LIteratur – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Innere Mauern, äußere Mauern http://superdemokraticos.com/laender/israel/innere-mauern-ausere-mauern/ http://superdemokraticos.com/laender/israel/innere-mauern-ausere-mauern/#comments Wed, 13 Jul 2011 22:52:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4501

Jerusalem ist eine Stadt voller Mauern: Da ist die archaischen Stadtmauer, welche die Altstadt umringt, und in dem neuen Teil der Stadt gibt es eine Mauer, die Juden und Palästinenser trennt. Von einer Mauer sagt man, sie wäre aus Sicherheitsgründen erbaut worden, wie alle Mauern aus fernster Vergangenheit, aber das ist lediglich die Effizierung der Intoleranz. Genau wie schlussendlich alle Mauern. Von den Aussichtstürmen aus scheint Jerusalem ein Mosaik aus Mauern zu sein – von den antiken Steinen bis hin zu den kürzlich errichteten Betonmauern.

Dann gibt es, wie man weiß, auch diese anderen Mauern, diejenigen, die man nicht sehen kann, aber die man im Vorbeigehen in den missbilligenden Blicken erahnen kann, oder in den Schildern, die am Sabbat den Zutritt verbieten oder ihn nur denjenigen erlauben, die sich auf eine bestimmte Art und Weise kleiden, oder die, die zwischen Männern und Frauen trennen, zwischen gläubigen und agnostischen Menschen, zwischen Religionen, zwischen unterschiedlichen Auslegungen des Christentums oder des Judentums, usw. Mauern, die man nicht sehen kann, erschienen mir immer schon als die furchtbarsten. Man kann keine Demo gegen einen missbilligenden Blick veranstalten, gegen ein Naserümpfen, gegen Gesetze, die nicht schriftlich festgelegt sind, die aber trotzdem jeder kennt. Das sind Mauern, die Menschen in sich tragen, die es einem verbieten den Anderen zu akzeptieren und sich in Grimassen, bösen Mienen und Intransigenz äußern. Grimassen, die am Ende Realitäten erschaffen.

Das Zusammenleben ist nicht einfach, wenn es zwischen so vielen inneren und äußeren Mauern stattfindet. Fanatismus auf beiden Seiten. Ungerechtigkeit überall. Neulich führte die simple Diskussion über irgendetwas in einem Geschichtskurs, den ich belegte, zum Eklat: Eine rechtsextreme Frau schrie einen arabischen Studenten an, dass er abhauen solle, und sie meinte damit natürlich nicht, dass er den Unterrichtsraum verlassen soll, sondern das Land. Und das richtete sich logischerweise nicht an ihn persönlich, sondern an die Gruppe, die er repräsentiert. „Geh du doch“, antwortete der Student, ernst und ungerührt. Seit diesem Moment ist in dem Kurs eine weitere kaum spürbare Mauer entstanden. Alle, die wir die Position der Rechtsextremen zu tiefst verabscheuten, setzten uns in die Nähe des arabischen Studenten. Um ihr physisch zu zeigen, dass wir auf seiner Seite waren. Natürlich bildete sich auch ein Kreis um die Rechtsextreme, der ihre Heldentat feierte.


Obwohl es viele, auch erfolgreiche Projekte des Zusammenlebens gibt, errichten Anekdoten wie die eben erwähnte neue, unzerstörbare Mauern.

Das Zusammenleben ist nicht einfach, vor allem weil es Mauern innerhalb der Mauern gibt: Der israelische Schriftsteller Amos Oz beschloss, seine Autobiographie mit dem Titel „Eine Geschichte von Liebe und Dunkelheit“ an Marwan Barguti zu schicken, damit der palästinensische Anführer anhand der Literatur das Leid, das er dem jüdischen Volk zufügte, kennenlerne. Diese Aktion wurde gleichermaßen von den Rechten wie von den Linken kritisiert. Oz wurde ebenfalls von Juden aus dem Mittleren Osten kritisiert, denn die von ihm erzählte Geschichte ist die der europäischen Juden und nicht die ihre.

Ich denke, dass die Literatur retten kann, da sie einen Blick auf das Leben aus einer anderen Perspektive bietet, der über den Tellerrand hinausgeht, und ich denke auch, dass Gesten wie die von Oz eine enorm große Bedeutung haben. Hoffentlich lesen wir die anderen und werden von den anderen gelesen.

Ich mache mir am meisten Sorgen um diese Mauern in den Mauern, die nicht auf geltenden Gesetzbüchern oder aus Beton oder Zement erbaut wurden, denn sie können nicht so einfach zerstört werden. Ich sehe sie wachsen, sowohl in dem Land in dem ich wohne, als auch in dem Land in dem ich geboren wurde. Venezuela lebt eine polarisierte Realität und es interessiert niemanden, einen Weg zu einem Zusammenleben zu finden. Tatsächlich schreckt das Wort Zusammenleben die Machthabenden genauso ab wie die Gegner. Städte wie Caracas formen sich nach einer geheimen Landkarte, die die Menschen trennt. Mauern, die aus der Gewalt entstehen, aber auch aus der Verleugnung des Anderen. Der Andere – wer auch immer das ist und wo er auch immer sein mag – ist im Unrecht, man muss ihn mundtot machen, ihm nicht zuhören, eine Mauer um ihn bauen. Alles, was der Andere macht, ist eine Inszenierung oder eine Farce. Nichts was er sagt ist gut, denn er ist nicht Teil von uns. So Chávez mit seiner sozialistischen Parodie. So auch die Mehrheit seiner Gegner mit ihrem fehlenden Respekt und mangelndem Interesse für die benachteiligten Bevölkerungsschichten.

Jede Mauer ist aus den Fäden des Fanatismus gestrickt. Die physischen erwecken wenigstens den Wunsch sie einzureißen. Die immateriellen verstecken sich heimtückisch hinter den Schleiern des Nationalismus, der Religionen oder des Machtmissbrauchs.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Die Zukunft http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-zukunft/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-zukunft/#comments Sun, 24 Oct 2010 18:01:42 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3087

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Ich stimme René Hamann zu, mir gefallen Abschiede auch nicht. Dies hier ist ein Pilotprojekt, das jeden Moment wieder Gas geben könnte. Zudem verschwinden wir nicht ganz, wir nehmen nur ein bisschen das Tempo heraus, senken die Intensität.

Es ist schwierig, einer Idee eine physische Form, etwas Reales, zu geben, sie in eine juristische Person verwandeln. Es ist schwierig, einer Idee treu zu bleiben, wenn viele Personen gleichzeitig sie bestimmen und ausmachen und wenn sie zweisprachig ist. In Wirklichkeit kamen wir an viele Grenzen, so wie Borges es sehr treffend in „Las Ruinas Circulares“ (Die kreisförmigen Ruinen) beschreibt: „Das Ziel, das uns lenkte, war nicht unmöglich zu erreichen, aber es hatte etwas Übernatürliches. Ich möchte einen Menschen erträumen: Ich möchte ihn detailliert integer und ihn dann in die Realität entlassen. Dieses magische Vorhaben hat den gesamten Raum meiner Seele ermüdet.“ Oder es wird ihn später noch mehr ermüden, wenn wir uns hinsetzen, um darüber nachzudenken – hoffentlich mit eurer Hilfe – was und worüber hier eigentlich gesprochen wurde.

Wir werden in den Texten unserer Autoren Schlüsselwörter suchen, neue Konzepte, Schneisen, um zu verstehen, wohin uns die Finanzkrise in den vergangenen Jahren geführt hat, wie sich die Welt nach dem 11. September anfühlt, was es bedeutet, ein Staatsbürger zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es geschafft haben, ein generationelles Mosaik zu entwerfen, sondern vielmehr eines der Mittelschicht, ein sehr vielseitiges. Was wir gemeinsam haben, sind: der Zugang zur Technik, eine bürgerliche Erziehung und dass wir alle an der Uni die wichtigen französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts gelesen haben. Uns unterscheidet die Beziehung, die ein jeder mit seiner Sprache führt. Spanisch ist an keinem Ort der Welt eine Nationalsprache, ich habe eine gesamte Generation von Katalanen erlebt, die Spanisch sehr schlecht sprachen. Auch haben wir uns an das Falschpanisch von Typen wie Gombrowicz gewöhnt, allein zwischen 1910 und 1935 landeten vier Millionen Menschen, europäische Immigranten, in Buenos Aires. An der Grenze zwischen Paraguay und Bolivien spricht man ein unverständliches Deutsch, in den sich abschottenden mennonitischen Gemeinden tragen die Frauen Kopftücher, in Venezuela gibt es die exakte Kopie eines Dorfes im Schwarzwald und überall sieht man Menschen mit blauen Augen, mit hellerer Haut, Kinder der verarmten europäischen Siedler, die es sogar bis zum Gran Chaco, einem trockenen Dschungel zwischen Nordargentinien, Südbolivien und Paraguay, und an andere Orte geschafft haben, an die man sich heute nicht mehr erinnert, auch wenn die bürgerlichen Sehnsüchte dort intakt geblieben sind.

Dann ist da auch noch diese gesamte Generation von ausländischen Autorinnen und Autoren, die auf Deutsch schreiben, und die Deutschen, die heutzutage ihr Leben anderswo auf der Welt führen. Wie bildet sich Zivilisation heraus? Vor vielen Jahren kaufte ich in einem Antiquariat das Tagebuch eines preussischen Soldaten, der in Hamburg in See stach und von Buenos Aires aus sogar die Ufer des Pilcomayo erreichte, ein Fluss in Zentrallateinamerika. Dass Hesse sich ein wenig von einer ähnlichen Geschichte hat inspirieren lassen, um Siddharta zu schreiben, erscheint mir durchaus möglich; nur so kann ich mir erklären, dass in der Bibliothek meines Großvaters im Chaco ein Siddharta stand, ein billiges Buch, erschienen in Argentinien – und das, obwohl in meiner Familie kein einziger Deutscher war.

Wir möchten uns bei unseren Übersetzerinnen und Übersetzern für ihre Arbeit bedanken, einige Texte waren wirkliche Herausforderungen. Wir bedanken uns vor allem bei unserem gesamten Berliner Team: bei den Nübel-Brüdern für das Erscheinungsbild, das sie unserem Spaceship gegeben haben, bei Adriana Bernal für den Überblick über alle Rechnungen, bei Valia Carvalho und Oscar Seca für Illustrationen, bei Sudaca Power, María Mandarina, Inti Che, Kid Watusi y Grace Kellyfür die Musik, bei Acud, La PulqueriaHotel Bar y Madame Sata für Räume und Gastfreundschaft, bei Der Freitag, Wilde Leser, Latinale, Die SpukKommune und allen Freunden, die uns geholfen haben, die Ideen zu verbreiten. Nun treten wir in die zweite Phase unseres Projekts ein und laden alle unsere Leser und Autoren ein, uns bei der Auswahl des Materials für ein superdemokratisches Buch zu helfen. Wir kehren zum Start zurück. Eure Vorschläge bitte an:

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Dichter im Profil http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/espanol-poeta-de-perfil/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/espanol-poeta-de-perfil/#comments Sat, 09 Oct 2010 01:57:32 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2639

Erlaubt mir diese letzte, schamlose Übung. Heute möchte ich von Julio Barriga sprechen, dem ersten wahren Künstler, den ich kennen gelernt habe. 1995 entdeckte ich seinen Namen in der Literaturbeilage einer heute nicht mehr existierenden Lokalzeitung. Er tauchte als Herausgeber der Beilage Eventual auf (ich wusste noch nicht, dass in diesem Titel der Wesenszug seines flüchtigen Enthusiasmus – eventuell –  steckte, der ihn in merkwürdigen Ausnahmefällen zum Handeln bewegte). Der Inhalt war exquisit, ironisch und fast schon revolutionär für eine konservative und scheinheilige Stadt. Es erschienen nur vier Ausgaben (ein Monat) der Beilage. Von der Neugierde getrieben fragte ich nach ihm in einer winzigen, verruchten Kneipe (die von einem trotzkistischen Theaterliebhaber geführt wurde), in der sich Exemplare einer sehr vielfältigen und vom Aussterben bedrohten Fauna trafen, die ich wie alte Bekannte zu behandeln begann, ganz dem Ausspruch von Monterroso folgend: „Die Zwerge haben eine Art sechsten Sinn, mit dem sie sich auf den ersten Blick erkennen“. Man sagte mir, dass dieser Barriga auch oft in die trotzkistische Theater-Kneipe kam, aber ich war ihm noch nie dort begegnet. Eines Tages zeigten sie ihn mir. Er sah aus wie Edgar Allen Poe („Edgar Allan guckt mich aus dem Spiegel an“) und als ich auf ihn zuging, störte er sich daran, dass ich ihn siezte. Ich fing an, ihn oft aufzusuchen, und um mich los zu werden, lieh er mir Bücher, die mich begeistert oder verstört zurück ließen. Barriga hatte damals schon seine zwei ersten Bücher veröffentlicht: El fuego está cortado (Das Feuer ist abgeschnitten) (das mit einer Variation des „make a mask“ von Dylan Thomas anfängt: „Mach mir eine Maske/ denn ich bin einsam und möchte mich noch einsamer fühlen“) und dem sehr kurzen Aforismos desaforados (Rabiate Aphorismen).

Aus einer Dorflehrerfamilie stammend waren Bücher seit seiner Kindheit Teil seines Lebens gewesen und nachdem er zwei Familien aufgebaut und wieder demontiert hatte, zog er sich hinter die Maske des Berufs zurück, den er mit vielen Jobs (in Tarija, La Paz, Salta und Mendoza) vor sich her geschoben hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er schon ein drittes Buch fertig gestellt, Versos perversos (Perverse Verse) (eigentlich so lang wie drei Bücher), das geradezu niederschmetternd kühl war (so wie ein Schatten in einer sehr dunklen Ecke). Eine Art Tagebuch seiner Unruhe („allein ich schicke mir/ dringliche Briefe an mich selbst“). Es interessierte ihn nicht, das Buch zu veröffentlichen, und es dauerte noch zehn Jahre, bis andere davon erfahren durften, was wir längst schon wussten. Sein variationsreicher Stil hatte eine Tendenz zum Erzählerischen, zwischen Barockem und mündlichen Straßenjargon, war wirr durch falsche oder aus dem Kontext gerissene Zitate und er bediente sich ohne Unterschied der „Hochkultur“ wie der Massenmedien. In diesen Gedichten sprach er von seiner permanenten Beklemmung, von seinen Freunden, von seinem Fahrrad, von Städten, die sich ihm ins Mark gebrannt hatten, von seinem Viertel, von der Einsamkeit, von der ewigen Gegenwart des Alkohols. Dank dieser Gedichte wuchs sein fast geheimer Ruhm (für mich gehört er zusammen mit Humberto Quino und Juan Cristóbal MacLean zu den drei besten lebenden bolivianischen Lyrikern). Außerdem hatte er dieses unnachgiebige ethische Credo „wie ein Dichter zu leben“ (ein Drang, das irdische Dasein intensiv und zuneigungslos zu leben, mit der gewaltvollen Passivität eines Bartleby), das eine performative Stütze des geschriebenen Werks zu sein schien. Ein Typ, der sich vor allem für das gerade aus der Mode gekommene interessiert (derzeit, beispielsweise, die Disketten) und der zu einer extrem pessimistischen Skepsis in der Lage ist („ich bin dazu verdammt, eine geschmacklose Existenz zu verlängern/ bis zum Ende seiner sich wiederholenden Momente“) und auch dazu, sich dreist über alles lustig zu machen, besonders über sich selbst („Was würde ich machen, wenn ich Gott wäre?: Abdanken“) Ein Typ, der in die Pedale tritt, um vor dem Horror zu fliehen und der aus der größten Tiefe seiner persönlichen Finsternis Funken von Klarheit hervorholt („Ich bin ein Zentaur der Einsamkeit/ und die Brillengläser der Landstraße, Ramón“).

Aus dieser Illusion einer geteilten Vergangenheit, die die Freundschaft schafft, habe ich 2008 sein Buch Cuaderno de Sombra (Heft des Schattens) verlegt, in welchem er den Ton ändert, indem er die Stimme eines befreundeten Dichters, Roberto Echazú, annimmt, der gerade gestorben war. Das, was Bloom Apofraden nennen würde. In diesem rigorosen Trauerbuch, unterhält sich Barriga mit sich selbst aber auch mit Roberto, mit dem er den Beruf, den Alkohol und die Vorliebe für das Erhellen der dunklen Seite der nahen Dinge teilte. Ich habe dabei nicht nur ein paar zentrale Grundsätze im Verlegen von Büchern gelernt, sondern bin auch mit einer bestimmten Art und Weise des in der Welt seins in Kontakt gekommen: sein eigenes Schicksal anzunehmen. Barriga hat, wie ein verschwiegener Mönch, schon zu vielen Dingen Lebwohl gesagt und Hallo! zum Tod. Vor einer Woche habe ich ihn gesehen und er sieht aus wie immer, er lebt weiterhin nach seinem eigenen Kodex und zu diesem Zeitpunkt wird er sich nicht mehr ändern, zum Glück.

Übersetzung: Anne Becker

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Globusse, Balkane und Literatur http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/espanol-globos-balcanes-y-literatura/ Mon, 27 Sep 2010 15:01:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2230 Wir waren 18 Jahre alt, ein bewegtes Jahrhundert neigte sich dem Ende entgegen und ich und mein Freund Boris suchten wie Drogensüchtige nach Büchern. Da es in unserer Stadt keine Buchhandlungen (bzw. eine mit geringer Auswahl) gab, konzentrierten wir unsere Suche auf die Bücherregale unserer Verwandten und Freunde: Wir fragten nach, liehen Bücher aus oder klauten welche (aus den Bibliotheken, die durch Einschränkungen, schlechten Geschmack und Betriebsroutine verwaist waren). Es war uns egal; wir machten Gebrauch, von dem, was wir fanden: Wir waren glücklich in unserer Beschränkung. Das Lesen hielt uns an, immer mehr zu lesen, ohne dass wir sonderlich an die Zukunft oder die Konsequenzen dachten. Eines Tages erreichte uns das Gerücht, dass Herr Soundso angeblich die gesammelten Werke von Jorge Luis Borges in der Emecé-Ausgabe von 1979 besaß. Nachdem wir die ungefähre Adresse des besagten Besitzers ermittelt hatten, fuhren wir auf Boris’ schrottreifen Motorrad los und klingelten zwischen zwei Straßen an jeder Haustür, bis wir an die richtige Tür gelangten. Ein Typ, den wir noch nie gesehen hatten, öffnete uns die Tür, verschwand nach einer kurzen Erklärung von Boris wieder in der Wohnung und kam mit besagter Ausgabe in grünem Einband wieder. Wir fuhren sofort zum Kopierladen und brachten ihm nach einer Stunde sein Buch zurück. Dass es keine Bücher gab (heute gibt es auch nicht viel mehr als damals), schien mir auch ein Symptom des spießigen und obskuren Angestelltenprofils in der Stadtverwaltung: Es ist schließlich leichter, jemanden zu beherrschen, der uninformiert ist oder nicht weiß, was er mit Informationen anfangen soll.

Uns war die Welt damals weit und fremd, auch wenn dies gerade dabei war, sich zu ändern. Wir sollten bald dazu gezwungen werden, unsere Antennen vom analogischen auf das digitale Modell umzustellen. Ein Jahr bevor das 20. Jahrhundert zu Ende ging, konnten wir schon Zeitungen und Magazine im Internet lesen, die vorher für uns nirgends zugänglich gewesen und in unserem monothematischen Zirkel mythischen Status genossen hatten: Mit einem Klick fühlten wir uns selbst gegenüber nun wahrhaft zeitgenössisch. Aber in der „Realität“ zirkulierten weiterhin sehr wenige Bücher und der Klang der „Realität“ hatte mehr Akkorde in Moll denn in Dur: übertrieben hohe Buchpreise bei Lumpengehältern, deren Kaufkraft jeden Tag abnahm, Geringschätzung der Rolle der Literatur, das Aufkommen multinationaler Konsortien, die sich anschickten, unsere „Nationalliteratur“ zu umsäumen (indem sie tendenziöse Debatten führten, Autoren und Werke ignorierten, den Dialog zwischen literarischen und linguistischen Traditionen, die sich nicht um ihr mittelmäßiges Kriterium der nationalen Grenzen scheren, nicht berücksichtigten, indem sie Schulbuchtexte herausbrachten, in denen der Sinn der Literatur in der erzieherischen Funktion verloren ging etc.). Die von diesen Konsortien geförderte „Nationalliteratur“ war in vielen Fällen nichts als ein ideologischer Pakt zwischen einer Öffentlichkeit (die diese teuren Bücher kaufen und die Lektüre dieser klassistischen Bücher genießen konnte) und einem Autoren (der oftmals aus eben dieser sehr begrenzten Öffentlichkeit stammte). Viele Aspekte haben diesen perversen Effekt zu unterminieren begonnen, unter anderem der Zugang zu Literatur über das Internet.

Auch wenn es hier keine Buchhandlungen gibt, die an Supermärkte erinnern, in denen Bücher wie Waren mit einem Verfallsdatum verkauft werden (wodurch viele wertvolle Bücher in Vergessenheit geraten), so verharren wir doch in der Position eines kulturellen Flohmarkts, auf den nur die Abfallprodukte und Überschüsse der großen Märkte gelangen. Das, was einige Autoren (unter anderen Piglia und Link) die „Balkanisierung“ der lateinamerikanischen Literatur nennen. Ramsch wie Selbsthilfeliteratur, miserable Übersetzungen von Klassikern, unechte Bestseller, aber fast nie jene Werke, die unsere (gemeinsame, aber unendlich vielseitige) Sprache transformieren und erweitern, die unser Verständnis davon, was es heißt, Lateinamerikaner zu sein, verändern, die den Kanon reformieren etc. Solange das so bleibt, werden wir dank des Internets – mit all seinen Begrenzungen und unseren Illusionen, mit Geduld, aber auch mit Zorn – weiter Widerstand leisten. Seiten aus Sandstein, die ich mit meinem Freund Boris weiter verschlingen werde. So einfach geben wir nicht auf.

Übersetzung: Anne Becker

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Die mundialisierte Literatur in 3 Punkten http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/die-mundialisierte-literatur-in-3-punkten/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/die-mundialisierte-literatur-in-3-punkten/#comments Fri, 17 Sep 2010 07:10:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1930 0.- Mundialisierung

* Ich bevorzuge den Terminus „Mundialisierung“ (mundializaçao), den der Brasilianer Renato Ortiz zur Konzeptualisierung der kulturellen Dimension der Globalisierung geschaffen hat. Denn wir stimmen wohl darin überein, dass transnationale Konzerne und Flughäfen eine Sache sind und eine ziemlich andere die Aneignung des Fremden seitens lokaler Kulturen. Hier würden Deleuze und Guattari ihren leicht abgedroschenen Zungenbrecher einwerfen: Deterritorialisierung und Reterritorialisierung.

* Ich sehe das so: Ein neues Lied von Madonna wird auf den Markt gebracht, angekurbelt von transnationalen Werbetrommel, und erobert alle Radiosender der Welt. Dennoch wird zu dem Lied in jeder Kultur in einem anderen Takt getanzt. Ein Schwede könnte nicht genauso wie ein Venezolaner zu dem Lied tanzen, so viel er auch üben würde. Aber nicht davon, sondern von Literatur möchte ich reden. Also ist dies hier der Nullpunkt.

1.- Deutschland

* Der mexikanische Schriftsteller Jorge Volpi ist zu einem klassischen Beispiel des globalen Schriftstellers geworden. 1999 überraschte er damit, dass sein Roman „En busca de Klingsor“ (dt.: Das Klingsor-Paradox) in Deutschland während des 2. Weltkriegs spielte. Und dass er erklärte, niemals in Berlin gewesen zu sein. Ab einem gewissen Zeitpunkt waren es die lateinamerikanischen Schriftsteller leid, über fliegende Nonnen und all die Ikonen des Magischen Realismus zu schreiben, und sie widmeten ihr Schreiben sehr realen Städten, der Popkultur, und sogar Ländern, in denen sich noch nicht einmal gewesen waren.

* Ich habe gerade die ersten Geschichten aus dem Buch „El mundo sin las personas que lo afean y lo arruinan“(Die Welt ohne die Personen, die sie verunstalten und ruinieren) von Patricio Pron gelesen, einem argentinischen Schriftsteller, der bis vor kurzem in Deutschland lebte. Alle Geschichten spielen in Deutschland und sind so deutsch, dass ich gedacht hätte, dass sie von einem deutschen Schriftsteller stammen würden, hätte ich nicht den Klappentext gelesen.

* In meiner Kurzgeschichte „El perro de Nina Hagen“ (Der Hund von Nina Hagen)  geht die Protagonistin in eine Bar in einer Straße in Berlin, die ich aus google maps heraus gesucht habe. Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass ich gerade einmal ein paar Stunden auf dem Frankfurter Flughafen verbracht habe, auf dem Weg nach Tel Aviv.

* Deutschland, aber auch jedes andere fremde Land. Bücher, die geschrieben werden dank Fotos, Filmen, Information aus dem Internet, google earth, kurzen Aufenthalten, Erzählungen von Freunden.

2.- Nullpunkt

* Es gibt eine Kurzgeschichte von Eduardo Berti, die ich hervorragend finde. Sie heißt „La carta vendida“ (Der verkaufte Brief) und spielt an einem Ort mitten im Nichts, in einem wer weiß wo liegenden Kreideabbau. Ich weiß nicht warum, aber ich nehme an, es ist ein lateinamerikanisches Land. Für die Geschichte sind sowohl der Ort als auch die Zeit irrelevant.

* Es ist unmöglich, den realen Schauplatz der Geschichten, die ich von Eduardo Berti gelesen habe, auszumachen. Sie spielen wohl in einem lateinamerikanischen Land, aber in welchem?

* Der argentinische Schriftsteller Marcelo Cohen hat einen Kontinent erschaffen: Das Panoramadelta. Und er verortet außerdem jede seiner Geschichten auf einer der von ihm erfundenen Inseln. Marcelo Cohen hat einmal gesagt, dass jeder Schriftsteller sich gut überlegt, in welchem Raum sich seine Figuren bewegen, aber dass dieses Thema bei den außerhalb ihres Heimatlands lebenden Schriftstellern zur Obsession wird.

* Gibt es eine Literatur, die nirgends verortet ist und die überall gelesen werden möchte? Eine Literatur, die sich mundialisieren möchte, die sich von hier nach dort bewegt, die heimatlos ist? Oder ist es eher so, dass die Zirkulation von Menschen, Essen, Stilen, Wiederholungen, Flughäfen dazu führt, dass die schreibende Person vom einem Ort aus schreibt, der vom Globalen durchkreuzt wird, weil auch seine Identität vom Globalen durchkreuzt ist?

3.- Todorov und ich

* Todorov meinte, dass die Globalisierung für die Literatur wunderbar sei. Er bezog sich dabei auf genau diese Möglichkeit, alles zu lesen, ohne sich vom Fleck zu bewegen.

Ich würde es nicht wunderbar nennen, aber ich glaube schon, dass für diejenigen, die unter freiem Himmel schreiben – nomadische Schriftsteller mit diskontinuierlichen Identitäten – die Mundialisierung der Kultur der einzig mögliche Ozean ist. Wunderbar? Ich weiß nicht.

Übersetzung: Anne Becker

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Entbindung http://superdemokraticos.com/themen/burger/entbindung/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/entbindung/#comments Fri, 03 Sep 2010 06:45:23 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1484 Mein Leben unterteilt sich, so wie das vieler Mütter – ich werde nichts Neues sagen – in eine Zeit vor und eine Zeit nach diesem himmlischen Augenblick, in dem ich mich in ein Meer aus Schreien, Blut, Plazenta, Exkrementen und Leben verwandelt sah. Jener Augenblick nach dem extremen Schmerz, in dem eine fröhliche Hebamme mir ein kleines, wabbeliges Ding an die Brust drückte, eine kleine warme und blaue Kugel, das nach meinem Körperinneren roch und einen großen Mund öffnete, um mit vollster Kraft dieser jüngst eingeweihten Lungen zu weinen. Sinead O’Connor – eine andere Frau, die verrückt geworden ist, als sie Mutter wurde – singt in einem alten und denkwürdigen Lied, dass alle Neugeborenen bei der Geburt den Namen von Gott schreien. Das kann ich doppelt bezeugen. Zunächst einmal für einen Februarnachmittag und dann für die ersten Morgenstunden eines Tags im November: Meine beiden Kinder, meine beiden nagelneuen und warmen Fleischkugeln, schrieen bei ihrer Geburt mit all der Kraft des beginnenden Lebens, mit all der Angst, die das Zur-Welt-Kommen bedeuten muss, Gottes Namen. Die Angst, an einem wer weiß wo befindlichen Ort das Licht zu erblicken, die Angst, wer weiß wofür hier her gekommen zu sein. Und dann schrieen sie mit der selben Kraft die ersten Monate so weiter. Laut Sinead O’Connor schreien Babys nach der Geburt weiter, weil sie sich nicht mehr an den Namen von Gott erinnern können. Sie wird wohl keine Expertin in Kinderheilkunde sein, aber ich glaube ihr. Ich habe nächtelang Babys getröstet, ohne ein Auge zuzudrücken. Mit der Kraft einer Flugabwehrsirene schrieen meine Babys der Welt entgegen, dass sie Hunger, Schmerzen, Angst hätten, dass ihnen kalt sei. Ich verbrachte Nächte damit, ihnen die Brust zu geben und ihren endlosen Hunger zu stillen, der ein Hunger nach etwas anderem zu sein schien. In jeder dieser durchgemachten Nächte entfernte ich mich von mir selbst. Ich entband mich.

Mein Leben unterteilt sich, so wie das vieler Mütter – ich werde, ich wiederhole, nichts Neues sagen – in eine Zeit vor und eine Zeit nach diesem Augenblick, in dem ich das Leuchten dieser Äuglein erblickte. Seitdem erscheint mir jede andere Sache zweitrangig. Ich bin ein besserer Mensch seit diesem Augenblick. Ich bin die Tochter meiner Kinder, weil ich an dem Tag, an dem sie geboren wurden, auch neu geboren wurde und nun miteinander verbunden die Kindheit durchschreiten.

Glücklich darüber, zu bestimmten Spielen zurückzukehren, aber mit der inneren Unruhe, bestimmte Ängste neu zu durchleben. Ich bin ein besserer Mensch, aber dennoch würde ich zum Wohl meiner Kinder ohne Gewissensbisse lügen und töten. Es gefällt mir, in mir kriminelle Gedanken zum Wohl meiner Kinder zu entdecken. Weit entfernt davon, mich schuldig zu fühlen, fühle ich mich vielmehr stark. Ich würde alles ausmerzen, was eine Gefahr für meine Kinder darstellt, angefangen bei kleinen Insekten, über Ekel erregende Kreaturen, aber auch vor menschlichen Wesen würde ich nicht zurückschrecken. Ich bin ein besserer Mensch in einem Sinne jenseits von Gut und Böse.

Ich bin kein Individuum mehr, ich bin nicht unteilbar: Seit diesem Moment der Entbindung bin ich entzweit, ich habe mehrere Herzen, die zur selben Zeit schlagen. Ich bin von keinem Ort, von keinem Vaterland, von keiner Fahne eine Bürgerin. Ich lebe im Dienste zweier kleiner Prinzen von einem anderen Stern, winzige und erhabene Asteroiden. Ich singe ihre Bonbon-Hymnen, ich stehe stramm vor ihren mit Wachsmalstiften gemalten Fahnen, ich glaube an ihre Erzählungen, ich koche ihre Lieblingsgerichte, ich lese ihnen Geschichten und noch mehr Geschichten vor. Man sagt, die Mutter sei die Heimat, aber ich würde den Ausspruch gerne umkehren: Meine Kinder sind meine Heimat. Für ihre kleine Lächeln verpflichte ich mich der waghalsigsten aller Armeen. Es heißt, die Mutter sei die Sprache, aber das ist eine Lüge. Die Sprache, die wir sprechen, trägt die Züge ihrer Atmungen.

Ich bin eine mangelhafte Bürgerin: Statt an Gesetze oder Kollektive zu denken, verbringe ich Stunden damit, schlafende Königinnen oder englische Küken zu spielen. Statt die Zeitung zu lesen, verbringe ich Stunden damit, mir Blödsinn mit meinen Kindern auszudenken: Wenn wir einen Papagei in diesem Haus hätten, was würde der sagen… und alle möglichen Dinge ohne größeren Nutzen, weil wir keinen Papagei haben oder weil die Papageien auf dieser Seite der Welt weniger sprechen als die aus den Tropen.

Ich besitze keine Autonomie, ich bin nicht EINS: Ich habe nicht all die Zeit, die gern hätte, zum Schreiben, ich kann nicht länger arbeiten oder am Sonntag ausschlafen, da zwei kleine Münder mich einfordern. Ich entferne mich von meinem Ego, das ja. Die Entbindung ist auch die Entbindung von einem selbst, bedeutet, jenseits des Egos zu leben, aufzubrechen, sich zu entflechten, die Nabelschau aufzugeben, sich in mehr als zwei Hälften aufzuteilen. Ich weiß, dass meine Kinder eines Tages weggehen werden, und ich wieder allein mit mir selbst zurückbleiben und jeden Morgen ausschlafen werde, aber ich weiß auch, dass ich dann eine andere sein werde. Ich werde niemals mehr die sein, die ich gewesen bin. Ich werden immer entzweit sein.

Ich will nicht lügen: Es gibt auch die Literatur, die Liebe, das Leben, das Überleben. Aber in der Stunde der Wahrheit, sind das einzige, was zählt, diese beiden Paar Äuglein. Danach erst kommt alles weitere, einschließlich mir selbst.

Übersetzung: Anne Becker

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Leiser Komplott http://superdemokraticos.com/themen/burger/espanol-el-complot-silencioso/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/espanol-el-complot-silencioso/#comments Fri, 27 Aug 2010 15:47:39 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1313
Ich praktiziere einen einsamen Aktivismus: Ich treffe mich mit anderen, um Bücher zu verlegen. Getrieben von der unschuldigen Perversion, das Buch als ein quasi magisches Objekt zu betrachten, habe ich mich mit ein paar weiteren Personen fast aus Zufall zusammengetan und damit begonnen, der Kulturindustrie ein wenig von dem verdorbenen, verführerischen Aberglauben zurückzugeben, der uns in unserer Kindheit eingeimpft wurde. Leute mit unterschiedlichen ästhetischen Auffassungen, verschiedenen Geschmäckern und Lektüren, die sich in einem unbesiegbaren literarischen Kampfgeist vereinen. Ein Miniaturheer, das bereit ist, aufs Ganze zu gehen, ohne viel zu erwarten. Alles wegen eines Objekts aus Papier.

Dieses scheinbar bedeutungslose Ding, das Buch heißt, ist für mich (und für die halbwegs verrückte Truppe) von großer Bedeutung. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die glaubt, dass man durch die Lektüre eines Buch jede Erfahrung vorweg machen kann: vom Bau einer Bombe bis zu den unergründlichen Mysterien der Liebe über den Fischfang und die Entdeckung von bisher unbekannten Orten in einem selbst. Ich habe mich für alle möglichen Verrichtungen der Bücher bedient, einschließlich für den Gesetzesbruch (klar, Bücher habe ich auch geklaut, was für eine Frage). Der Einfluss, den die Lektüre eines Buches auf das Leben von jemanden haben kann, ist unermesslich: Ich habe die rebellische Seite der Politik durch underground fanzines entdeckt, die ich in meiner Jugend in den 90ern (des vergangenen Jahrhunderts!) gelesen habe. Für mich charakterisiert das Prä-Internet, das Netz unplugged, jene Epoche des Austauschs und der Entdeckungen. Seit damals habe ich begonnen, an dem zu zweifeln, was für normal oder natürlich gehalten wird, seit damals habe ich das Gefühl, dass alles einen anderen Sinn hat.

In einem Land, in dem die Analphabetenrate extrem hoch ist (man muss abwarten, wie die jetzige Alphabetisierungskampagne vorankommt), das intellektuelle Leben wenig Tradition hat und für die große Mehrheit der Bevölkerung Bücher unerschwinglich sind, haben mich in meiner Arbeit drei Personen sehr inspiriert: Franco (ein reiselustiger Anarchist, der in einer Stadt ohne Buchläden Raubkopien von Klassikern und avantgardistischer Literatur anfertigte), Marcelo (jemand, der auf die harte Tour lernen musste, dass nicht nur „das Schöne“ zählt, sondern auch so prosaische Dinge wie der Markt) und Alison (eine promovierte Anthropologin mit einem exquisiten, freakigen Literaturgeschmack, die ihre eigenen Werke verlegt hat  – und die zu den besten meines Landes gehören – und die von weiteren mit Feder und Faust zur Randexistenz Verdammten). Von Nahem zu sehen, wie diese drei durch Widrigkeiten hindurch surften, brachte mich dazu, meinen eigenen Weg in der Welt der Verlage einzuschlagen. Eine Welt, in der die Autoren sich über den Mangel an Aufmerksamkeit und Privilegien seitens der Verleger und über die geringe Anzahl guter Lektoren und scharfsinniger Kritiker beklagen, eine Welt, in der die Verleger sich über den nachlässigen Umgang der Grafiker mit der Rechtschreibung und über die schonungslose Logik des Größenvorteils der Druckereien beschweren, eine Welt, in der die Drucker über die Schikanen der Papierlieferanten jammern, etc. Anstatt in diesem Beschwerdezirkel zu verbleiben, beschlossen wir, unsere Kontingenz mit Hoffnung und Dankbarkeit anzunehmen.

Im Mai 2008 habe ich mich mit anderen zusammen geschlossen, um unseren Narzissmen großzügiger zu dienen und Bücher zu verlegen (bisher ein Gedichtsband, drei Bücher mit Erzählungen und eine Anthologie lateinamerikanischer Literatur) und ein Blog zu betreiben, mit dem Ziel den Prozess zu rationalisieren. Wir wollen einen fehlerlosen und repräsentativen Katalog schaffen: Wir bewundern alle den Fetisch des „Neuen“. Manchmal ist es sehr schwer, und wir haben das Gefühl, alles sei verloren. Aber dann erinnern wir uns wieder daran, dass wir unser Schicksal auf uns nehmen. Wenn es einfach wäre, wäre es witzlos.

Übersetzung: Anne Becker

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Kubanische Transition http://superdemokraticos.com/themen/burger/kubanische-transition/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/kubanische-transition/#comments Wed, 25 Aug 2010 07:04:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1099 Kuba befindet sich in der Transition. Radikale Transformationen im Modus Operandi der Politik der Kubanischen Revolution. Raúl Castro, Präsident des Staats- und Ministerrat, stellte in seiner Rede zum Abschluss der Legislaturperiode der Asamblea Nacional del Poder popular (Nationalversammlung der Volksmacht) einige seiner Reformpläne vor. Um den Ton seiner Vision eines anderen Kubas zu markieren, ersetzte er am Ende seiner Rede das übliche Patria o Muerte: Venceremos (Vaterland oder Tod: Wir werden siegen) durch eine knappe Danksagung an das Publikum.“

Das war der erste Absatz eines verworfenen Entwurfs für einen Konferenzvortrag vor einem hauptsächlich nordamerikanischen Publikum beim Avant Writing Symposium der Ohio State University im August 2010. Wie soll man Kuba in 30 Minuten erklären? Während ich schrieb, versuchte ich, die offensichtliche Antworte beiseite zu schieben, die erste die einem in den Sinn kommt: unmöglich.

Mein Vortrag ist über Literatur. Aber was kann man über Kuba in welchem Bereich auch immer sagen, ohne über Politik zu sprechen? Ich kehrte noch einmal zu meinem Entwurf zurück. Es musste doch möglich sein, ich würde es erneut versuchen. Hier ist der neue Entwurf:

„Seit den 70er Jahren kann man sehr genau den Widerstreit zwischen der offiziellen kubanischen Kultur, die in den Medien und im öffentlichen Raum gezeigt werden darf, und den kulturellen Bewegungen, die sich weigern, sich an offizielle Vorgaben zu halten oder die nur vorgeben, sich daran zu halten, und von der revolutionären Kulturpolitik zurückgewiesen werden, erkennen.  In diesem Zusammenhang möchte ich auf einige alternative Initiativen eingehen, wie etwa auf die Cátedra de Arte conducta (Lehrstuhl für Verhaltenskunst) von Tania Brugueras, das Projekt Contexto (Kontext) von Desiderio Navarro, die unabhängige Galerie Aglutinador Laboratorio (Labor Bindemittel) von Sandra Ceballos und das neuere Gegenstück namens Xoho des jungen Rubén Cruces, so wie das Kollektiv OMNI Zona Franca (Freie Zone), das von den staatlichen Behörden geschlossen wurde, als es sich zu einem öffentlichen kulturellen Raum entwickelte.“

Ich halte die Finger auf meiner Tastatur an. Zweifel überkommen mich. Vermittelt der Ausspruch „intervenido por las autoridades“ (von staatlichen Behörden geschlossen) einen Polizeieinsatz  im Stil offizieller Absperrungen mit Polizeikette, Uniformen und schwerem Geschoss? Ich glaube nicht … Man müsste genauer werden, oder vielleicht, die Bilder zeigen. Und letzten Endes: Was würde es bringen? Die Fotos, wenn auch beeindruckend, sagen nichts über die Gründe. Ausländern muss man stets eine lange, sehr lange Geschichte erzählen, um ihnen den „Fall Kuba“ verständlich zu machen, oder genauer gesagt, um ihn wenigstens oberflächlich zu veranschaulichen. Das Gegenteil kommt vor, ist aber sehr selten. In der Mehrzahl merkt man, wenn man Ausländer befragt, dass sie rein gar nichts verstehen.

Ich gebe auf. Ich trinke einen Schluck Tee. Ein Schluck Tee kann immer Wunder der Veränderung bewirken, zumindest im Magen, der letztendlich eine der Hauptzonen jeglichen kulturellen Lernens darstellt. Ich tippe weiter in die Tasten, und ich lasse es zu, dass die erhofften Schlussfolgerungen fließen:

„Die Spannungen haben derzeit auf der Insel zugenommen. Wir finden heute im kubanischen Panorama selbst gebastelte Aufnahmestudios in Privathäusern, unabhängige Produktionsfirmen, die jungen oder herangehenden Künstlern illegal ihre Dienstleistungen anbieten.“

Das klingt gut, zumindest gibt es Hoffnung. Muss ich sagen, dass ich zu jenen jungen Menschen auf Kuba gehöre, die in ihrer Arbeit und ihrem Leben von der Hoffnung motiviert sind? Nein, lassen wir sie … Zu erklären, worin diese Hoffnung besteht, wäre blöder. Gehen wir über zur Schlussfolgerung.

So sieht’s aus, mein letzter Schluck. Der Tee ist kalt geworden. Ich muss noch einen machen. Ich lese meine Zeilen noch einmal, bevor ich mich von meinem Stuhl erhebe. Was für ein Vorträgchen. Transition, politischer Konflikt vs. Gesten alternativer Kultur, Hoffnung … Was für ein Blödsinn. Ich lösche alles und fahre den Computer herunter. Ich werde ein wenig schlafen. Es ist zwei Uhr nachts, und obwohl der Konferenztermin naht, schiebe ich das Schreiben meines Vortrags um einen weiteren Tag auf.

Übersetzung: Anne Becker

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http://superdemokraticos.com/themen/burger/pointpointpoint/ Thu, 19 Aug 2010 18:27:18 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=936 Das aktuelle Thema des Blogs ist die Frage, welcher dieser Aspekte das eigene Leben bestimmt: „Arbeit, Familie, Aktivismus, Mitbestimmung, Musik, Literatur, Bildung…“ Es wäre nicht sehr schwer, die Vorschläge aufzugreifen, sie in Beziehung zu mir setzen und den Text mit Fakten aus meiner Biographie zu füllen. Ich könnte schreiben, dass ich meine politische Aufgabe darin sehe, ein bisschen mitzuhelfen, den Mantel des Schweigens, der in den vergangenen Jahren immer sorgsamer über die jüngste deutsche Diktatur gelegt wird, nicht noch glattzustreichen, sondern ihn hier und da wieder zu lupfen. Ich könnte darauf verweisen, dass ich in meinen Texten und bei öffentlichen Auftritten stets bemüht bin, klare Worte zu finden für das rigide kommunistische Regime, dem wir ausgeliefert waren, und niemals so tue, als sei, was nach 1945 in Osteuropa geschah nur ein missglückter, aber letztlich harmloser Weltverbesserungsversuch, über den man mittlerweile doch einfach hinwegsehen sollte.

Ich könnte schreiben, dass meine Familie und Freunde das Wichtigste in meinem Leben sind, weil nichts auch nur ansatzweise solche Bedeutung hat, wie andere Menschen zu lieben und von ihnen geliebt zu werden (in allen Facetten, die das menschliche Herz hierfür bereit hält).

Ich könnte von dem Schulstipendium erzählen, das ich einem vietnamesischen Mädchen finanziere oder davon, warum es mir wichtig war, einen Stolperstein zu spenden, obwohl ich keine Ahnung habe, wovon ich im nächsten Jahr eigentlich meine Miete zahlen soll.

Ich könnte erklären, dass ich Bildung für ein kostbares Privileg halte, das man würdigen und nie achtlos hinschmeißen sollte, weil es (wie meine Großmutter immer gesagt hat) der einzige Besitz des Menschen ist, denn dir niemand je wieder wird nehmen können.

Ich könnte über die Kraft der Literatur reden und davon, wie viel Hoffnung in Geschichten steckt.

All diese Antworten würden mich gut aussehen lassen und wären vermutlich genau das, was von einer halbwegs etablierten Autorin erwartet wird. Aber die Wahrheit ist, dass diese Dinge zwar Teil meines Lebens sind, bei der Auswahl „Arbeit, Familie, Aktivismus, Mitbestimmung, Musik, Literatur, Bildung…“ es jedoch die Auslassungspunkte am Ende der Aufzählung sind, die mein Leben am meisten bestimmen.

Seit ich vom Schreiben lebe, vermeide ich, Fremden zu erzählen, was ich beruflich tue. Ich bin durchaus eitel, was mein Schaffen betrifft und kann sehr gekränkt sein, wenn jemand meine Bücher nicht schätzt, aber darum geht es hier nicht. Es geht um das verträumt-romantische Lächeln, das sich auf das Gesicht der meisten Leute legt, wenn sie hören, dass ich Schriftstellerin bin. Manche stützen sogar ihr Kinn in die Handfläche und seufzen begeistert. – Ich bin es leid, anderen zu erklären, wie bleischwer Schreiben in Wirklichkeit ist. Dass es einsam, erschöpfend und quälend ist. Dass man den allergrößten Teil seiner Zeit nicht inspiriert und gut gelaunt in die Tastatur haut, sondern verzweifelt mit sich ringt: um Disziplin, um Struktur, um Sinn. Aber vor allem um Mut. Den Mut, die eigenen Gedanken nicht für dumm zu halten und sich selbst nicht für vermessen. Vertrauen zu finden in das, was man tut, sich jeden Tag gegen die Selbstzerfleischung zu wehren, sich nicht hilflos der Prokrastination zu ergeben, hat mit Lust oder Spaß wenig zu tun. Es ist harte Arbeit. Vielleicht die eigentliche Arbeit eines Schriftstellers.

Dieser Kampf mit Zweifeln, Schwäche und Angst ist es, was mein Leben wirklich bestimmt. Manchmal ist es kaum auszuhalten. Etwas anderes zu behaupten, wäre unehrlich.

Aber das kann man ja keinem erzählen…

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Ausscheidungen, Röcheln, Tod http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ausscheidungen-rocheln-tod/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ausscheidungen-rocheln-tod/#comments Wed, 11 Aug 2010 07:17:44 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=601
Deth of Field
Image by Hryck. via Flickr

Nara „Pionierin nationale Avantgarde“ misstönend und wohlklingend, liebt sich und bewaffnet sich „bis auf die Zähne“, sie wiederholt sich: „Ich habe einen Ausbruch/ ich habe eine Nation/ ich habe eine Revolution, wenn ich aus dieser Tür hinaustrete.“.

Jamila Medina. Ich, herrliche Tür: Ansichten einer Poesie mit Zwischenräumen

Revista Desliz 3, Kuba, 2009

Mein Körper ist kein Körper, er ist eine überinterpretierte Einheit, die zu viele Adjektive übrig hat und der zugleich die Fingernägel fehlen. Heute, hier im Westen, hier in Lateinamerika, hier in der Karibik, hier auf dieser Insel und in Havanna, ist ein Körper niemals ein Körper, sondern ein Ensemble von Worten, die Eigenschaften evozieren, aber die mögliche Stimme des Körpers ausschließen. Mit Glück schenkt der tropische Körper im Falle einer visuellen Überraschung ein paar spontane und eloquente Einsilber, die sich am ehesten an das annähern, was man sich unter dem Diskurs des Körpers vorstellen könnte.

Ein Körper ist übermäßig oft schlank, exquisit, leicht, brutal, abgegriffen, makellos und aufdringlich. Ein Körper Nicht-Körper, ist dieses Sprechen ohne Haare, Zähne und Flüssigkeiten. Während die Stadt sich immer häufiger in vitalen, organischen Metaphern erzählt, als sei sie ein Lebewesen, bleibt der Körper sich selbst blind. Die Glokalität buchstabiert sich wie ein Körper: Hier werden Informations„flüsse“ ausgetauscht, hier „zirkulieren“ Autos auf den Straßen, während sich zum Beispiel das Kapital aus dem Agrobusiness in Sinaloa „in den Händen des Drogenhandels“ befindet.  Die Stadt humanisiert sich, aber der Körper ist dennoch nicht da. Was ist letztlich das Menschliche? Müsst man diesen Begriff nicht genauso mit körperlicher Materie – man lese Schwindel, Röcheln und Ausscheidungen – auffüllen?

Also, versuchen wir, es einfach mal zu sagen: Das Wort zivil verlangt ein Individuum, das nicht vor seinem Körper davon rennt, sondern versteht, mit seinem Tod einen einsamen Dialog zu führen. Mit einem Körpers zu leben bedeutet auch, die Gewissheit eines nahe bevorstehenden Todes zu ertragen. Und ja, die Stammzellen machen Hoffnung. Aber wer möchte wahrhaftig die Unsterblichkeit? Und noch besser: Wer kann mit ihr leben?

Übersetzung: Anne Becker

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