muslimische) Migrantenfamilien aufmerksam gemacht. Nicht allein, dass eine solche Diskussion selbst schon lächerlich ist, aber geht sie mir (als frisch gebackene Deutsche mit Migrationshintergrund) an dem eigentlichen Problem vorbei: nämlich des verqueren politischen Selbstverständisses des „deutscher Bürger-Seins“ als scheinbar homogenes. Darin liegt nun auch eine Art von angenommener genetischer Vererbung des Deutschseins, dass latent in der momentanen Debatte mitschwingt, aber von der Seite in den Medien überhaupt nicht diskutiert wird. Wenn kein Gen den Fortbestand einer Nation oder Volksgruppe etc. maßgeblich bestimmt, dann auch nicht den der Deutschen. Somit schränkt ein Staat die Individualität seiner Bürger ein, wenn er ihnen einen Hintergrund bescheinigt, der ein Menschenrecht für jedes Individuum darstellt, denn jedes Individuum ist doch frei, sich von hier nach da zu bewegen, sich aus einem kulturellen Zusammenhang zu lösen und sich wieder in einen anderen einzufügen. Oder gilt die Globalisierung nur auf wirtschaftlicher Ebene?

Die Emsigkeit der deutschen Medien um Aufklärung zum Stand der aktuellen genetischen Forschung zeigt umso mehr: Deutscher Bürger kann jeder werden. Wenn deutsch zu sein heißt, gewisse Bräuche, einen distinktiven Habitus, die deutsche Sprache zu beherrschen und eine (weitgehend idealisierte) Bildung genossen zu haben, dann heißt das nur, durch das Wirken eines kulturspezifischen Musters (oder Umfelds meinetwegen) geprägt worden zu sein. Ich behaupte mal frech, dass viele so genannte „homogene Deutsche“, also die ohne Migrationshintergrund, es nicht selten an den einschlägigen Prägungen dieses Musters fehlen lassen. Die Bildungsmisere in Deutschland ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen politischen Versagens, Herumwurschtelns und fehlender Durchsetzungskraft auf diesem Gebiet und einer immer weiterführenden Abschiebung der Bildungsverantwortung in den Privatraum der Familie. Aber eine Bildungsverantwortung, die eine Volksgruppe prägt und sie überhaupt als eigenständige ausweist, sollte nicht auf den jeweiligen heterogenen und individual geprägten Campus der einzelnen deutschen Familien abgeschoben, sondern unabhängig von ihnen, von der bündelnden Systemkraft dieser kulturellen Gemeinschaft geleistet werden. Dazu müsste man diese Gemeinschaft aber erst mal als offene, individualisierte und vor allem heterogene und veränderliche begreifen und sich klar darüber sein, dass jeder zu Hause das sein kann, was er will – nämlich Individuum, mit welchem Kopftuch, mit welchem Haarschnitt oder womit auch immer er sich spirituelles Gleichgewicht verschafft. Deutschland ist per Grundgesetz ein säkulares Land, da sollte eine Religionszugehörigkeit in politischen Debatten eigentlich keine Rolle mehr spielen, es sei denn, wir machen uns hier alle etwas vor.

Meinen Migrationshintergrund und damit meine deutsche Heterogenität rechne ich mir zu meinem kulturellen Vorteil an. Ich bringe noch etwas mit, eine Farbe über dem Horizont. Wenn es mir finanziell möglich sein wird, mein Genom entschlüsseln zu lassen, werde ich das tun und sehen, ob sich bei mir ein spezifisches genetisches Muster für Migration nachweisen lässt, das ich vielleicht sogar an meine Tochter weitergegeben habe. Womöglich wird auch sie sich irgendwann in diesem Land anhören müssen, dass sie zur zweiten Generation einer Migrantenfamilie gehört. Vielleicht aber wenden wir dann aus besserem Wissen den Begriff nicht mehr an. Jetzt, da ich als Deutsche mit Migrationshintergrund bezeichnet werde, fühle ich mich auch so.

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Heute Bürger, morgen Fremder? http://superdemokraticos.com/themen/burger/heute-burger-morgen-fremder/ Thu, 09 Sep 2010 07:48:29 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1785

Cover, Sherry Yorke: Multicultural Literature. Foto: Linworth Books

Mein Land ist Kuba, aber heute bin ich zu Besuch in den USA, um genauer zu sein, in Miami. Eine erstaunliche Stadt, voller Latinos – Immigranten aus Lateinamerika – und mit einem Klima, das dem von Havanna ähnelt. Die Kategorie Latino scheint nur hier Sinn zu machen oder im Rest der USA und Kanada. Latino ist eine Etikettierung, die ich politisch sehr produktiv finde, da sie von den kulturellen Unterschieden und Ähnlichkeiten Zeugnis ablegt, das heißt, den Unterschiedlichkeiten und Ähnlichkeiten zwischen dem Nordamerikanischen oder dem, was als Gringo bezeichnet wird, und den verschiedenen Kulturen Lateinamerikas.

Es ist nicht so, dass alle Latinos in den USA denselben Umgang mit dem Nordamerikanischen führen würden, natürlich nicht. Die Kubaner, die Puertorikaner, die Mexikaner – die in Texas am zahlenstärksten sind – die Kolumbianer, die Menschen aus der Dominkanischen Republik, unter vielen anderen, eignen sich auf verschiedene Weise den american dream an. In Miami, zum Beispiel, scheinen die Kubaner tendenziell nach einem wirtschaftlichen american dream zu streben und ihn zu erreichen. Ich weiß von Puertorikanern in manchen Gegenden dieser Stadt, die in Vierteln wohnen bleiben, die als arm und schwarz gelten. Ersteres kann man dort mit eigenen Augen erfahren, zweiteres hat mit der Stellung zu tun, die bestimmte kulturelle Identitäten innerhalb der Vorstellung des Nordamerikanischen innehaben, die von dem Attribut „white people“ dominiert wird, was zugleich auf eine ethnische wie eine politisch-ökonomische Überlegenheit hinweist. Mit „white people“ meint man Angelsachsen oder deren Nachfahren. Alles, was da nicht reinpasst, fällt bezeichnenderweise aus der Kategorie Weiß heraus – was uns in Erinnerung ruft, dass die Kategorie Rasse zur Zeit der Kolonisierung Amerikas geboren wurde.

In einem informellen Treffen mit Studenten und Bibliotheksangestellten der Universität von Miami traf ich auf junge Leute, die aus Puerto Rico, Mexiko, Kolumbien, Haiti, Kuba… ausgewandert waren. Alle lebten schon seit Jahren in den USA, und ich hatte den Eindruck, dass sie von ihrem Ursprungsland wie von einer entfernten Vergangenheit sprachen oder wie von einem Ort, den man verlassen musste, weil die USA ein besserer Ort seien. Sie fragten mich, ob ich nicht lieber hier bleiben würde, statt nach Kuba zurückzugehen. Als ich verneinte, fragten sie mich, warum.

Warum würde jemand in ein Land zurückgehen wollen, in dem die wirtschaftliche und soziopolitische Lage instabil ist oder  gar einem Alptraum gleicht – in dem Sinne, dass sich das Land in einem Teufelskreis ohne sichtbaren Ausweg zu befinden scheint? Meine Antwort liefert keine Begründung, sie basiert auf Intuition. Auch wenn ich es für wichtig erachte, die Latino-Identität als ein Gegenmittel zur  unheilbringenden Ideologie der bis zu einem gewissen Grad hinfälligen nationalen Identität zu stärken, möchte ich zurückkehren. Denn ich erachte es für wichtig, sich in der Zivilgesellschaft jener Länder einzubringen, die zurück gelassen werden, wenn die Menschen auswandern. Ich finde es wichtig, Migration weniger als Auswanderung aufzufassen – Kuba und jedes andere  lateinamerikanische Land sind so an Abschiede und an durch Ozeane getrennten Familien gewöhnt – denn als ein Hiersein, während man dort ist und viceversa. Nicht gen Norden oder nach Europa als einem Vorbild zu schauen, sondern als ein Beispiel dessen, was wir nicht sind und nie sein werden. Ich schlage also das Reisen als einen Lernprozess vor. Damit meine ich nicht eine Auswanderung, um eine neue nationale Identität oder eine doppelte Nationalität zu erlangen, sondern den Versuch, die sich selbst überholte oder im Wandel begriffene – wann war das in Lateinamerika nicht der Fall? – nationale Identität  abzulegen und zu einer neuen Form der Idenität zu gelangen. In dieser Identität kreuzt sich das Erfahrungswissen, das Wissen, was aus nichts anderem als aus der Erfahrung gewonnen wird… , mit den eigenen und fremden kulturellen Praktiken.

Ich schlage vor, das Fremdsein als eine Form des bürgerschaftlichen Handelns zu praktizieren. Meine Heimat, meine Stadt, befinden sich vor allem an Schnittstellen. Und ich glaube, damit bin ich nicht die einzige…

Übersetzung: Anne Becker

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Rückfahrt in getrennten Autos oder „Wie mein 12-jähriges Ich dereinst den Kampf der Kulturen aufheizte“ http://superdemokraticos.com/themen/burger/ruckfahrt-in-getrennten-autos-oder-wie-mein-12-jahriges-ich-dereinst-den-kampf-der-kulturen-aufheizte/ Fri, 03 Sep 2010 12:36:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1574 Ich habe ein Geständnis zu machen. Angesichts der in Deutschland derzeit um sich greifenden Integrationsdebatte möchte ich zugeben: Ja, auch ich war einmal Teil einer anti-islamischen Initiative. Beziehungsweise: Auch ich habe Migranten aus dem mohammedanischen Kulturraum als Gruppe diskriminiert. Allerdings, das möchte ich zu meiner Ehrenrettung betonen, entsprachen meine Motivationen in keinster Weise den schwammigen Beweggründen, die jetzt Teile der Bevölkerung dazu bringen, einem sich (rechts-)radikalisierenden Politiker darin zuzustimmen, dass muslimische Migranten generell eine kulturelle Bedrohung darstellen; dass sie – ob genetisch oder kulturell bedingt sei erstmal dahingestellt – nicht integrationswillig und nicht lernfähig sind und die deutsche Kultur so wenig respektieren wie überhaupt die Protagonisten des Kulturraums, der ihnen – im Kontext von Immigration ein so furchtbares wie falsches Wort – „Gastgeber“ ist. Ob Deutschland sich „abschaffen“ könnte, wie es dieser besagte Politiker befürchtet, interessierte mich damals, als ich noch Aktivist war, einen Scheißdreck. Ich wollte nur Tore machen! Ich war 12 Jahre alt, ich spielte Fußball beim SC Aplerbeck 09, einem Vorortverein am Rand des Ruhrgebiets. In diesem Verein passierte das, was das dreigliedrige Schulsystem sonst zu verhindern wusste: Bürger- und zumeist ausländische Arbeiterkinder prallten nahezu ungebremst aufeinander. Mit einschneidender Wirkung: Noch heute sehe ich mich mit sieben anderen zumeist semmelblonden deutschen Mittelschichtsknaben nach einem Spiel zum Trainer gehen (Vater eines Mannschaftskameraden, deutsch) und sagen: „Wir wollen nicht mehr mit den Marokks zusammen spielen.“ Der Trainer fragte: „Warum?“ Wir: „Weil: Die spielen nie ab! Und wenn, dann nur untereinander!“ Was mich aus heutiger Sicht an diesem politisch völlig unkorrekten, gruppendiskriminierenden Vorstoß gegen unsere sieben marokkanischen Mitspieler beeindruckt (und was ihn von der jetzigen ideologisch dominierten Debatte unterscheidet), ist sein Pragmatismus. Man hätte seinerzeit, wo man schon mal „dabei“ war, ja tatsächlich so vieles nennen können, was in dieser mannschaftgewordenen Engführung zweier kultureller Gruppen nicht funktionierte. Man hätte die klassischen Exzesse der Ehrkultur monieren können, das aufbrausende „Ey, machsu misch an?“, wenn man in der Mannschaftskabine zu lange in eine Richtung gestarrt hatte. Man hätte sich über die offensichtliche Geringschätzung unserer Familienstrukturen, vor allem unserer Mütter, aufregen können, die sich in dadaistischen Dialogen wie „Verpiss dich, du Hurensohn!“ – „Selber Hurensohn!“ – „Ey, hast du grad meine Mutter beleidigt?“ niederschlugen. Vielleicht war es Arroganz, die sich in Nachsicht äußerte, und die von unseren Eltern auf uns überging: „Das sind meist ganz einfache Leute, die haben’s hier auch nicht leicht.“ Vielleicht war es auch der marokkanische Ärztesohn, der – ebenfalls in unserer Mannschaft – so ganz anders als seine Landsmänner war und damit ein übergroßes Zeichen dafür setzte, dass aggressive Rappeligkeit eventuell doch primär ein soziales und erst danach – im spezifischen Ausdruck – ein kulturelles Problem sei. Vielleicht war es aber auch unser Trainer, ein besonnener Heizungsbau-Meister, der das Strohfeuerchen der Revolte schnell in den Griff bekam. Nicht etwa, indem er interkulturelle „Patenschaften“ bildete, wechselseitige Hausbesuche organisierte oder dergleichen mehr neumodisches Zeugs. Er sorgte einfach vor dem nächsten Spiel für ein klärendes Gespräch. Als die El-Fassi-Brüder in der Folge gelobten, auch „mal“ abzuspielen, grinste er breit. Später lobte er sie vom Spielfeldrand in den Himmel, als sie das dann auch alle Jubeljahre „mal“ taten. Und er warf sich oben auf, als wir – nach einem interkulturellen Doppelpass – das Siegtor schossen und zu fünfzehnt in der roten Erde lagen. Dass der Trainer uns, den Deutschen, bei der Rückfahrt in getrennten Autos versicherte, dass das heute „schon besser“ war, dass „die“ es aber so „natürlich“ dennoch „im Leben“ nie „weit“ bringen würden „in diesem Land“ und uns für unsere Geduld lobte, ist die unschöne Fußnote dieser an sich doch recht hübschen Geschichte.

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Alles ist gewalttätig http://superdemokraticos.com/themen/burger/alles-ist-gewalttatig/ Tue, 31 Aug 2010 17:08:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1324

Ich entschuldige mich, falls das hier sehr schwer zu lesen ist, aber ich wollte es auf diese Art ausdrücken.

Uruguay ist unterteilt in 19 Departments die Gesamtfläche von Uruguay ist kleiner als einige der Provinzen Argentiniens sehr oft behandeln uns die Argentinier als wären wir eine argentinische Provinz sehr oft verhalten wir uns so als wären wir eine ich möchte über die Gewalt schreiben über die Migration über das von Tag zu Tag ich möchte es versuchen und ich möchte es so tun wie ein Fluss wie ein Wortschwall und ich weiß nicht ob es auf Deutsch funktioniert aber ich werde es auf Spanisch versuchen ich will sagen dass Uruguay ein kleines Land ist wir sind drei Millionen Einwohner vielleicht dreieinhalb Millionen und dies halbe Million lebt außerhalb der Grenzen des Landes vor einiger Zeit kam es jemanden in den Sinn diese halbe Million die außerhalb von Uruguay lebt Uruguayer zu nennen sie wurden das 20. Departement getauft sie wollten signalisieren zu verstehen geben dass dort wo sie wohnten Uruguay sei aber es hat nicht funktioniert vor einem Jahr haben wir versucht die Briefwahl einzuführen oder etwas dass den uruguayischen Bürgern die im Ausland leben mehr Rechte verliehen hätte aber der Vorschlag wurde nicht verabschiedet die Idee überwog dass die im Ausland wohnhaften Uruguayer nicht die gleichen Rechte haben wie die Inländer wir sind Uruguayer einer anderen Kategorie dieses kleine und unterentwickelte Uruguay hat auf diesem Wege keine Zukunft eines unserer dringlichsten Probleme besteht in dem was man brain drain nennt das Problem besteht darin dass wir zwar eine gute und kostenlose Hochschulbildung haben aber das Land nicht all die Akademiker im Land halten kann die es ausbildet die sofort von anderen Ländern absorbiert werden wo sie sehr viel bessere Gehälter beziehen als in Uruguay also gehen die gut ausgebildeten Akademiker weg und ziehen es vor ihr Leben und ihre Karriere in einem Land zu verfolgen das dies ermöglicht es ist vernünftig Uruguay die Uruguayer die verschiedenen Regierungen haben versucht dem Einhalt zu gebieten in der Krise von 2002 emigrierten fast so viele Tausende von Personen aus Uruguay wie zurzeit der Militärdiktatur was mich daran erinnert wie ein Freund zu mir meinte dass die Diktatur des Geldes regiert über uns siegt uns foltert und dass sie kam um zu bleiben wir erhalten sie mit unserer Wahlstimme aufrecht und mit dem Schweigen ich denke dass es vielleicht sehr gewalttätig ist was ich sage und ich denke dass alles gewalttätig ist und das zu akzeptieren zum ehrlich sein dazu gehört gewaltsame Ehrlichkeit jeder Akt ist ein gewalttätiger Akt und bestätige das mit meiner täglichen alltäglichen Handlung jede Absicht ist zugunsten von etwas und gegen etwas anderes nichts ist unschuldig die Gewaltlosigkeit existiert nicht der Frieden existiert nicht nur im Grab und auf den Friedhöfen das Schweigen und die Grautönigkeit des absoluten Nichts des Endes nichts ist dem Leben entgegen gesetzter auch mein Schreiben dieser Akt ohne Punkt und Komma ist ein gewalttätiger Akt gegen meine Übersetzerin die alles neu schreiben muss alles was ich versucht habe zu schreiben wird sie neu schreiben und ihr Text wird meinen so umstellen dass er wieder meinem Gewalt antun kann sie wird ihre Gewalt der Interpretation nutzen um meinen gewalttätigen Akt zu übersetzen ich greife sie an sie greift mich an und alles aus Mangel an Punkten und Kommata was kann man sonst vom Leben erwarten wo die Punkte und Kommata nicht zählen aber vielleicht ist dieses Auslassen der Anfang von allen Auslassungen alles fängt in der Sprache an und so ist die Gewalt der Straße eine Gewalt der Sprache vielleicht provoziert mein Mangel an Orthographie am Ende eine Stammesfehde in Afrika prätentiös und Schwindel erregend aber jeder gewaltsame Akt ist in sich gewaltsam und nicht graduell ein Schrei ist so gewalttätig wie eine Bombe das was sich ändert sind die Konsequenzen die jener hervorruft  je nachdem in welchem Kontext er geschieht eine Bombe mitten im Ozean mag vielleicht weniger gewaltsam für uns sein als eine Schrei mitten in unserem Schlaf denn die Gewalt richtet sich immer gegen jemanden und sicher trifft es die Fische mehr als uns aber nur wir sind in der Lage über diese Gewalt nachzudenken über diese unaufhörliche Notwendigkeit  gewalttätige Akte hervorzubringen seit unserer Geburt wir kommen unter den Schreien unserer Mütter zur Welt und die erste Absicht ist es uns zum Schreien zu bringen und wenn wir es nicht tun wird der Arzt uns schlagen bis wir es machen versteh doch auf diese gewaltsame Tour die Welt ist Gewalt und der Frieden existiert nur auf den Friedhöfen.

Übersetzung: Anne Becker

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Wie jemand, der umzieht, packte ich meinen Koffer http://superdemokraticos.com/poetologie/wie-jemand-der-umzieht-packte-ich-meine-koffer/ http://superdemokraticos.com/poetologie/wie-jemand-der-umzieht-packte-ich-meine-koffer/#comments Tue, 15 Jun 2010 21:22:21 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=263 Geboren bin ich 1971 in Caracas, aber eigentlich habe ich dort kaum gelebt. Als ich klein war, zog meine Familie in eine Stadt im Osten von Venezuela. Ein klitzekleine Stadt, jedoch mit sehr viel Öl. Eines Tages kamen Menschen von überall her hier an, um ihr Glück mit dem Öl zu machen; und der Bauboom, das Geld, die Sprachen und Menschenmassen verwandelten meine Stadt in eine kaputte Metropole. Auf dem Höhepunkt des Ölbooms verließ ich die Stadt und zog zum Literaturstudium ein Stück weiter, in eine immer noch im Osten gelegene Stadt an der Küste, von der man vor Ort sagt, sie sei die erste Stadt gewesen, die die Spanier auf dem Kontinent gründeten. Doch da dies nur die Leute wissen, die dort wohnen, kann es gut sein, dass es sich um eine lokale Legende handelt. Auf jeden Fall habe ich das nie woanders gehört oder gelesen. Wie dem auch sei – diese Stadt an einer Karibikküste fast ohne Touristen sieht eher aus wie die letzte Stadt des Kontinents.

Später bin ich in meine Geburtsstadt Caracas als Fremde zurückgekehrt: Ich kannte weder ihre Straßen und Ecken noch ihre Gewalt. Sogar der Akzent der Bewohner war mir fremd. Dort studierte ich einen Master in Lateinamerikanischer Literatur. Im Jahr 2000 begegnete ich einem Argentinier-Israeli. Wir überquerten mehrfach den Ozean, um uns kennen zu lernen und erkennen zu lernen. Mitte 2001 beschlossen wir zusammenzuziehen. Wie jemand, der umzieht, packte ich meinen Koffer mit ein paar Anziehsachen und ein paar Büchern und traf so in einem Kibbutz im Süden Israels ein, was so viel heißt wie inmitten des Nichts. Die Kargheit der Wüste füllte meine ersten Jahre: Ich tat nichts außer vor laufendem Fernseher, in dem ich rund um die Uhr Telenovela-Sendungen schaute, aus Sehnsucht zu rauchen und zu heulen. Ich brauchte es, meine Sprache zu hören und mich ein wenig zu ent-fremden angesichts  eines erdrückend fremden Alphabets, angesichts der Attentate und ihrer wohlbekannten Repressalien, der Kriege, der Unterschiede. Mit der Zeit verwandelten sich meine Sehnsüchte auch in hiesige und meine Sprache versetzte sich mit semitischen Lauten. Heute bin ich von hier und von dort, aber zugleich bin ich auch von nirgendwo.

Von diesem anderen Osten aus schreibe ich in einer anderen Sprache, als jener die mich umgibt, ich träume in zwei Sprachen und leide an den Ungerechtigkeiten von hier und dort. Ich gebe Spanischunterricht. Ich möchte zurückkehren, aber ich weiß nicht wohin.  Ich glaube, dass die Literatur eine Religion ist. Ich habe zwei kleine Kinder, die mir jeden Tag alle möglichen Wunder zeigen. Mit all diesen Themen stricke ich ein Blog. Ich habe ein Buch mit Kurzgeschichten veröffentlicht: „Los jardines de Salomón“ (Die Gärten des Salomon), für das ich den 1. Preis der Bienal Narrativa José Antonio Ramos Sucre in Venezuela  gewann. Derzeit schreibe ich an einem Roman, einem venezolanischen Roman, geschrieben im Norden von einer der vielen Wüsten auf dieser Seite der Erdkugel.

Übersetzung: Anne Becker

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