Memoria – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Familientauziehen http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/#comments Fri, 16 Jul 2010 08:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=460 Seit meinem fünften Lebensjahr besuchte ich jeden Sonntag meine Großmutter väterlicherseits. Meine Oma war an den Rollstuhl gefesselt. Mehrere Krankheiten hatten sie früh ihrer Jugend beraubt. Dieses Invalidendasein schien ihr einen inneren Frieden zu bescheren, welcher sich in einem scharfsichtigen historischen Sinn äußerte. Eine zu früh gealterte Frau als Speicher für das kollektive Gedächtnis. Jeden Sonntag also, nach dem Mittagessen, erzählte sie mir punktgenau ein Kapitel der bolivianischen Geschichte. Auf diese Weise versuchte sie, dem Einfluss entgegenzuwirken, den ich im Hause meiner Großmutter mütterlicherseits ausgesetzt war, wo ich von Montag bis Samstag wohnte. Dort waren sie flammende Anhänger der MNR (lange wichtigste Partei des Landes; in den 1940/50er Jahren linksgerichtete, nationalrevolutionäre später dann neoliberale Orientierung, Anm.d.Ü.). Meine Oma väterlicherseits erzählte mir von der Familie Barrientos und der Nationalgeschichte. Ihre Erzählung glich einem Spionagefilm. Wer die Guten und wer die Bösen waren, war für mich schwer zu durchschauen. Die Geschichten waren voller Mikrogeschichten. Sie erzählte mir von den Überstülpungen der Revolution von 1952, vom Leben ihres Vaters in den Minen, vom geheimen dekadenten Leben des Präsidenten Víctor Paz Estenssoro, genannt der„Affe“, vom inneren Exil meines Großvaters, der Mitglied der faschistischen Falange in Bolivien war, vom Tod meines Onkels bei einem Flugzeugabsturz direkt vor der Haustür, von dem anderen Onkel (dem berühmteren), der Paz Estenssoro gestürzt hatte.

Ich kam jedes Mal verwirrt und misstrauisch wieder im mütterlichen Zuhause an, und dort kontrastierten sie die Erzählung mit anderen Beweisstücken: die unübersehbaren Errungenschaften der Revolution von 52 (Nationalisierung der Minen und die Landreform, zum Beispiel), die manipulative Amtsführung von Barrientos als Präsident, der lange Protagonismus der MNR in der nationalen Politik als Beweis ihres Erfolgs.

Beide widerstreitende Erzählungen formten nach und nach meine Identität. Mit der Zeit habe ich dann selber die Erzählung unter Zurhilfenahme von Büchern und Lehrern neu zusammen gesetzt. Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass die Geschichte ein Prozess ist und keine Abfolge von historischen Ereignissen und schroffen Brüchen. Die Revolution von 1952 kann aus heutiger Sicht kritisiert und als unzureichend eingestuft werden, als eine Zeit voller Widersprüche. Doch zugleich wäre nichts von dem, was wir heute erleben, ohne diesen Prozess möglich gewesen. Nicht zuletzt die Revolution selber, die aus den indigenen Revolten hervorging, welche im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzten und bis in 1940er Jahre anhielten. Diese wiederum kündigten sich seit den Aufständen der Tupcas am Ende des 18. Jahrhunderts an. Tupac Katari und Tupac Amaru II waren zwei der wichtigsten indigenen Rebellen während der spanischen Kolonialzeit, sie umzingelten La Paz zweimal, 1750 und 1781.

Es gibt keine Stunde Null und kein Ende der Geschichte. Ich habe auch gelernt, dass die Geschichte nicht allein in den Geschichts- und Schulbüchern präzise beschrieben ist, sondern auch in den Liedern und in der Stimme unserer geliebten Mitmenschen.

Übersetzung: Anne Becker

]]>
http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/feed/ 2
Meine Großmutter, die Zeitungen, … http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/meine-grosmutter-die-zeitungen/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/meine-grosmutter-die-zeitungen/#comments Tue, 13 Jul 2010 08:00:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=447 Foto aus dem Familienalbum

Foto aus dem Familienalbum.

Geschichte ist nichts anderes als das alltägliche Leben mit uns in der Hauptrolle. Auch wenn unsere öffentliche Existenz sich darauf beschränken sollte, am nächsten Kiosk nur deshalb die Zeitung zu kaufen, um darin Fisch einzuwickeln. Es ist möglich, dass Großmutter uns zu dieser Einwickeltechnik geraten hat, „nichts hält den Fisch besser frisch auf dem Weg vom Markt nach Hause“. Es ist möglich, dass unser Name Liz ist und dass die passende Aufgabe für diesen Tag darin besteht, den Fisch holen zu gehen. Dann, wenn die feuchte und knittrige Zeitung weggeschmissen sein wird und Großmutter bemerkt, wie meine neugierigen Augen auf eine zerknüllte, halb aus dem Mülleimer ragende Seite schielen, dann wird sie beginnen, von der Geschichte zu erzählen. Nicht von der Geschichte, wie sie von der Presse blitzschnell hingekleckst wird, sondern von jener anderen Geschichte, die Großmutter sich erinnert, erlebt zu haben. Wenn sie mit dem Erzählen aussetzt, dann nur, um in den Pausen kulinarische Zuckungen und weibliche Flüche unterzubringen.

Unter dem Einfluss des unsichtbaren Inhaltsstoffs, den die Zwiebel beim Schneiden ausdünstet, brach ich in bitterliches, ignoriertes Schluchzen aus, wenn mir meine Großmutter, als ich klein war, ihre Geschichte erzählte. Die Wärme ihres Atems wurde vielleicht vom Knoblauchkauen verursacht oder vom Geschmack einer Vergangenheit, die mit unwirschen Schritten der Gegenwart auf der Spur war. Wenn ihr ein Adjektiv fehlte, suchte sie nicht im abstrakten Wortschatz der Politiker oder Literaturdozenten, sondern schöpfte aus ihrer eigenen Alltagserfahrung mit ihren Lebensmitteln und Haushaltsgeräten. Großmutter sagte nicht solche Sätze wie „niederträchtiger Präsident“ und „unsere Nation verteidigen“. Sie sagte „jener, der Koch war und dann Chefkoch wurde“ und „diese, die immer danach gucken, welchen Kuchen sie in den Ofen schieben“.

Eines Tages starb sie. Die Lust, weiter die Vergangenheit anzurufen, war ihr entgangen, weil sie spürte, dass sich die Zukunft verdunkelte und die Gegenwart sich in ihrer Kehle zuschnürte, so dass die Zeit schmerzhafte Fratzen schnitt. Als es passierte, war ich nicht darauf vorbereitet, sie gehen zu lassen. Aber ihre kleinen Geschichten, hartnäckige Schattierungen der hegemonialen Geschichte, sind mir geblieben.

Ich denke, dass die Geschichte diese bleibende Beständigkeit ist. Der emotionale Zustand, der von einer Erinnerung ausgelöst wird; das Gedächtnis, das in der Lage ist, die Gegenwart zu durchdringen.

Übersetzung: Anne Becker

]]>
http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/meine-grosmutter-die-zeitungen/feed/ 8
Das Gedächtnis der Namenlosen http://superdemokraticos.com/editorial/das-gedachtnis-der-namenlosen/ Mon, 12 Jul 2010 14:54:59 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=453 Beim Lesen und Übersetzen von euren Texten habe ich mich an dieses Foto und eine Reise von mir erinnert…

Gedenkort

Foto: Gedenkort „Passagen“ für Walter Benjamin in Portbou, Katalonien/Spanien. Denkmal des Künstlers Dani Karavan.

Auf der Glasplatte ist zu lesen:

Schwerer ist es das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht. Walter Benjamin, G.S. I, 1241

Zitat aus Walter Benjamins „Thesen über den Begriff der Geschichte“, einer seiner letzten Manuskripte (ca. 1939). Im September 1940 starb Walter Benjamin in Portbou, Spanien, nachdem die Gruppe von jüdischen Flüchtlingen, mit denen er auf der Flucht vor der Gestapo unterwegs war, von der Polizei Francos an der Grenze aufgehalten wurde. Wohl aus Angst vor einer Auslieferung an das von den Nazis besetzte Frankreich nahm Benjamin sich – höchstwahrscheinlich – das Leben. Er starb an einer Überdosis Morphium.

]]>
Jede Generation muss ihre eigene Geschichte schreiben! http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/jede-generation-muss-ihre-eigene-geschichte-schreiben/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/jede-generation-muss-ihre-eigene-geschichte-schreiben/#comments Wed, 07 Jul 2010 06:18:03 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=420 Mit einer Kindheit, vergossen in den 80ern, begann eine Generation im Leben herumzustreifen, die sich von dem offiziellen politischen Diskurs trennte. Unsere Jugend verbrachten wir zwischen Losungen aus „Panamericano y Pa`lante“ und Elian. In der Schule berichteten sie uns von den Gräueltaten des Imperialismus und von der Manipulation der Medien durch diese Herren. Sie erzählten uns, wie gut es uns ginge und wie schlecht die Welt wäre. Durch die Verse von Martí, Neruda und Vallejo sahen wir die Realität einer Welt, die wir – so trichterten diese uns ein – verändern könnten.

Uns wurde beigebracht, das Offensichtliche anzuzweifeln, misstrauisch zu sein: Der Feind kann an jeder Ecke lauern. Caupolicán und die haitianische Revolution waren die Fakten, die uns das wunderbar Wirkliche aufzeigten, die zauberhafte Überraschung, im Alltag die wahren Heldentaten der Unterdrückten zu entdecken. Die Revolution wurde uns als historische Fortsetzung des Freiheitskampfs der kubanischen Bevölkerung präsentiert. Aus einer schwarz-weiß-malenden und vereinfachenden Position heraus wurde die Essenz der Revolution auf den Kampf gegen den nordamerikanischen Imperialismus reduziert. In jenen Momenten schien die Geschichte ein Synonym für Gedächtnis zu sein. Wir haben gelernt, uns daran zu erinnern, was die Position der Regierung legitimiert.

Nur als wir versuchten, das, was sie uns erzählten, in die Praxis umzusetzen, als wir es mit eigenen Augen sehen wollten, als wir unmittelbare Akteure in unserem Leben sein wollten, da haben wir entdeckt, dass wir zu den Unterdrückten gehörten.
In der Pyramide der kubanischen Politik war die Opposition verboten, es gab nur eine einzige wahre Meinung und diese wurde von einer Person vorgegeben: dem Máximo Líder, der Personifizierung der Revolution.
Wieso? Man muss stark gegen den gemeinsamen Feind, den Yankee-Imperialismus sein. Es ist nur so, dass der Kubaner meiner Generation zu bemerken begann, dass der Gegner nicht nur derjenige aus den Losungen der Regierung war, sondern auch der Staat selbst, der uns ohne Stimme und ohne Raum ließ. Uns wurde bewusst, dass die Medien nicht nur von den Herren aus dem Norden manipuliert werden, sondern auch von den compañeros aus der Nachbarschaft. Die Wahrheit, die uns eingetrichtert wurde, war so von ihnen geprägt, dass dafür in einer Generation von Kubanern, wie wir sie waren, kein Platz mehr war. Unsere Generation wuchs in einem demagogischen politischen Diskurs auf, der seinen Bürgern weder etwas zu Essen gab, noch ihnen Optionen für ein würdevolles Leben eröffnete. Ein Diskurs, der von der Rhetorik lebt und die Bürger zu Hilfsarbeitern einer schizophrenen Politik macht, in dem alles von oben herabdiktiert wird.

Diese neue Dimension der Realität zu sehen, ließ viele erblinden. Der Feind hörte auf, offensichtlich zu sein, er verlor seine Personifizierung; er war nun nicht mehr 144 Kilometer entfernt, sondern zwischen uns. Die Person, die ihn verkörperte war nun derjenige, der früher behauptete, eine Revolution des Volks und für das Volk gemacht zu haben. Das Paradoxe daran ist, dass sich die Veränderungen verstärkend auf die Konzentration der Macht auf eine Person auswirkte, eine Macht, die eigentlich von allen ausgeübt werden sollte. Dieser Mann, der glaubte alles zu sein, wird nicht von der Geschichte freigesprochen werden, wie er es zu seiner Verteidigung behauptet hatte, denn er hat sich in dem Wirrwarr seiner Machtausübung verloren. Aber er ist nur die Verkörperung – das System, das dahinter steht, ist viel komplexer. Der Beweis dafür ist es, dass das System immer noch weiter humpelt, obwohl er nicht mehr „da“ ist.

Wenn man über all dies nachdenkt, stellt man fest, dass die Geschichte nun nicht mehr nur aus Gedächnistraining besteht. Es geht nun nicht mehr darum, sich an die Entdeckung Amerikas zu erinnern, sondern vielmehr, sich darüber bewusst zu sein, dass die Konstruktion dieser historischen Ereignisse die Machtbeziehungen widerspiegelt. Wenn die Spanier von den Azteken und Inkas besiegt worden wären, wäre es nicht zur Entdeckung Amerikas gekommen. Das Geschichtsverständnis, das auf reinen Tatsachen beruht und es verpasst, die dynamische Dimension zu begreifen, die sich durch die Wechselwirkungen zwischen dem Subjekt der Geschichte und der Geschichte selbst zeigt, vermochte es nicht, mir meine Realität begreiflich zu machen. Genau deswegen will ich nicht, dass irgendwer mir die Geschichte erzählt. Denn letztendlich können wir sie selber machen.

Die Konstruktion der Geschichte ist nicht von der soziopolitischen Konstitution gesellschaftlicher Gruppen zu trennen, welche wiederum die Geschichte als wahr legitimieren. Genau deswegen handelt es sich bei ihrer Niederschrift nicht um eine rein akademische, sondern auch um eine praktische Aufgabe, die im Kern eine Frage der kulturellen Hegemonie ist und unauflöslich mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen verknüpft ist. Die Geschichte – egal ob mündlich oder schriftlich – ist keine reine Vermittlung von Wissen, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, sie ist auch der Moment der Entstehung neuer historischer Subjekte und ihres sozialen Imaginären, von dem ausgehend die Subjekte ihre Identität konstruieren. Die Aneignung der Geschichte beinhaltet demzufolge notwendigerweise die Kritik an dem empfangenen Erbe. Denn wir fehlten in der Geschichte, die uns beigebracht wurde. Sie dient uns dazu, die Notwenigkeit zu verstehen, sie neu zu schreiben. Damit wir nicht aus dem Blick verlieren, dass in den Jagdbüchern immer nur die Jäger verherrlicht werden, solange die Löwen noch nicht ihre eigenen Geschichtsschreiber haben.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

]]>
http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/jede-generation-muss-ihre-eigene-geschichte-schreiben/feed/ 2
Die treue Hure Gottes http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-treue-hure-gottes/ Tue, 06 Jul 2010 12:11:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=425 „Die Geschichte ist wichtig“

Sagte mir die Mutter eines Freundes

So fängt diese Geschichte an

Ich spielte Basketball

Mehr aus Hartnäckigkeit meines Vater, denn aus eigenem Interesse

Die Geschichte, das Leben, der Alltagsverstand und meine Eigenliebe

Würden mir bald zeigen, dass der Sport nicht das Meine war

Aber zu jener Zeit wurden noch Hoffnungen in mich gesetzt

Ich hatte es sogar geschafft, Mannschaftskapitän zu werden

Im Jahr darauf

Als ich nicht mehr Kapitän war und wie blöd die Bank drückte

– was heißt, dass ich Auswechselspieler war und nur selten mitspielte –

In diesem Jahr wurden wir Erster in unserer Kategorie

Also wurden wir eingeladen zum Feiern

Zu einem Grill

– hier feiert man immer mit einem Grill –

Wir wurden zu einer Ferienanlage des Militärs gebracht

Es ist merkwürdig, aber die Ferienanlagen des Militärs sind billig

Eine der schönsten und zugänglichsten Ferienanlagen in Uruguay ist ein ein Campingplatz

Der an der Atlantikküste liegt und Santa Teresa heißt

Und der natürlich vom Militär ist

Aber nun gut

Die Geschichte würde sagen, dass die Militärs in diesem Land für andere Dinge in Erinnerung bleiben werden

Nicht wirklich für ihre Ferienanlagen

Ich kehre zu der Geschichte zurück

Wir Basketballspieler werden zu diesem Ort zum Grillen gebracht

Also, ich erinnere mich nur wenig

Aber etwas hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt

Für immer

Es war schon spät, fast nachts

Wir waren im Aufbruch

Und während wir auf den Bus warteten, der uns nach Hause bringen würde

Sah ich etwas, was ich bis zu diesem Moment noch nie gesehen hatte

Ein Soldat holte die Nationalfahne vom Fahnenmast ein

Ich weiß nicht, warum ich zu ihm hin rannte und ihn bat, mich das machen zu lassen

Ich wollte den Clown spielen, schätze ich mal

Meinen Freunden mich selbst darbieten, wie ich die Fahne einholte

Die Sache ist die, dass der Soldat einwilligte und ich mich dabei wiederfand, wie ich die Fahne einholte

Meine Freunde guckten mich an und lachten

Ich schnitt Grimassen für sie

Und mitten drin, die Nationalfahne

Die fast unwichtig war in dem Sketch

In dem Moment passierte es

Die Mutter von einem meiner Mitspieler

Stürzte sich auf mich

Schob mich von der Fahne weg

Und holte sie zu Ende ein

Ich war verwundert über ihre Gewalttätigkeit

Meine Freunde lachten jetzt nicht mehr

Als sie die Fahne ganz eingeholt hatte, sah sie mich an und sagte

„Vor ein paar Jahren wurden wir gezwungen, dieser Fahne Respekt zu zollen

Und dieser Respekt, der uns nur schwer begreiflich war, ist verloren gegangen

Die Geschichte ist wichtig

Aber du bist ein frecher Rotzbengel

Und denkst jetzt, dass ich eine verrückte alte Schrulle bin

Aber an dem Tag, an dem die Diktatur wiederkehrt, wirst du dich an das hier erinnern

Und daran, wie du die Fahne behandelt hast.“

Nimm das für dich und deine Tante Gregoria!

Und bis zum heutigen Tag erzähle ich diese Geschichte und bekomme eine Gänsehaut

Ich erinnere mich nicht, wie die Mutter dieses Freundes vom Basketball hieß

Es ist nicht wichtig

Für mich ist nur wichtig, wie sie damit irgendwie definierte

was für mich in Zukunft die Geschichte sein würde

Die Geschichte würde für mich

Die Drohung

Der Buchstabe, der mit Blut einschießt

Sein

Die harte Lektion, die mir das Leben einmal erteilen würde

Die Geschichte

Immer zur Stelle, um in jedem Moment wieder aufzutauchen

Um mit aller Wucht in der Gegenwart einzuschlagen

Um mich zu zwingen, die Fahne mit Respekt zu behandeln

Um mich bezahlen zu lassen für meine Sünden

Die Geschichte so wie die Religion machten mir Angst, als ich jünger war

Und eine Spur davon ist geblieben

Aber ich glaube nicht an Gott

Und noch viel weniger an seine treue Hure

Die Geschichte

Übersetzung: Anne Becker

]]>
Telepathie http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/telepathie/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/telepathie/#comments Mon, 05 Jul 2010 16:12:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=391 Die Telepathie wird das literarische Genre der Zukunft sein: Wir üben sie – wenn auch auf eine primitive Art – beim Chatten. Die Poesie von heute ist die greifbare Metapher einer fünften Dimension, ein visueller Beweis unserer mentalen Kommunikation. Die Sprache reproduziert die organische Bewegung der Natur und der Imagination, auf die gleiche Weise wie die Mayas die Bahnen der Sterne durch ihr Ballspiel symbolisiert haben. Es existiert ein immenser Text, der über die Seiten und Bildschirme hinausgeht, den wir alle interaktiv schreiben müssen. Unsere gemeinsame Geschichte, die sich telepathisch vermittelt.

Geschichte kommuniziert sich von einem Denken zum nächsten. Derjenige, der sie liest und aufschreibt ist ein Astrologe und ein spiritueller Astronaut, der das sichtbar machen konnte, was die Worte in ihrer Schwärze verbergen. Seine Zeit wird gemessen von einer Uhr, die nicht angehalten wurde, sondern sich nur vor und zurück bewegt: von einer Sekunde zur nächsten. Derjenige, der die Geschichte schreibt, ist kein unbeteiligter Beobachter, seine eigenen Schriften wandeln und verändern sie radikal. Sein Handeln stellt ein konstantes Geschehen nach außen wie nach innen dar. Es gibt weder ein Ende, noch einen Moment, in dem die Handlung beginnen kann. Jedes Buch ist leer, bis jemand es öffnet und darin die tote Katze entdeckt, aus der ein episches Gedicht wurde, oder die lebendige Katze in strahlenster und verbrennender Lyrik. Der Tod ist eine Quantenproblematik, genau wie das Lesen. Und die Geschichte ist der öffentliche Text, in den wir eingreifen sollen.

Ein platonisches Delirium veranlasst mich zu glauben, dass die Leser dieses Artikels die Geschichte meines Landes sehr gut kennen, aber sich nicht daran erinnern. Jetzt haben schon einige search in Google geklickt, und schwupps! haben sie sich erinnert. Sehr gut gemacht, Freunde! Ich musste euch gar nichts über den mentalen Weg erzählen! Klar, wenn ihr noch einige Zusatzdetails wollt: ihr wisst, ihr müsst mich nur fragen. Was sagt ihr mir? Wie?! Ihr glaubt nicht an die Telepathie?

Ich gebe euch mal ein Beispiel: In dem Buch Legenden aus Guatemala, von Miguel Ángel Asturias, gibt es eine unvergessliche Figur: „La Tatuana“, eine Frau, die in Gefangenschaft ist und eine Tätowierung von einem Boot auf dem Arm trägt. Am Vorabend ihrer Hinrichtung, da sie vom Teufel besessen sei, malt die „Tatuana” genau dieses Boot an die Wand ihres Gefängnisses (oder in die Luft) und schafft es, damit zu fliehen, auf ein unsichtbares Meer auszulaufen. Mehr brauche ich euch nicht zu sagen? Oder? Stimmt doch! Die Details dieser Geschichte habe ich euch mental vermittelt, richtig oder? Eure Schlussfolgerung ist gut: Die Poesie ist die Tätowierung und das Meer, die Sache die wir malen, um dem Gefängnis unseres Körpers und der Beklemmung über ein aufgezwungenes Schicksal zu entfliehen. Gut! Poesie bedeutet, sich ein Paralleluniversum so gut vorstellen zu können, dass man schwupps! auch da ist.
Was sagt ihr nun? Glaubt ihr, ich lade euch ein, der Geschichte zu entfliehen? Überhaupt nicht, meine Lieben. Ich schlage nicht eine einfache Flucht aus der Wüste der Realität vor, sondern ich versuche hier vielmehr ein Konzept zu formulieren, in dem die Poesie die Imagination von dem ist, was wir immer noch nicht gewagt haben zu leben und gleichzeitig als eine Vorrichtung, die in der Lage ist, den historischen Ereignissen, bei denen wir Akteure oder Opfer sein mussten, eine andere Dimension hinzuzufügen. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ sagte schon dieser berühmte deutsche Philosoph… Also, schließe ich daraus, dass die Poesie eine Strategie sein muss, um großartige Träume zu produzieren, die es uns erlauben, das individuelle und kollektive historische Trauma zu überwinden, und mit der wir die Zukunft – basierend auf den intensivsten Daten der Vergangenheit, die unsere Erinnerung geprägt haben – neu zeichnen können. Wir werden den Alptraum überwinden, in dem wir telepathisch kommunizieren. Und uns das Meer vorstellen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

]]>
http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/telepathie/feed/ 1
Die Lehren der Geschichte http://superdemokraticos.com/editorial/die-lehren-der-geschichte/ Sat, 26 Jun 2010 19:05:17 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=387 So lautet die Übersetzung des Buchs Les morales de l’histoire von Tzvetan Todorov, das 1991 in Frankreich erschien. Es handelt sich um eine Sammlung von Essays über historische Ereignisse wie die Eroberung Amerikas, in welcher der einseitige Blick der „Humanwissenschaften“ oder „Geisteswissenschaften“ – wie die Fachbereiche an der Universität genannt werden, an denen Fächer wie Geschichte angesiedelt sind – auseinander genommen wird.

Todorov stützt sein Augenmerk auf die Kritik der wissenschaftlichen Erkenntnisweise, welche – angeblich frei von „Moral“ und politischer Färbung – auch den historischen Gesellschaftsdiskurs konstiuiert. Er lädt uns ein, diesen Diskurs in Frage zu stellen, indem er zeigt, wie bereits durch die Auswahl der Worte in der Beschreibung einer Handlung eines Menschen durch einen anderen Menschen ein „Werturteil“ gefällt wird. Jedes Adjektiv wird aus einer spezifischen Subjektivität und aus einem bestimmten Wertesystem heraus gewählt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass jeder geschriebene Text, auch der literarische, nicht mehr als eine Momentaufnahme, ein Polaroidfoto der Kultur ist, in dem der Text verfasst wurde, und vor allen Dingen ein Bild des Beobachters, des schreibenden Subjekts. Es ist weder notwendigerweise die Wahrheit noch eine Lüge.

Der Zeitgeist, welcher die meisten der Texte unserer Autoren in dieser Woche beseelt, ist jener, der die Institution Geschichte – die Geschichte in Großbuchstaben – in Misskredit gebracht hat. Das mag deshalb so sein, weil ein Land von der Landkarte verschwunden ist, weil die Entfernung zum Staat, der die offizielle Version der Geschichte bestimmt, riesig ist, weil die Revolution sich selber definieren und ihre eigenen Mythen erschaffen muss oder weil die Migration und das Erlernen einer neuen Sprache uns dazu zwingt, unsere Identität neu zu erfinden. In jedem Fall ist unsere Sicht auf die Geschichte immer eine persönliche. Die Erinnerung der älteren Generation ist dabei prägend.

In seinem Essay schreibt Luis Felipe Fabre: „Ich stelle mir meine Oma gerne so vor: ein kleines Mädchen, das Teile der Geschichte aufsammelt, wie andere Kinder Muscheln und Schnecken am Strand sammeln oder Glühwürmchen jagen gehen.“

Übersetzung: Marcela Knapp

]]>
Die Erinnerung, diese bezwungene Gelatine http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-erinnerung-diese-bezwungene-gelatine/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-erinnerung-diese-bezwungene-gelatine/#comments Mon, 21 Jun 2010 20:33:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=322 Wenn ich hier über der Geschichte meines Landes sitze, komme ich mir ganz klein angesichts der Geschichte der Menschheit, der Weltgeschichte, der Geschichte des Universums. Vor ein paar Tagen fiel mir der letzte Satz von Blade Runner wieder ein: „Alle Dinge, die man erlebt, werden verloren gehen in der Zeit, wie eine Träne im Regen.“ Irgendwie so ist mein Land, irgendwie so etwas ist meine Lebensgeschichte, eine Träne in einem Ozean der Ozeane. Was für eine Bedeutung kann der Ozean für diese Träne haben?

Manchmal spüre ich, so wie heute, dass die Geschichte bedeutungslos ist. Die Diktatur in Uruguay – eine zivil-militärische Diktatur, die vom 27. Juni 1973 bis zum 28. Februar 1985 andauerte – bedeutet nicht nur eine einzige Sache. Natürlich bedeutet sie etwas ganz anderes für einen Militär als für einen Zivilisten, sie bedeutet sogar etwas anderes für meinen Vater als für mich. Aber darüber hinaus bedeutet sie auch verschiedene Dinge für einen selbst. Auf diese Weise, wenn alles so viel bedeutet, bedeutet es nichts mehr. Wenn alles möglich ist, ist gar nichts mehr möglich.

Ich kehre zu diesem Thema Geschichte versus Erinnerung zurück, weil es mir bedeutsam erscheint. Es ist die Erinnerung – wir erinnern in Funktion dessen, was wir der Gegenwart erleben und wir erinnern, indem wir entscheiden, etwas anderes zu vergessen–, die für mich am meisten Relevanz hat. Was ist die Geschichte für mich? Ein paar Daten, die willkürlich aus der Vielzahl von Geschehnissen, von denen mir immer nur Versionen zugänglich sind, ausgewählt wurden. Was ist die Erinnerung für mich? Alles. Weil die Erinnerung sich als komplexe, zweiflerische, willkürliche animmt und versteht. Es ist meine Erinnerung, nicht die, der anderen.

Mir gefällt das Klischee, dass die Erinnerung ein Fotoalbum ist. Ich gebe zu, dass es mir etwas Mühe bereitet hat, eine dermaßen ausgelutschte und oberflächliche Metapher zu verwenden. Aber es ist doch so, wenn einem keine bessere einfällt, dann Augen zu und durch, und weiter, auf zu etwas anderem.

Die Geschichte hingegen ist die Reihenfolge, in die ich die Fotos bringe, sie ist ausgerichtet auf das Heute als Endpunkt. Was für eine Geschichte erzählt mir dieses Foto in Hinblick auf meine Gegenwart?

Ich weiß, dass ich abschweife, so bin ich, konfus, nebulös, grau…wie die Erinnerung.

Erstes Foto: Ich mit sieben Jahren, vielleicht weniger, fünf, sechs…ich wache mitten in der Nacht auf und rufe nach meinen Eltern, ich rufe ein ums andere Mal, sie sind nicht da, ich fange an zu weinen, ich schreie, sie kommen nicht, ich klettere aus meinem Bett, laufe den Flur entlang bis zu ihrer Tür, ich weine, sie machen nicht auf, ich weine und weine, die Nacht ist lang und nichts geschieht, nichts, nichts, nichts, meine Faust, wie sie auf die Tür meiner Eltern einhämmert, ein weiße Tür und nichts, nichts, nichts. Plötzlich höre ich die Schlüssel in der Haustür, meine Eltern kommen nach Hause, ich weiß nicht, woher sie kommen, ich erinnere es nicht, ich weiß nicht, ob ich wirklich allein war, warum ich so viel weinte, wie viel Zeit vergangen war. Das nächste Bild, es ist aus derselben Nacht: Meine Eltern lassen mich mit bei ihnen im Bett schlafen, sie geben mir einen Becher mit dulcedeleche (eine Art Caramelcrème), die ich gierig verschlinge, ich beruhige mich, ich gucke mit ihnen fern und schlafe ein.

Die Geschichte wird sagen, dass ich nie wieder auf diese Art und Weise dulcedeleche gegessen habe, dass mir dulcedeleche gar nicht besonders schmeckt, sie ist mir zu süß. Die Geschichte würde auch berichten, dass meine Eltern sich kurz daraufhin getrennt und dann geschieden haben, dass ich nie wieder eine Nacht mit ihnen zusammen im Bett verbrachte, dass ich nie wieder nachts aus meinem Bett in ihres umzog, wie es Kinder zu tun pflegen. Die Geschichte wird verkünden, dass ich nie wieder Ohrenschmerzen habe. Mein Gedächtnis erinnert sich nicht, aber meine Geschichte belegt es. Die Geschichte wird Spekulationen anstellen über die Verbindung zwischen dem Verlassensein in jener Nacht und dem Auszug meines Vaters, mit dem Wegzug meiner Mutter in ein anderes Land, als ich 18 Jahre alt war, mit dem all dem Verlassenwerden, was seit dem meine Familie durchlebt hat.

Ich glaube daran nicht, erst einmal deshalb, weil ich nicht an das Verlassenwerden glaube, ich weiß, dass niemand mich verlassen hat, ich glaube auch nicht an endgültige Schlussstriche oder das Nimmerwiedersehen, ich glaube noch nicht einmal an den Tod. Und wie Calamaro schon sagte: „Ich werde unsterblich sein, bis mir das Gegenteil bewiesen wird.“ Für mich, und da mag die Geschichte noch so viel beweisen und in Büchern verewigt werden, existieren jene Eltern nicht, die Zigaretten holen gehen, und nie mehr wieder kommen, so wie für mich auch die Helden nicht existieren.

Stattdessen glaube ich an die Gleichgewichte, an die Veränderungen, an die Transformationen, daran, dass meine Familie ihre Form verändert hat und dass ich heute eine andere Familie habe, dass mein Geschmack sich weiter entwickelt hat und dass ich heute andere Sorten von Süßigkeiten mag, dass sich meine Art zu weinen und zu schreien transformiert hat, so wie alles sich immer ändert, so wie nichts mehr je so sein wird, wie es in jener einen Nacht war, und dass das kein Problem ist, dass es das wirklich nicht ist, mir geht es besser ohne diesen Becher dulcedeleche.

Die Geschichte verlangt nach Abschluss und Schlussstrich, was mir nicht gefällt. Die Erinnerung aber, diese Hure, die mit jedem meiner Gedanken und all meinen Intentionen ins Bett steigt, dieser instabile und fragile Nebel, diese bezwungene Gelatine, die gefällt mir.

Übersetzung: Anne Becker

]]>
http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-erinnerung-diese-bezwungene-gelatine/feed/ 3