Lesen – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Weshalb ich hergekommen bin? http://superdemokraticos.com/laender/mexiko/weshalb-ich-her-gekommen-bin/ Thu, 08 Dec 2011 18:20:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6220 Parodie auf die Pressekonferenz auf der FIL Guadalajara mit dem mexikanischen Präsidentschaftskandidaten Enrique Peña Nieto der derzeitigen Oppositionspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI), in der er von dem spanischen Journalisten Jacobo García gefragt wurde, welche Bücher er gelesen habe.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=sUMwy7ZolNg[/youtube]
Oh ja, ich lese. Und zwar viel. Genau deshalb gehe ich zu diesen Messen, die auf der ganzen Welt veranstaltet werden, auf denen man, egal, wohin man sich auch dreht, nur Bücher sieht. Und zwar alle, die man sich nur vorstellen kann: riesengroße, ganz kleine, teure (und davon gibt es mehr als genug), billige, gute, schlechte (davon gibt es auch echt viele), welche für Kinder, für Erwachsene, für Frauen, für Betrunkene; sogar für Politiker gibt es Bücher.

Ach, ihr habt ja wirklich keine Ahnung, wie viel ich lese. Wie bitte? Ob ich wirklich viel lese oder nur einen auf Angeber mache? Gar nicht. Ich habe schon so viele, nein, so unendlich viele Bücher in meinem Leben gelesen, dass es ein vollkommener Akt des intellektuellen Zynismus wäre, nur ein paar davon aufzuzählen. Und genau deshalb gehe ich auf diese Messen, die immer wieder gerne von öffentlichen Universitäten organisiert werden, denn nur dort kann ich jene Bücher finden, die ich mag.

Welche Bücher mein Leben bestimmt haben? Naja, zwischen all den Büchern, die ich gelesen habe (und ich habe wirklich extrem viele Bücher gelesen, echt, und vor allem Romane), gibt es schon das ein oder andere, das tatsächlich mein Leben verändert hat. Klar, die Bücher, die ich meine, sind nicht von diesem „ichweißauchnichtmehrwiezumteufelerheißt“, aber „dermiraufjedennichtgefällt“. Nein, ich lese nur Romane, die gut sind.

Da gab es zum Beispiel dieses besondere Buch, ganz genau, das von Themen handelt, die mit dem, was ich mache, zu tun hat. Der Titel? Der Autor? Was ist der Kram, den ich mache? Pass auf, du, dem/der man ja anmerkt, dass du auch viel liest (wenn auch nicht so viel wie ich, selbstverständlich), du kennst bestimmt den Titel des Buches und den Autor. Ich glaube er fängt mit „K“ an, oder mit „M“. Nein, stimmt nicht, mit „E“. Ja gut, ich erinnere mich nicht daran, denn wenn jemand so viel liest wie ich, ist es schwierig, sich an die Namen der Autoren zu erinnern, die das Leben verändert haben; gar nicht davon zu reden, wenn es darum geht, sich an die Titel der Bücher zu erinnern, die ein guter Leser, wie ich es bin, immer mit sich herumträgt, „dortwoichauchdenrestvondemkramaufbewahre“.

Wie, ich hab nun immer noch nicht darauf geantwortet, was zum Teufel ich hier mache? Naja, also, so einiges; eines der Dinge ist lesen, natürlich. Und zwar echt viel. Wozu sollte ein Mensch, der so belesen und schreibend und anerkannt und noch viel mehr ist, wie ich, zu solchen Veranstaltungen kommen?

Also, was nun mein Lieblingsbuch ist? Na das, das „Die Jugendlichen von irgendwas“ heißt oder „Die Ekstase von Weißdergeier“, das ist großartig, von diesem Mann, sehr berühmt, auf jeden Fall, ein „Keine Ahnung Sánchez“, oder „Irgendein Fuentes“ oder so ähnlich, etwa so, nahe dran, dementsprechend; in die Richtung geht es halt. Ganz genau, deshalb komme ich hier her, haargenau deshalb und freiwillig, auf diese Messen, bei denen man übrigens die Gelegenheit nützt, um zwei-drei Bücher mitgehen zu lassen und sich damit zwei-dreihundert Pesos zu sparen. Schon oder? Denn die Situation ist nicht einfach. Und wer würde das besser wissen als ich, der ich doch so viel lese…

El de la Pinche Lastra/2011

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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„Sitzt nicht so viel vorm Computador!“ http://superdemokraticos.com/laender/kolumbien/sitzt-nicht-so-viel-vorm-computador/ http://superdemokraticos.com/laender/kolumbien/sitzt-nicht-so-viel-vorm-computador/#comments Wed, 16 Nov 2011 17:15:34 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5817 Porträt der österreichisch-jüdischen Buchhändlerin Lilly Ungar, die die älteste mehrsprachige Buchhandlung Bogotás betreibt, die Librería Central.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=Hgdypj5UUb0[/youtube]

Lilly Ungar lässt es sich nicht nehmen: Jeden Morgen um 9.30 Uhr ist sie eine der ersten in der Librería Central im Norden von Bogotá, Calle 94, # 13-92. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch, der an einer Wand zwischen der internationalen und der lateinamerikanischen Literatur steht, dort empfängt sie Gäste, Freunde, Mitarbeiter, Journalisten, aber auch Telefonate. Sie gibt Bestellungen auf, bespricht die Anordnung der Bücher in den Schaufenstern. „Ich kann nicht mehr 24 Stunden am Tag lesen, meine Augen sind nicht mehr so gut“, erklärt sie lächelnd. Sie durchforstet die Kataloge, die nationalen und internationalen Zeitschriften, bestellt aus Deutschland, den Staaten und Spanien und bei den kolumbianischen Filialen der Verlage aus Mexiko und Spanien.
„Haben wir genug von dem Jobs?“ Das Buch über den Apple-Gründer Steve Jobs werde doch gerade überall besprochen, das sollte auf jeden Fall sichtbar an der Kasse stehen. Die 90-Jährige Buchhändlerin und -liebhaberin, die vor 60 Jahren mit ihrem vor ein paar Jahren verstorbenen Mann Hans Ungar die erste Buchhandlung in Bogotá gründete, wie sie sagt, „sein Hobby und sein Glück“, spricht freundlich, aber bestimmt. Sie ist die Chefin hier über spanische, englische und deutsche Bücher. Und sie ärgert sich maßlos darüber, dass das lokale Goethe-Institut seine Bibliothek einfach auflöste, aus Platzgründen. „Wie soll man denn ohne Bücher eine Sprache lernen?“

Das Ehepaar Ungar leistete wie kein anderes einen Beitrag zur Kulturszene der Stadt: Es eröffnete die erste Galerie, die sich der zeitgenössischen kolumbianischen Kunst widmet und unter anderem die ersten Ausstellungen von Fernando Botero oder Alejandro Obregon organisierte; Hans Ungar machte sich einen Namen mit anthropologischen Reisen in unerschlossene Gebiete des Landes.
Während eine Mitarbeiterin uns Kräutertee serviert, nehme ich auf einem Ledersessel Platz, blicke auf Familienfotos an der Wand, eine volle Ablage und auf eine elegante Dame im Wollpulli mit Perlenketten, die ein singendes Wienerisch spricht, das gespickt ist von Spanizismen. „Zu Hause haben wir eine Bibliothek von 26.000 Bänden, die vier Zimmer füllen. In vier Sprachen, was einmal ein Problem für unsere Erben sein wird, die alle kleine Apartementos haben.“

1939 floh Lilly Ungar mit ihrer Schwester und ihrem Vater „aus politischen und rassischen Gründen“ gerade noch rechtzeitig aus Österreich, im September, als der Krieg ausbrach. Auf dem Schiff nach Kolumbien lernten die Geschwister aus einem Buch Spanisch, Lilly Ungar war noch keine 18 Jahre alt, jede Person durfte nur 25 Dollar mitnehmen. Zunächst lebten sie ein Jahr in Medellín, wo der Bruder schon einen Posten hatte. Als er dann einen besseren in Bogotá fand, zogen alle mit ihm um. Dort lernte Lilly ihren Mann Hans kennen. „Trotz allem, was passiert ist, reisten wir später einmal im Jahr nach Wien, wir hatten doch viele Freunde dort. Heute sind nicht mehr viele übrig“, berichtet sie leise.

Aus Lilly Ungar spricht eine selbstverständliche Kultiviertheit. Gerade habe sie wieder Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ wiedergelesen und es ganz anders verstanden als früher. Das Buch steht in spanischer Übersetzung an der Kasse – neben Jobs und neben dem aktuellen gefeierten Roman „Tres ataúdes blancos“ ihres Sohnes Antonio Ungar, der in Palästina lebt, einem Politthriller über das fiktive Land Miranda, das nicht nur zufällig Kolumbien ähnelt.

Mit einem unerschütterlichen Glauben hat Doña Ungar zeitlebens die Literatur verteidigt. Doch nun sieht sie eine aktuelle Bedrohung: „Der Computador ist ein großer Schaden für alle Buchhandlungen. In Paris haben 35 Prozent der kleinen Buchhandlungen schon zugesperrt.“ Daher wünscht sie sich, dass „die Leute mehr lesen und weiter Bücher kaufen, und nicht nur am Computador sitzen. Wir als Kinder waren glücklich, wenn man uns Bücher geschenkt hat.“ Zum Abschied schenkt sie mir zwei Bonbons, und den Rat, mich in Ruhe unter den 35.000 Büchern des Ladens umzuschauen. „Lassen Sie Ihre Tasche hier bei mir unter dem Schreibtisch, das ist der sicherste Ort.“

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„Weder bin ich ein Star, noch seid ihr nur das Publikum“: Interviews mit Fabián Casas http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/espanol-ni-soy-una-estrella-ni-vos-sos-solo-el-publico-entrevista-con-fabian-casas/ Mon, 11 Oct 2010 12:54:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2835

Fabián Casas wurde 1965 in Buenos Aires geboren. Er avancierte zu einem Vorbild der neuen Schriftstellergeneration für sein Land und für ganz Lateinamerika. 2007 wurde er in Deutschland mit dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Auf der Frankfurter Buchmesse stellte Casas seinen Gedichtband Mitten in der Nacht und seine zwei Erzählungen Lob der Trägheit gefolgt von Die Panikveteranen vor. Zwei Interviews.

Wie definierst du einen Intellektuellen?

Jeder Mensch, der mit Ideen arbeitet, ist ein Intellektueller. Mir gefällt es, wenn es Überschneidungen zwischen den Dingen gibt, dass die Menschen, die mit Ideen arbeiten, mit dem Leben verbunden sind. In diesem Sinne sind die Intellektuellen, für die ich mich interessiere, Menschen, die mit dem Leben arbeiten. Schopenhauer sagte einmal, dass man einer Philosophie, bei der man nicht das Zähneknirschen zwischen den Seiten hört, nicht vertrauen kann. Und ich denke, er hat recht. Hegel, um bei den Deutschen zu bleiben, erscheint mir dagegen viel verkopfter und wenig lebhaft. In der Zeit, in der sie unterrichtet haben, war der Hörsaal von Hegel voll, der von Schopenhauer hingegen leer. Ich glaube, das lag daran, dass Schopenhauer die Dinge sagte, die niemand hören wollte.

Ein Rat für junge Intellektuelle?

Ich denke, wenn eine Person aus Lateinamerika ihre Ideen verbreiten, schreiben will oder ihre Fähigkeit der Wahrnehmung ausdrücken will, muss sie diese Dinge schnell machen. Man muss Liebe für sein Schicksal empfinden, darf nicht denken, dass das Leben einem etwas schuldet, sondern den Stier bei den Hörnern packen und etwas machen, die technischen Hilfsmittel schaffen, mit denen man sich Gehör verschaffen kann. Man muss begreifen, dass die Literatur nicht etwas Individuelles, sondern etwas Kollektives ist, du muss dich mit anderen Menschen zusammentun, damit deine Botschaft ankommt. Denn genau diese Zusammenarbeit mit anderen führt dazu, dass man sich von seiner eigenen Botschaft, von seinem Ego entfernt, und das macht alles viel interessanter, weil es wie eine fremde Stimme zurückkommt.

Du schreibst Lyrik und Prosa, aber auch Essays. Was ist für dich das Besondere an diesem Format?

In meinem Fall sind die Essays eine Möglichkeit für Experimente. Der Versuch, bestimmte Gedankengänge auszugrenzen und die Möglichkeit zu akzeptieren, dass in einem Essay antagonistische Ideen nebeneinander existieren können, eine Idee in parallelen Gedankengängen zu suchen, die gleichzeitig gegenteilige Dinge aussagen können. Das ist eine Art anzuerkennen, dass man Fehler macht, dass man sich irrt und dass man es erneut versuchen kann, eine Idee, einen Satz herumschweifen zu lassen, ohne den Druck, einen abschließenden Punkt setzen zu müssen. Man muss diese Idee, Endpunkte an Dinge zu setzen, sie abzuschließen, aufgeben. Denn wenn man aufhört zu lernen, ist man tot.

Ich denke dabei nicht an „Denker“. Cesar Vallejo ist für mich ein außergewöhnlicher Poet. In vielen seiner Gedichte finden sich Reflektionen über die Gesellschaft, in der wir gerade leben und über die, in der er leben musste. Wenn ich lese, konzentriere ich mich nicht auf Essayisten, ich lese alles, verschiedenen Schriftsteller aus ihren entsprechenden Genren, die für mich ebenfalls Essayisten sind, sogar einige Musiker kommen mir wie Essayisten vor. In meinem Land gibt es eine echt interessante Bewegung von neuen Rockbands, an denen mir besonders gefällt, dass sie sich nicht ernst nehmen. Sie sind sehr cool und entspannt, und sie brachen mit dieser vorherrschenden Einstellung, die ich schrecklich finde, mit diesem: „Ich bin der Star und ihr seid das Publikum.“ Das sind Leute, die wissen, das sie es sind, die spielen, aber dass man auch von einem Moment auf den anderen auf der anderen Seite stehen kann. Sie geben sich gegenseitig etwas, Publikum und Band, ein komplettes Feedback. Das Label heißt Laptra und kommt aus La Plata, die haben mich animiert Musik zu hören, die haben mir gute Laune gemacht, die sind erfrischend.

Was bedeutet dir Demokratie?

Unter all den Systemen, die es geben könnte, interessiert mich am meisten die Demokratie. Es scheint mir das System zu sein, in dem man am besten leben kann. Betrachtet man seine Idealform, müsste es wohl ein Raum sein, in dem alle Menschen alle Möglichkeiten hätten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, man müsste nicht aufgrund von Unterdrückung und ähnlichen Dingen Entscheidungen treffen. Ich würde gern Demokratie wie einen idealen Raum denken, in dem es allen möglich ist, zu denken, eine Stimme zu haben und eine Stimme abgeben zu können, mit der man etwas bewirken kann.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Mäuschen in der Säule http://superdemokraticos.com/themen/burger/mauschen-in-der-saule/ Mon, 11 Oct 2010 08:56:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2857

Dieser Text ist der Mäusefamilie gewidmet, die an der Hauptwache in Frankfurt in einer Säule lebt, mit etwa 14 Mäuschen-Kinderchen. Hektische und putzige Nachtarbeiter im Kollektiv. Dieser Text ist folglich den Diminutiven gewidmet, die Zaubertricks gegen Superlativen.

Dieser Text ist auch der Sprache gewidmet, mit der ich in den vergangenen Tagen kommuniziert habe, die mich unter spanischsprachigen Freunden in eine mir manchmal unangenehme Fremdheit trägt, weil ich die Sprache eher zufällig durchs Leben, nicht in der Schule gelernt habe. Ich nenne diese Sprache „espanol falso“, Falschpanisch. Das ist die pseudomigrantische Währung, die ich unter der Zunge trage.

Frische Äpfel von meinem Brandenburger Bauern, Notizblock, Kamera, ansonsten eine leere Tasche. Dies war nicht meine erste Frankfurter Buchmesse, sondern meine fünfte. Ich fühlte mich vorbereitet. Aber dann kam, als ich die unendlichen Regale sah, eine neue Angst über mich, eine Angst, die ich bisher noch nicht erlebt hatte und die vielleicht mit meiner Rolle als Superdemokratin zu tun hatte: Wer soll das lesen? Ich nicht, niemals. Und selbst, wenn ich eine wohlüberlegte Auswahl träfe, wann könnte ich dann noch schreiben, geschweige denn handeln? Der Teufelskreis der Leser-Schreiber-Bürger lähmte mich zunächst.

Aber zum Glück traf ich viele andere Leser-Schreiber-Bürger auf Gängen, an Ständen, auf Parties, Menschen, die Bücher lieben und klauen und ihre ganz privaten guten Bücher, diese kleinen Geistesbomben, weitertragen oder selbst gestalten, wie die unermüdlichen Eloisa Cartoneras. Die Bomben-Metapher ist geklaut; der unabhängige argentinische Verlag Clase Turista hat bereits ein Buch mit Zündkabel gestaltet.

Ich, als Säulenmensch. Foto: Viktor Nübel

Unabhängige Verlage, ob in Argentinien oder in Deutschland, stellen unter vollem Einsatz ihrer Person und Persönlichkeit solche relevanten Kunstobjekte her, intellektuelle Eingreiftruppen auf dem oft doch sehr gleichgeschalteten Markt. Sie treffen „Entscheidungen für die Zukunft“, wie es Sergio Parra, vom chilenischen Verlag Metales Pesados ausdrückte. Ich fühle mich schon ein wenig heuchlerisch, das jetzt auf ein Blog zu schreiben, aber die „literarische politische Theorie“, die alle Autoren von Los Superdemokraticos in den vergangenen vier Monaten virtuell entwickelt haben, soll es auch in ein paar Monaten gedruckt geben. Wir gehen einfach mal rückwärts: erst online, dann offline. Erst digital vernetzen, dann physisch verbreiten.

Bei der Präsentation des „2010 Ranking of the Global Publishing Industry“ hörte ich mir an, was die großen Konzerne in der Zukunft vorhaben. Trotz der Finanzkrise geht es, so erfahre ich, der Verlagsbranche nicht allzu schlecht, denn die digitalen Märkte boomen, ob in den USA, Spanien oder Deutschland – wie ist das in Lateinamerika?? Die Verlage machen keinen Unterschied mehr zwischen digitalen und, wie sie sagen, „physischen“ Büchern, einzig die Vermarktungswege wären unterschiedlich, hier kommt es auf die Vertriebswege an, aber auch um Zusatzservices wie Empfehlungen, nicht nur nach Algorhythmen. Aha, sag ich da, es geht um menschlichen Austausch. Carolyn Reidy vom US-amerikanischen Großverlag Simon & Schuster macht bei dieser Veranstaltung die poetischste Aussage: „Es werden sich neue Ebookformate entwickeln, aber wir haben sie noch nicht entdeckt. Das macht die nächste Generation, sie haben andere Gehirne als wir.“ Das kann ich bestätigen. Nach dem Aufstehen lief aus meinem linken Auge eine Wasserspur wie aus einer Tränenmaschine. Als ich in der Apotheke Tropfen kaufen wollte, sagte ich: „Es sieht so aus, als ob ich weine, aber ich weine nicht. Mein Auge macht das einfach so.“ Das kommt bestimmt vom Messeklima. Bücher wie Mäuse sollten auch mehr an die frische Luft!

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Tschandrawati http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/tschandrawati/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/tschandrawati/#comments Mon, 04 Oct 2010 07:00:05 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2443 Mein erstes Buch ist in viele Sprachen übersetzt worden. Manchmal fragen mich deutsche Leser, was Leute im Ausland denn an meinen Geschichten interessiert (jedenfalls an denen, die in oder nach der DDR spielen). Die könnte man dort doch eigentlich gar nicht verstehen. Gelegentlich wurde ich sogar von Ostdeutschen gefragt, ob man jenseits der Elbe überhaupt weiß, wovon ich erzähle…

Meine Antwort ist stets dieselbe: Der Sinn von Literatur ist es ja gerade Menschen eine Geschichte nahezubringen, die diese nicht erlebt haben und deren Zeuge sie deshalb erst im Nachhinein werden können. Egal, wann und wo die Geschichte spielt. Oder anders gesagt: wenn Bücher es nicht schaffen, Menschen in ein fremdes Leben hineinzuziehen und damit ihr Herz zu berühren – dann ist es keine Literatur, sondern nur eine Ansammlung von Wörtern.

Bücher verbinden Menschen. Literatur baut Brücken von Ort zu Ort, von Kultur zu Kultur, von Sprache zu Sprache. Mir fiele kein Band ein, das vielfarbiger und lebendiger die Jahrtausende unserer Existenz durchweht und miteinander verwebt. Nichts gibt es, das Raum und Zeit so mühelos überwinden kann und dabei so wenig altert. Ich glaube, darin liegt die eigentliche Kraft von Literatur.

In meinem ersten Bücherschrank standen Geschichten für Kinder, Märchen und einige altersgerechte Nachschlagewerke. Pilz- und Pflanzenbestimmer, Tierlexika, Liedersammlungen (es ist belegt, dass ich schon mit vier „Venceremos“ singen konnte…), Weltall-Erde-Mensch. Als ich älter wurde, kam Erwachsenenliteratur dazu, die mir geschenkt wurde oder die ich nach und nach unauffällig aus dem Bücherschrank meiner Mutter in mein Zimmer umsiedelte. Die wenigsten Titel davon hat sie jemals wiederbekommen. Heute ist mein Buchbesitz auf ein ganzes Zimmer voller überfüllter, deckenhoher Regalwände angewachsen.

Einige meiner Kinderbücher habe ich mitgenommen, als ich vor über 20 Jahren aus der Wohnung meiner Eltern auszog. Vor allem die Märchen. Meine Ausgaben der Gebrüder Grimm und die von Hans Christian Andersen. Die romantischen Kunstmärchen Hauffs und Bechsteins, Nachdichtungen klassischer Heldensagen sowie eine beeindruckende Sammlung von Märchen aus aller Welt.

In der DDR wurden damals überdurchschnittlich viele Märchenausgaben publiziert. Das war international und ging in jedem Fall leichter durch die Zensur als zeitgenössische Werke. Eines meiner liebsten Märchenbücher hieß Vom Blumenlager der Prinzessin Tschandrawati. Es enthielt Märchen von der Insel Mauritius. Den Titel, obschon nicht eben eingängig für eine achtjährige, konnte ich von Anfang an auswendig. Sowohl das verheißungsvolle „Blumenlager“ als auch der exotische Name der Königstochter hatten es mir angetan. Tschandrawati. Die Mädchen in meiner Klasse hießen Katrin, Sabine oder Kerstin.

Die Geschichten enttäuschten mich nicht: Es gab Maharadschas, raschelnde Saris, gelbe Ingwerblüten. Feigenbäume und tanzende Feen. Ich liebte mein Blumenlager. Als es kürzlich zufällig in mein Blickfeld fiel, zog ich, ein wenig gerührt, den unscheinbaren Rücken des Bandes aus dem Regal – und war entsetzt. Hielt ich doch, was in meiner Erinnerung voller bunter Blumen und Vögel war, als schmales, schmuckloses Taschenbuch in der Hand. Komplett in schwarz. Grobes Papier. Eng bedruckt mit kleinen Buchstaben. Keine Bilder, nur ab und zu eine skizzenhafte Zeichnung. Ein Alptraum. Weder optisch noch haptisch für Kinder geeignet.

Die ernüchternde Konfrontation mit der Realität traf mich sehr. Ich wusste, dass mein Buch so aussah wie es aussah, aber ich hatte vergessen, wie derb der wasserabweisend beschichtete Karton des Umschlags tatsächlich war, wie rau sich die Seiten anfühlten, wie schlecht sie umzublättern waren.

Ich versuchte mich zu erinnern, ob es mir damals auch aufgefallen war und ob ich irgendeinen einen Unterschied gemacht hatte, zwischen dieser allein auf den Text reduzierten Pappausgabe und anderen, fröhlich bunt illustrierten Kinderbüchern, die ich natürlich auch besaß. Aber hatte ich nicht. Denn das verblichene Aschenputtel in meinen Händen, das mich einst auf so ferne Reisen mitgenommen hatte, war mir mehr als manche Prachtausgabe ans Herz gewachsen. Natürlich – war doch die Welt Tschandrawatis zwischen den unscheinbaren, staubig schwarzen Pappdeckeln von wildbuntem Temperament, flirrenden Lichtern und aufregenden Abenteuern.

Als ich das Bändchen wieder zurück ins Regal zwischen die anderen Bücher schob, dachte ich das erste Mal, dass meine häufigen Besuchen im geheimnisvollen Mauritius vergangener Zeiten vielleicht einer der vielen Gründe waren, warum ich später selbst anfing zu schreiben.

Der Beruf des Schriftstellers, der uns alle auf dieser Plattform hier verbunden hat, ist kräftezehrend, aufreibend und oft voller Zweifel. Zumindest für mich. Trotzdem kann ich mir nichts Hoffnungsvolleres vorstellen als den Rest meines Lebens Bücher voller Geschichten zu schreiben…

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Globusse, Balkane und Literatur http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/espanol-globos-balcanes-y-literatura/ Mon, 27 Sep 2010 15:01:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2230 Wir waren 18 Jahre alt, ein bewegtes Jahrhundert neigte sich dem Ende entgegen und ich und mein Freund Boris suchten wie Drogensüchtige nach Büchern. Da es in unserer Stadt keine Buchhandlungen (bzw. eine mit geringer Auswahl) gab, konzentrierten wir unsere Suche auf die Bücherregale unserer Verwandten und Freunde: Wir fragten nach, liehen Bücher aus oder klauten welche (aus den Bibliotheken, die durch Einschränkungen, schlechten Geschmack und Betriebsroutine verwaist waren). Es war uns egal; wir machten Gebrauch, von dem, was wir fanden: Wir waren glücklich in unserer Beschränkung. Das Lesen hielt uns an, immer mehr zu lesen, ohne dass wir sonderlich an die Zukunft oder die Konsequenzen dachten. Eines Tages erreichte uns das Gerücht, dass Herr Soundso angeblich die gesammelten Werke von Jorge Luis Borges in der Emecé-Ausgabe von 1979 besaß. Nachdem wir die ungefähre Adresse des besagten Besitzers ermittelt hatten, fuhren wir auf Boris’ schrottreifen Motorrad los und klingelten zwischen zwei Straßen an jeder Haustür, bis wir an die richtige Tür gelangten. Ein Typ, den wir noch nie gesehen hatten, öffnete uns die Tür, verschwand nach einer kurzen Erklärung von Boris wieder in der Wohnung und kam mit besagter Ausgabe in grünem Einband wieder. Wir fuhren sofort zum Kopierladen und brachten ihm nach einer Stunde sein Buch zurück. Dass es keine Bücher gab (heute gibt es auch nicht viel mehr als damals), schien mir auch ein Symptom des spießigen und obskuren Angestelltenprofils in der Stadtverwaltung: Es ist schließlich leichter, jemanden zu beherrschen, der uninformiert ist oder nicht weiß, was er mit Informationen anfangen soll.

Uns war die Welt damals weit und fremd, auch wenn dies gerade dabei war, sich zu ändern. Wir sollten bald dazu gezwungen werden, unsere Antennen vom analogischen auf das digitale Modell umzustellen. Ein Jahr bevor das 20. Jahrhundert zu Ende ging, konnten wir schon Zeitungen und Magazine im Internet lesen, die vorher für uns nirgends zugänglich gewesen und in unserem monothematischen Zirkel mythischen Status genossen hatten: Mit einem Klick fühlten wir uns selbst gegenüber nun wahrhaft zeitgenössisch. Aber in der „Realität“ zirkulierten weiterhin sehr wenige Bücher und der Klang der „Realität“ hatte mehr Akkorde in Moll denn in Dur: übertrieben hohe Buchpreise bei Lumpengehältern, deren Kaufkraft jeden Tag abnahm, Geringschätzung der Rolle der Literatur, das Aufkommen multinationaler Konsortien, die sich anschickten, unsere „Nationalliteratur“ zu umsäumen (indem sie tendenziöse Debatten führten, Autoren und Werke ignorierten, den Dialog zwischen literarischen und linguistischen Traditionen, die sich nicht um ihr mittelmäßiges Kriterium der nationalen Grenzen scheren, nicht berücksichtigten, indem sie Schulbuchtexte herausbrachten, in denen der Sinn der Literatur in der erzieherischen Funktion verloren ging etc.). Die von diesen Konsortien geförderte „Nationalliteratur“ war in vielen Fällen nichts als ein ideologischer Pakt zwischen einer Öffentlichkeit (die diese teuren Bücher kaufen und die Lektüre dieser klassistischen Bücher genießen konnte) und einem Autoren (der oftmals aus eben dieser sehr begrenzten Öffentlichkeit stammte). Viele Aspekte haben diesen perversen Effekt zu unterminieren begonnen, unter anderem der Zugang zu Literatur über das Internet.

Auch wenn es hier keine Buchhandlungen gibt, die an Supermärkte erinnern, in denen Bücher wie Waren mit einem Verfallsdatum verkauft werden (wodurch viele wertvolle Bücher in Vergessenheit geraten), so verharren wir doch in der Position eines kulturellen Flohmarkts, auf den nur die Abfallprodukte und Überschüsse der großen Märkte gelangen. Das, was einige Autoren (unter anderen Piglia und Link) die „Balkanisierung“ der lateinamerikanischen Literatur nennen. Ramsch wie Selbsthilfeliteratur, miserable Übersetzungen von Klassikern, unechte Bestseller, aber fast nie jene Werke, die unsere (gemeinsame, aber unendlich vielseitige) Sprache transformieren und erweitern, die unser Verständnis davon, was es heißt, Lateinamerikaner zu sein, verändern, die den Kanon reformieren etc. Solange das so bleibt, werden wir dank des Internets – mit all seinen Begrenzungen und unseren Illusionen, mit Geduld, aber auch mit Zorn – weiter Widerstand leisten. Seiten aus Sandstein, die ich mit meinem Freund Boris weiter verschlingen werde. So einfach geben wir nicht auf.

Übersetzung: Anne Becker

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Axolotl Cyborg http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/axolotl-cyborg/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/axolotl-cyborg/#comments Thu, 16 Sep 2010 06:25:16 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1789

Axolotl. Foto: Ethan Hein, http://www.flickr.com/photos/ethanhein/

Ich bin mir sicher, dass sich niemand von euch jemals die Frage gestellt hat, wie die Globalisierung von einen Axolotl, der aus seinem natürlichen Lebensraum entführt wurde, wahrgenommen wird, und der nun in diesem Fischglas, das ich ihm mit viel Liebe hergerichtet habe, lebt.

Die erste Frage, die dem Tierchen bestimmt in den Kopf kommt, ist die nach dem Ursprung meiner Grausamkeit. Aus welchem Grund ich ihn wohl aus seinem wunderschönen Zuhause in der Lagune von Chapultepec, Mexiko, herausgerissen habe, um ihn an diesen kalten, geschlossenen Raum in Guatemala Stadt zu bringen. Er wird auch nie gänzlich diese Geräusche verstehen, die sich durch das Wasser schleichen und ein bisschen Wellengang verursachen. Er zieht es vor, wenn ich ganz laut ganz harte Musik aufdrehe, dann kann er kleine Kunststücke aus seiner Zeit als Surfer in den Pfützen aufführen. Bei Cannibal Corpse flippt er aus. Bei der nationalen Musik steht er auf Evilminded, auf jeden Fall.

Mein Akzent und der meiner Freunde kommt dem kleinen mexikanischen Salamander nicht ganz so fremd vor. Ab und zu benutzen wir den Ausdruck „pinche“ (mex. für unwichtig, scheiße) und es kommt sogar vor, das wir „buey” (mex. für Alter) als Abschluss des Satzes sagen. Auch Rancheras singen wir ganz gut. Und wenn auch nicht ganz so gut, dann wenigstens mit derselben Leidenschaft. Das machte den Umzug für ihn etwas weniger traumatisch. Hier schlagen Los Tigres del Norte auch ein. Klar, wenn wir dann sehr betrunken sind, wollen wir auch „Unseres“ wieder aus kramen und tanzen einen Danzón, zu irgendeinem Stück (das Land der schönen Frauen und der Marimba, sagt man) von Checha y su India Maya Caballero.

Dieser Axolotl ernährt sich von der Musik und der giftigen Strahlung, die der Tagebau in diesen Gebieten hinterlässt. Dank dieser hat er die Fähigkeiten Lesen und Im-Internet-Surfen entwickelt, ohne auch nur eine Tastatur zu benötigen. Ich lebe mit einem telepathischen Froschlurch und er liebt es, in meinen Emails herumzuschnüffeln. Meine Korrespondenz findet er sehr unterhaltsam, mit all ihren Verwirrungen und Leidenschaften. Er taucht in meinen Twitter und vertreibt sich die Zeit damit, die Texte zu lesen, die ich als Forschungsmaterial für den Roman sammle, den ich gerade vorbereite. Es begeistert ihn, alles bezüglich des Transhumanismus und dessen Möglichkeiten als Werkzeug zur Aktivierung einer neuen Form des globalen menschlichen Bewusstseins zu lesen. Er überdenkt und debattiert mit sich selbst ziemlich komplexe Problematiken: ob die Hypervernetzung zum Web der erste Schritt zur Entwicklung eines kollektiven Gehirns ist; ob er der erste Replikant einer neuen Rasse, Axolotl Cyborg, ist; ob ich in Wirklichkeit gar nicht existiere und lediglich ein Hologramm seines Bewusstseins bin.

Plötzlich blickt mir der Axolotl in die Augen, spielt eine Szene aus dieser Erzählung von Cortázar nach. Er fragt sich, ob mit uns dasselbe passiert ist, wie mit diesen Figuren, und ob ich jetzt in seinem Körper stecke und unter seiner so dünnen Haut denke. Ich stelle mir die gleiche Frage, während ich zusehe, wie er sich dreht und einen spektakulären halben Salto macht, der gefährlich nahe daran herankommt, das Universum wieder instandzusetzen. Ich atme ein und aus, und beruhige mich. Ich bin immer noch auf dieser Seite des Fischglases.

Für meinen fluoreszierenden Salamander ist die Sache mit den Sprachen nicht so ganz klar. Regelmäßig vergisst er die Sprache, in der er einen Text gelesen hat, der ihn dazu veranlasst zu denken, dass das Gehirn die Ideen in einem Code versorgt, der nicht notwendigerweise linguistisch ist.Vor kurzem wollte er ein paar farbigen Fischchen erzählen, dass die Poesie der historische (genetische) Mechanismus ist, den wir benutzen, um die Gestaltung dessen, was wir als materielle Realität wahrnehmen, in Frage zu stellen. Das wir uns durch sie, die Poesie, weiterentwickeln. Danach zitierte er elegant ein japanisches Haiku, das eine kleine Reihe von Blasen auslöste. Aber, echt, er hat all das in so einem ernsten und phlegmatischen Tonfall gesagt (wie ein deutscher Philosoph), dass mir das Desinteresse der Fische sehr lustig erschien. Diese Armen wissen ja kaum, ob sie im 21. Jahrhundert oder im Paläolithikum leben. Und, wo wir schon dabei sind, das Siglo de Oro oder die Romantik ist ihnen auch scheißegal.

Mein Axolotl Cyborg wurde durch zu viel Kabelfernsehen schlussendlich von der Werbung erobert.

Er hat sogar ein exzellentes Produkt entwickelt, eine Erfindung, etwas, das er gerne vermarkten würde: eine Serie von Bucheinschlägen von Thomas Pynchon, worin die farbigen Fische ihre Bücher von Paulo Coelho einbinden können. Damit können sie diese lesen, ohne der Diskriminierung der Hipster-Umgebung zum Opfer zu fallen. Ich informiere ihn darüber, dass seine Initiative in diesem Land nicht sehr erfolgversprechend ist, denn die Leute ziehen es sowieso vor, gar nicht zu lesen. Hier ist es hip, nichts zu wissen und zu Partys zu gehen, electroclash. Der Axolotl erschreckt sich, und ich muss ihm versprechen, dass er mich bei meiner nächsten Reise nach Buenos Aires begleiten darf, damit er durch die Buchläden planschen kann. Es gibt dort ein paar sehr gute, erzähle ich ihm.

Ja, dieses Tierchen hat sich langsam zu einem Zyniker und einem Frechdachs entwickelt. Aber die Wahrheit ist, ich akzeptiere ihn so wie er ist, mit all seinen Fehlern. Das ist das mindeste was ich tun kann, bei dem Schaden, den ich ihm zugefügt habe – ihn aus seiner idyllischen natürlichen Umgebung zu reißen (wo er mit Kaulquappen und Industriemüll zusammengelebt hat) und ihn hierher zu bringen, um in einer neuen Landschaft zu leben: in einem Habitat, das aus einem durchsichtigen Fischglas besteht und gegenüber von ein paar Bildschirmen aufgestellt ist.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Sagmirwasdufühlstismus http://superdemokraticos.com/themen/koerper/sagmirwasdufuhlstismus/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/sagmirwasdufuhlstismus/#comments Mon, 26 Jul 2010 18:44:50 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=528 „Da wir glauben, Fragen der Sexualität seien Privatangelegenheiten, hören wir auf, sie in ihrer sozialen und politischen Dimension wahrzunehmen.“ G. Louro

Im Fernsehen verschlingt ein Junge, der Bastian heißt, ein Buch. Sein Gesicht trägt den verstörten Ausdruck eines Abenteurers, der sich in der Wüste verlaufen hat und dem nur noch wenige Seiten in der Feldflasche verblieben sind, der junge Held bedeckt seinen Rücken mit einer Decke, weil die Welt der Fantasie durch das Dach verschwindet, durch das Nichts verwüstet wird und… Werbepause.

Ich erkenne meinen Körper, putze mir freiwillig die Zähne, schlafe alleine, ohne Angst zu haben, ahme die Sänger im Radio nach, wenn niemand da ist, ich durchlebe eine Phase zwanghaften Lügens und Stehlens, entwickle meine persönliche Vorstellung von Gut und Böse. Entscheidende Augenblicke für die Herausbildung der ersten Intimität: der eigenen. Jede Person müsste über solch eine Umgebung verfügen und sie nach Belieben schmücken dürfen, um anschließend Besuch empfangen und sich noch später ein erfülltes, gesundes und geteiltes Heim einrichten zu können. Nachdem der Mensch den infantilen Solipsismus überwunden hat, erreicht er – paradoxerweise – während der Pubertät den Lebensabschnitt „Nur du existierst“.

Meine liebsten Tischgespräche mit jemandem, den ich soeben erst kennen gelernt habe, handeln von der Intimität. „Erzähl mir ein Geheimnis, etwas, von dem ich nicht weiß, und reißen wir ohne lange Vorreden dieses von der Gesellschaft gesäte Kraftfeld ein. Etwas, das du noch nie jemandem erzählt hast, sprich über dein erstes oder dein letztes Mal, von deinen immer wiederkehrenden Träumen. Beichte mir, ob du dich einsam oder elend fühlst, ich werde nicht flüchten. Verkünde, dass du ein glücklicher Mann bist und keine Hemden trägst, das muss gesagt werden.“

Der „Sagwasdufühlstismus“, eine polemische Bewegung, die mir Freude und Gemeinschaft einbrachte, wie auch Unverständnis und ungemütliche (lustige) Situationen, die so weit gingen, dass ich mich eines bestimmten Tages betreten beklagte: „Wenn mir jedes Mal ein Dollar gegeben würde, weil ich alles sage, was ich fühle, würde ich mich in diesem Moment vielleicht besser fühlen.“ Guacira Louro sagt hierzu: „Die Fragen, die Fantasien, die Zweifel und das Experimentieren mit der Lust werden ins Geheime und Private verwiesen. Wir erlernen die Scham und die Schuld, experimentieren mit Zensur und Kontrolle durch die multiplen disziplinierenden Strategien.“

Über Jahrhunderte hinweg mussten Frauen „Anstand wahren“, und bis heute schüchtert es das puritanische Subjekt ein, wenn eine Dame offen über ihr Sexualleben spricht. Das erinnert mich an das wunderschöne Lied von Chabuca Granda „Cardo o ceniza“ (Distel oder Asche), in dem die Dichterin die außergewöhnliche Episode einer passionierten Hingabe schildert und in der letzten Strophe, beschämt von der vollständigen Hemmungslosigkeit der vorangegangenen Nacht, neben ihrem Geliebten aufwacht.

Wenn ich dichte und jemandem, der mir nahe steht, die Gedichte zeige, und später, wenn ich sie veröffentliche, wenn ich sie lese, finde ich die eindringliche Intimität in der Poesie. Indem wir mit der Logik und Sensibilität des Künstlers fließen, folgen wir dem Labyrinth, das er in einem magischen und einsamen Moment zeichnete.

Die Mittäterschaft, in der man sich desselben Deliktes unschuldig weiß, bringt einsame Kenner eines schlechten Witzes, einzige Gäste eines verwunschenen Hotels hervor. Es weiche das magnetische Feld, öffnen wir die Türe. Geheimnisse ohne Beichtstuhl.

Der Intimismus wird zu einem Ismus des Gleichen: einen Teller Essen, den Dessertlöffel, die Keime, das Bett miteinander teilen, den Arm ausreißen, der den Arm, der verschwindet, lähmt.

Schon immer wollte ich mein Bankgeheimnis lüften, damit ihr und ich intim sein können, ohne Angst davor zu haben, auf das glamouröse Tuch des Geheimnisses zu verzichten, das mich wie ein aus Gefühlen bestehender Schleier der Frauen Limas schmückt, da das Geheimnis über vielfältige Instanzen und ein eigenes Ministerium im Inneren verfügt. Viele Aspekte müssen übereinstimmen, bevor darüber entschieden wird, dass es sich in eine Party für zwei verwandelt. Nicht jede macht einen Ausflug zu sich selber, und noch seltener wird man regelmäßig zu einem Reisenden, wenn ich mir schließlich die Tätowierung von der Stirn entferne, die besagt: „Liebe den wilden Schwan“ („Ama al cisne salvaje“, Gedicht von Luis Rogelio Nogueras, Anm.d.Übers.), und ich verstehe das durchsichtige Kostüm als ausgepacktes Geschenk, das vor den Augen des riesigen Kindes erstrahlt.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Für meine Familie bin ich die Blog-Oma http://superdemokraticos.com/poetologie/fur-meine-familie-bin-ich-die-blog-oma/ http://superdemokraticos.com/poetologie/fur-meine-familie-bin-ich-die-blog-oma/#comments Sat, 12 Jun 2010 08:06:47 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=190 Ich komme aus Costa Rica. Dort wurde ich vor 31 Jahren geboren und wuchs als Stadtkind auf, das Angst vor Insekten und vor der Höhe hat. Ich habe eine riesige Familie aus der unteren Mittelschicht, die alle nicht mehr als vier Stunden Wegstrecke voneinander entfernt wohnen. Ich bin eine der wenigen, die weit weg gegangen sind. Meine Mama sagt, ich sei „lesend zur Welt gekommen“, und ich glaube, das stimmt. Mit zehn Jahren wünschte ich mir eine Schreibmaschine zu Weihnachten, und ich lernte sie mit einer Rage und Verzweiflung zu benutzen, die für meine Eltern etwas beunruhigend waren. Mit der Zeit verwandelte sich mein Computer in meine endgültigere Leidenschaft.

Ich war immer am Schreiben: Postkarten, Theaterstücke, Gedichte, Tagebücher. Alles verlor oder zerstörte ich. Erst als Erwachsene wurde mir bewusst, dass es vielleicht keine allzu gute Idee sei, alles zu verlieren. Im Februar 2001 begann ich, Itzpapalotl.org zu schreiben, einen persönlichen Blog. Ich schreibe ihn noch immer und er bekommt hin und wieder Besuch von Freunden und Verwandten, als sei er eine Blog-Oma, die weit entfernt wohnt und die Dinge immer wiederholt, weil sie vergessen hat, dass sie sie schon erzählt hat.

Aus irgendeinem Grund und zur gleichen Zeit, begann ich, mit Leidenschaft zu arbeiten. Ich arbeitete und lernte wie eine Verrückte. Ich arbeitete als Redakteurin, Übersetzerin, Sozialwissenschaftlerin und Programmiererin. Ich arbeitete in einer NGO, gründete eine Arbeitergenossenschaft, fotografierte, nähte Kleider, begann einen Kochblog und bewaffnete papierene Roboter. Ich bereiste eine Menge Städte, mit dem Flugzeug, mit dem Bus, zu Fuß und auf dem Anhänger irgendeines Lastwagens, immer mit dem Laptop über der Schulter.

2006, während die Spiele der Weltmeisterschaft über die Bildschirme flimmerten, verliebte ich mich. Wenige Monate später zog ich nach San Francisco, Kalifornien, ohne die geringste Ahnung zu haben, was es heißt, in den Vereinigten Staaten zu leben.

Es stellte sich heraus, dass es gar nicht so schlecht ist. Ich lebe in einer kleinen und vielseitigen Stadt, wo sich die Migranten aller Breitengrade versammeln, die verschiedenen Schattierungen asiatischer Kulturen, die afro-amerikanische Kultur, die Chicana-Kultur, die Hippies der 1960er, die Punks der 1980er, die Online-Unternehmer der 1990er; ein unaufhörliches Hin und Her von Menschen und Ideen, von Leben voller Mysterien.

Hier verbringe ich meine Tage damit, über meinen Zwischenzustand nachzudenken, da ich mich noch immer fühle, als ob ich in Transit sei, obwohl schon vier Jahre vergangen sind. Wenn mich niemand sieht, tanze ich in der Küche, gehe in die Parks zum lesen, bis der eisige Nebel aufzieht und morgens schaue ich erneut aus dem Fenster und dort ist es, wie ein Wunder, das Wasser des Meeres.

Übersetzung: Marcela Knapp

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