Leben – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Mein unglaublichster Sommer http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/mein-unglaublichster-sommer/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/mein-unglaublichster-sommer/#comments Fri, 05 Nov 2010 11:28:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3154 Die schwerste Übersetzungsaufgabe findet in diesem Moment statt. Das wird mir schlagartig klar, jetzt, wo ich hier vor dieser weißen Word-Seite sitze und euch von meinen letzten Monaten und von meiner Erfahrung als Übersetzerin für die Superdemokraticos berichten möchte.

Schon das Schreiben an sich impliziert ja eine Übersetzungsarbeit: der Text als eine Art evoziertes Echo von etwas anderem, das vielleicht Erlebnis, Eindruck, Spur oder so ähnlich genannt werden kann. Im Falle der Übersetzung in eine andere Sprache wäre das Übersetzen dann der Versuch, dieses Echo in einer anderen Sprache neu hervorzurufen. So hat zumindest Walter Benjamin einmal die Aufgabe des Übersetzers beschrieben.

Wie etwas übersetzen, das eigentlich unfassbar ist? Dass ich selbst vielleicht noch vor nicht all zu langer Zeit als unmöglich eingestuft hätte, was mir zumindest aber vollkommen unbekannt gewesen wäre.

Ich würde gerne etwas in Worte und Mitteilung übersetzen, was mir in den letzten Monaten widerfahren ist. Ich möchte das schon eine Weile – aber die Übersetzung will noch nicht so richtig. Die Worte geraten ins Stocken, ins Zweifeln, werden misstrauisch, luken mal kurz über die Lippen nach draußen, aber schrecken dann doch unsicher zurück. Sie schnüren mir die Kehle zu, bleiben wie ein Kloß im Hals stecken. Dann wollen sie alle auf einmal raus und verhaspeln sie sich in meiner Zunge und sind dann wieder plötzlich weg, wenn man gerade noch ein letztes Mal tief Luft holt.

Um es offen und ehrlich zu sagen: Die Superdemokraticos gerieten, wie so vieles aus meinem „normalen“ Leben, in diesem Sommer nach und nach in den Hintergrund. Wenn ich an die letzten vier Monate denke, faden sie in meiner Wahrnehmung aus, wie es manche Musikstücke tun, und werden zugleich als Anker sichtbar. Als ein Anker in die mir bekannte Welt, in den Alltag – den es wochenlang eigentlich gar nicht gab.

Stattdessen gab es einen Ausnahmezustand. Die Folgen der rituellen Gewalt und systematischen Folter. Und den Versuch, mit dieser dunklen Welt zu brechen. Und eine Person, die all dies erlebt, überlebt hatte. Wenn man zum ersten Mal mit diesem Thema in Kontakt kommt, „und das nicht selbst überlebt hat, dann ist dafür nichts abrufbar“, formuliert die Trauma-Therapeutin Monika Veith in einem Interview ihre eigene Erfahrung mit der Arbeit mit Überlebenden ritueller Gewalt in Deutschland und schenkt mir damit Worte, die ich selbst noch nicht finde. Oder nur so halb.

Einen Umgang mit etwas finden, für das nichts im eigenen Gedächtnis abrufbar war, darin bestand ein großer Teil meines Sommers. Da half erstmal nur Intuition, ausprobieren, allen Mut zusammen nehmen und vom Steg ins kalte Wasser springen, dem Schrecken trotzen, aber auch Grenzen wahrnehmen und vor allem Vertrauen, um schließlich dabei auch die Erfahrung zu machen, wieviel Verwandtes doch abrufbar ist, wieviel schönes Gemeinsames und Teilbares es gibt und wieviel jede für sich und man zusammen über sich hinaus wachsen kann.

Und das erinnert mich an Ingeborg Bachmann, die in vielerlei Hinsicht Patin stand in diesem Berliner Sommer. „Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an; daß wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt“, sagte diese kluge Schriftstellerin in ihrer Rede „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, die mich, seit ich sie das erste Mal vor Jahren las, nie wieder los ließ.

Systematische Folter und Straflosigkeit ist etwas, dass man hierzulande gemeinhin mit Lateinamerika und anderen fernen Kontinenten verbindet. Dabei existiert es auch hier vor der Tür. Und die Täter und Täterinnen ritueller Gewalt genießen auch hier fast absolute Straffreiheit. Und kaum jemand scheint in diesem Land überhaupt zu wissen, das so etwas hier existiert.

Und so höre ich auf einmal das große Schweigen, vernehme ich plötzlich das große Unvernehmen, und weiß nicht, was tun, wohin damit?

Und dennoch: Es war bei weitem nicht alles Grauen. Und so möchte ich diesen Sommer nicht missen.

„Und wer“, sagt Ingeborg Bachmann weiter, „wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, daß unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, daß man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, daß man enttäuscht, und das heißt ohne Täuschung, zu leben vermag.“

Links zum Thema rituelle Gewalt:

Renate Rennebach-Stiftung

Vielfalt-Info

Michaela Huber

Claudia Fliss

Vater unser in der Hölle

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Begrabt mich in einer Tüte „Russisch Brot“ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/begrabt-mich-in-einer-tute-%e2%80%9erussisch-brot%e2%80%9c/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/begrabt-mich-in-einer-tute-%e2%80%9erussisch-brot%e2%80%9c/#comments Wed, 20 Oct 2010 09:40:44 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2554 Der welthaltigste Text, den ich bisher gelesen habe, fängt so an: „taaccctaaccctaaccctaaccctaaccctaaccctaaccc …“. Er umspannt nicht nur die Familiengeschichte eines Jahrhunderts, sondern die des organischen Lebens auf diesem Planeten. Um mit Arno Schmidts Bauchsprache zu sprechen: een furrrz=kleenet=taktvollet UNI-Vers:elles Biss-chen ju:männ-geneTick Sieh)quence. Wenn man den Text morphologisch auf augenfälligste Weise unterteilt in taaccc-taaccc-taaccc-taaccc-taaccc-taaccc-taaccc, dann beginnt er so gewöhnlich, wie jedes Leben oder jedes Lied beginnt: mit einer Schlagfrequenz. Genetisch Kundige würden ihn vielleicht so lesen: Tee ah, ah Zeh, Tse-Tse, Tea, Atze, Cece und so weiter.

Im weiteren epischen Verlauf des Textes fällt auf, dass Sequenzen häufig wiederholt werden, manchmal so oft, dass man sie sich schon eingeprägt hat – etwas, das sich heutzutage bloß noch Lieder oder die Lyrik erlauben dürfen, nicht mal in Gebrauchsanweisungen darf man dem Kunden eine Anweisung so oft geben, bis er sie endlich verstanden hat. Aber wer von nicht weniger als der vierdimensionalen Weltgeschichte erzählt, kommt um Wiederholungen nicht herum. Ach ja, das hatten wir ja schon am superdemokratischen Anfang gesagt.

Was macht den Text also so welthaltig? Jeder von uns trägt ihn in sich. Jeder Mensch auf dieser Welt trug ihn in sich. Jeder auf dieser Welt wird ihn in sich tragen. Und wir teilen weit mehr, als wir uns unterscheiden. Sich in den anderen hineinversetzen ist dem Text zufolge ein Kinderspiel für jeden von uns. Der Text scheut keine Mühe und zeigt uns, wohin wir gehören und worauf es ankommt – im weiteren Verständnis des Textes wird er uns lehren, dass Haut-, Augen- und Haarfarben einen Menschen kaum ausmachen und dass selbst Religions-/Kulturgedächtnis ein äußerst instabiles Ding ist. Dennoch ist der Text pedantisch im Aufzeichnen menschlicher Handlungen, er ist nachtragend, er vergisst nichts, auch wenn es schon lange zurückliegt. Er ist das Skript und das Kameraauge in einem. Und entgegen aller Skepsis wissen wir heute bereits: Die Rolle, die jeder von uns spielt, bestimmt er mindestens zur Hälfte selbst. Endlich mal ein Text, der uns befähigt und uns keine Ausrede bietet.

Noch nie hat ein Text so viele Menschen unter ein Dach gebracht, ohne auch nur einen einzigen zu diskriminieren oder zu beleidigen. Ein allumfassender, aber höchst differenzierter Text ist er, so generell und zugleich originell. Ein knallharter Text, den niemand kritisieren, niemand redigieren will. Ein nüchtener Text, der einzig Funktionalität anstrebt und den klarsten Ausdruck sucht. Ach, bitte, begrabt mich doch in einer Tüte „Russisch Brot“! Mit den Buchstaben erschreibe ich mir dann in aller epischen Breite mein nächstes Genom. Vielleicht beginne ich mal mit Schubidu oder mit Es wird einmal. Und wenn ich Glück habe, werde ich mit diesem Text erst wieder das Licht einer Welt erblicken, für die sich das Manuskript eignet. Ade, Superdemokraten.

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Kein adiós, aber ein bis bald … http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/kein-adios-aber-ein-bis-bald/ Thu, 14 Oct 2010 09:57:20 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2625 “Die Kultur zur Befreiung konstituiert sich nicht nur durch die Organisation bereits existierender kultureller Daten, sondern auch durch die Erschaffung eines Netzwerkes von Ideen und Werten. Es geht darum, ein Konzept der nationalen Kultur zu entwickeln, das nicht limitierend und objektiv konservativ wird. Und so die Versuchung zu vermeiden, Barrieren zu bauen, innerhalb der Tradition nur das System der revolutionären Werte zu erkennen, sowie die gegenteiligen Reaktionen: den Agnozismus.”

Jorge Luis Acanda

Irgendjemand hat einmal gesagt, dass die besten Ideen in der Küche entstehen. Vor einigen Monaten begann ein Projekt, das viele Leute in Atem hielt, ich war einer davon. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich mich gezwungen, beim Schreiben jedes Mal einen Bezug zu meinem Leben zu machen. Es überraschte mich auch, auf diese Art und Weise, mich Selbst durch die Augen der anderen zu sehen. Ich sah mich und auch meine anderen dichs aus unterschiedlichen Perspektiven. Mein Ich hörte auf, egoistisch zu sein, und begann anhand von Texten, die auf dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent oder in Großkolumbien, wie Francisco de Miranda diesen Teil der Erde vor dem afrikanischen Kontinent nennen wollte, herumzuwandern. Wieder einmal bauten sich Europa und Lateinamerika voreinander auf, aber dieses Mal, um sich ungetrübt über die Beziehungen zueinander, über die Spuren und die Versprechen, zu unterhalten. Das war und ist nicht rein zufällig geschehen. Der Dialog hat keine wirtschaftlichen Beweggründe und wurde von zwei Weltbürgerinnen ausgelöst. Eine wurde in Tarija und die andere in Bremen geboren, zwei Orte, die unterschiedlicher nicht sein könnten und sich doch so nah sind, wenn es um die Annäherung geht. Der Gemeinplatz dafür fand sich in der Literatur; der Ort der Unterstützung in Berlin, mit festem Blick auf die Utopie.

Das Leben an zwei entlegenen Polen der Welt stellte sich hier aus einer individualistischen Perspektive dar. Dadurch wird das betrachtende Individuum ein Teil der machenden Gruppe und das angenommene Ich zum Du. Ein Mosaik konstruiert sich, das die Gesichtszüge der Menschen zeigt, welche diese globalisierte Welt anders betrachten wollen. Dieses Vorhaben ist stillschweigend in das eigentliche Handeln einbezogen, und nur darin fühlt man sich wirklich zu Hause.

Die Ironie des Namens, Superdemokraticos, deutet schon auf diese Kurzsichtigkeit hin. Mich erinnert es an einen Nietzsche, der vorgibt mit einem Hammer zu philosophieren, um damit dem erbaulichen Anspruch der traditionellen Philosophie zu entgehen, der seiner Meinung nach den Mensch verdorben hat.

Aber Nietzsche reicht nicht aus, und die Superdemokratie ist nicht mehr als ein Vorwand, um dahin zu sehen, wo es am meisten weh tut, also bleibt keine andere Möglichkeit, als sie aufs Neue zu gebären, diesmal unter anderen Voraussetzungen. Der Jugend in einer alternden Welt das Wort zu zusprechen, ist ein Wagnis, das in einer an Taubheit erkrankten Welt eine notwendige Voraussetzung sein kann.

Und deshalb sage ich auch nicht Adiós, sondern „Bis bald“, bedanke mich dafür, dass ich mitmachen konnte, und hoffe darauf, auch weiterhin Voraussetzungen schaffen zu können.

Calle 13 Pal norte

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Daydream Nation http://superdemokraticos.com/themen/burger/daydream-nation/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/daydream-nation/#comments Mon, 06 Sep 2010 09:13:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1716 Ich bin betrunken nach Hause gekommen / total verloren in Überlandbussen der Nordroute / oder in beichtgelben Taxis um drei Uhr morgens / mit Fahrern, die im Auftrag  des Heiligen Christophers  sterben werden / und ihr Zellchaos durch die cantinas des Zentrums  schleppen werden //  Ich führe ein Schriftstellerdasein / ich verkaufe frittiertes Hühnchen, um mir die nachtragenden und bitteren Snacks zu kaufen / die  samstags um 2 Uhr nachmittags in Chalio’s Bar serviert werden / Ich bin ein Exemplar der mexikanischen Gattung / ich war ein mexikanischer Junge / Ich werde ein mexikanischer Greis sein // Meine Idole waren Santo und Blue Demon (berühmte Wrestling- Kämpfer; A.d.Ü) / im Ring oder auf der Leinwand des Laguna Kinos / während ich meinen Softdrink der Marke Pep trank // Ich habe es auf 44 Star Wars-Figuren geschafft / meine Lieblingsfigur war Han Solo // Ich verkaufte Kaugummis in den Campo Alianza Bussen / um mir Sandwiches zu gönnen, riesige Avocado-Sandwiches / auf dem ärmsten Markt der Stadt // Ich hatte eine wirre Kindheit / nachmittags kaufte ich ein Liter San Matías Tequila / für meine Großmutter, die seit ihrem 17. Lebensjahr  Alkoholikerin war //  ich bin in dem Alianza Markt groß geworden / wo sie eine pozolería (pozole ist ein typische Suppe mit Mais und Schweinefleisch, A.d.Ü.) hatte / ihre Kundschaft waren die Suffköpfe aus der cantina El mar rojo (das rote Meer) // Ich habe mich in der Wüste verschanzt  / um Peyote zu essen / und ich habe mir zwei Coyotes auf den rechten Arm tätowiert // Ich bin per Anhalter durch das Land gereist / gezwungen mir das endlose Gelaber zugedröhnter Lastwagenfahrer anzuhören // Ich bin als Bulle im Zug nach Ciudad Júarez mitgefahren / ich war kurz davor, mir in der Sierra von Chihuahua den Kältetod zu holen // Ich habe mir Salmonellen eingfangen / weil ich mich auf die Bauchfleisch-Tacos an der Ecke Matamoros und Acuña eingelassen habe / ich bin an Thyphus erkrankt / weil ich um zwei morgens mit Don Lolo tortillones (Maisfladengericht A.d.Ü.) gegessen habe // Ich spaziere gerne durch Straßen voller stillgelegter Fabriken / über die langgestreckte Allee hinter dem zentralen Busbahnhof // Auch ich bin zu Fuß die Bahntrasse lang gelaufen // Ich habe auf brachliegenden Grundstücken mit Unbekannten Bier  getrunken / Ich habe die schlechtesten Baseballspiele der Geschichte im Revolución Stadium gesehen // Ich habe ansehen können wie zum ersten Mal seit vielen Menschenleben das ausgtrocknetet Flussbett des Nazas Fluss sich mit Wasser füllte / ich habe dies von dem riesigen Christus aus gesehen, der auf der Spitze des Noas Berges  steht  // Ich bin durch alle cantinas der Stadt gewandelt / Bars, Tabledance-Kneipen und Schwulenclubs // Einmal wohnte ich mit einer Frau zusammen // Ich bin zum Schwänzen in die Billardsalons unseres Viertels gegangen // Meine Jugend war Daydream Nation //  Ich habe die Musik aller Norteño Gruppen gehört, die sich vor die Gota de Uva (Weintropfen) stellten // Ich habe auf den Bänken des Alameda Parks geschlafen // Ich habe mich in cantinas geprügelt / Ich habe mich schwarz angezogen / und Schnulzen von Cucu Sánchez gesungen // Was für Augen, was für Beine, was für Körper haben die Frauen meiner Stadt / Was für cantinas / die Perches, die Reforma, die Filomena / der Aguila de Oro  (Goldadler) / die Versalles / den Chava Club / El otro Paraíso (Das andere Paradies) //  Ich habe ein fremdes Auto angefahren // Ich weiß, dass ich an Krebs sterben werde / und es ist mir egal // Ich habe all die in die Klotüren eingeritzten obszönen Geschichten auf dem Júarez Markt gelesen / Ich habe ein paar davon selber geschrieben / und habe gelernt, dass Mexiko kein Land ist, in dem man an Verstopfung leidet/  Ich entziffere die Kabel der Telegrafenmasten / die Masten bilden das Skelett der Stadt / die Ampeln die Arterien // Ich höre die Heimat in den cantinas / in jeder nicht geöffneten Flasche // Ich lese aus der Innenfläche meiner Hand wie jemand der einen Toten einbalsamiert / im Amphitheater des Universitätskrankenhaus // Und ich glaube noch an die Liebe im Dunkeln // Ich habe gelitten wegen einer magersüchtigen Liebschaft  // Ich bin ein Mexikaner // Ich habe weder Visum noch Pass // Ich führe ein Schriftstellerdasein // Ich schreibe mit den Schlüsseln der Stadt in der Hand // Und vielleicht werde ich nichts erreichen / noch nicht einmal Eintrittskarten fürs Kino / und auch keine Schlaftabletten // Und vielleicht werde ich nirgendwo ankommen // Aber wie alle / werde ich mir mein Recht bewahren zu verschwinden.

Übersetzung: Anne Becker

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Die Fremde, die Freiheit und das Leben http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-fremde-die-freiheit-und-das-leben/ Wed, 01 Sep 2010 15:08:48 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1554 In der vergangenen Woche habe ich viel Zeit mit einem Freund aus Amerika verbracht. Aus beiden Amerikas, wenn man so will. Javier ist Kolumbianer, lebt aber seit 16 Jahren in New York City. Er hat nicht vor, die Staaten jemals wieder zu verlassen. Im April ist er offiziell in den USA eingebürgert worden ist. Die Reise nach Berlin ist seine erste mit dem neuen Pass. Vorgestern hab ich ihn gefragt, ob er sich eigentlich mehr kolumbianisch oder mehr US-amerikanisch fühlt. Zu meiner Überraschung hat er nicht lange überlegt: „Ich bin US-Bürger“. „Inzwischen“, hat er dann angefügt.

Unsere gemeinsame Freundin Xenia, die aus Odessa am Schwarzen Meer stammt, genauso lange wie Javier in New York City lebt und ebenfalls die US-amerikanische Staatbürgerschaft hat, antwortet da immer etwas situationsabhängiger. Mal stellt sie sich als Russin vor, mal als Amerikanerin, manchmal als Ukrainerin. Je nach dem, was ihr passend erscheint. Sobald sie die Muttersprache ihres deutschen Ehemanns (und ihrer neuen Heimat) spricht, wird das ihre vierte Option werden. Das steht jetzt schon fest. Und irgendwie hätte sie damit auch Recht.

Ich fühle mich beiden darin eng verbunden. Das Thema Emigration begleitet mich mein halbes Leben – dabei hat es nur ein paar kurze Jahre lang eine konkrete Rolle gespielt. Doch der Schatten, den es damals auf mich und mein Dasein geworfen hat, ist bis heute riesig.

Seit ich fünfzehn war, hatte ich Pläne die DDR zu verlassen, seit ich siebzehn war, waren sie konkret. Ich wäre im Sommer 1990 ausgereist. So oder so. Aus der DDR auszureisen, bedeutete nicht einfach in ein anderes Land umzuziehen: Es bedeutete ganz und gar wegzugehen, seine Familie und die Freunde für immer zu verlassen. Vielleicht hätte ich keinen von ihnen jemals wieder gesehen. Ich wusste das. Es war der Preis meiner Freiheit. Ich kann bis heute nur ahnen, wie sehr ich unter der Trennung gelitten hätte.

Doch dann fiel 1989 die Mauer und ich musste nicht gehen. Ich war 18 Jahre alt, konnte studieren, konnte reisen, konnte selbst die Entscheidungen über mein Leben treffen. Und ich konnte all das tun, ohne meine Familie zu verlassen. Mir ist das Schlimmste erspart worden, und trotzdem ist in mir etwas geblieben von den geheimen Plänen damals, von der Jugend im isolierten Land, von den Träumen nach Freiheit, die sich nur in der Ferne unter Fremden verwirklichen kann.

Auf Reisen bin ich das frisch entkommene DDR-Kind geblieben, das glücklich und dankbar ist, wie durch ein Wunder doch noch die weite Welt sehen zu dürfen. Vor allem wenn ich in Amerika bin (im Süden genau wie im Norden), holt mich dieses Thema jedesmal ein. Nach wie vor. Eigentlich bewegt mich dort fast nichts anderes. Die Fremde, die Freiheit und das Leben. Ich kann gar nicht anders. Irgendwie habe ich den Fluchtinstinkt von damals bewahrt – oder werd ich ihn bloß nicht mehr los? Bin ich für immer ein Flüchtling, obwohl ich in Wahrheit nie einer war? Ich weiß es nicht.

In „Reise im Mondlicht“ (1937) lässt Antal Szerb seinen Protagonisten durch Venedig laufen und etwas fühlen, das ich sehr gut kenne: „Wenn er die Arme ausbreitete, konnte er links und rechts die Hauswände berühren, die schweigenden Häuser mit den großen dunklen Fenstern hinter denen sich, dachte er, geheimnisvolles und intensiv italienisches Leben abspielte.“ – genau diese Empfindung beherrscht auch mich, wenn ich in Amerika bin. Egal ob New York City oder Santiago de Chile. Ich laufe durch die Straßen, schaue fasziniert dem Leben dort zu (das dann natürlich nicht intensiv italienisch sondern intensiv chilenisch oder newyorkerisch oder was immer ist) und staune. Und dann fliegen in meinem Kopf plötzlich Bilder und Gedanken herum. Haarscharf am Logikzentrum vorbei und mit derselben Geschwindigkeit wie Landschaften am ICE… Ich bin dann stets verwirrt, aber auch stets erfüllt von tiefem Trost, wie ich ihn Zuhause selten fühle. Wenigstens für kurze Zeit bin ich dann voller Hoffnung, weil ich weiß, dass es einen Ort gibt, an den ich immer werde fliehen können, wenn es nötig werden sollte. Und das Leben am Ende immer einfach nur Leben ist.

Amerika war lange Jahre mein Licht am anderen Ufer. Es leuchtet immer noch. Und beruhigt mich. Es ist gut zu wissen, dass man weit weg gehen kann und immer noch da sein wird.

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Bitte wählen Sie den Titel für diesen Essay selbst! http://superdemokraticos.com/themen/burger/bitte-wahlen-sie-den-titel-fur-diesen-essay-selbst/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/bitte-wahlen-sie-den-titel-fur-diesen-essay-selbst/#comments Thu, 26 Aug 2010 15:01:24 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1176

(R)evolution (c) by Emma Braslavsky

Ich habe mich immer gesträubt, mich einer Bewegung, einer Partei oder einer sonstigen Gruppe anzuschließen. Ich verabscheue Massenveranstaltungen und Gruppenausflüge. Fragt man mich nach meiner politischen Haltung, dann antworte ich: autodynamisch. Fragt man mich nach meiner religiösen Zugehörigkeit, sage ich: autoerotisch. Auf die Frage, welchen Einfluss ich als total autonomes Individuum auf die Lage meines Landes nehmen könnte, müsste ich zugeben: keinen umwälzenden, solange ich nicht zugleich eine materielle Kraft à la Berggruen oder Albrecht entfaltete. Materie entwickelt Anziehungskraft, sagte mein Physiklehrer und erklärte uns anhand eines 5-Mark-Scheins und eines 100-Mark-Scheins, wie unterschiedlich stark die Anziehung der Teilchen bei beiden ausfallen wird. Für die Romantiker unter den Lesern des Blogs sage ich deshalb: Mein Leben bestimmt das Erzählen, das Schreiben und die Liebe. Für die Realisten unter euch gebe ich zu, dass mein Leben von meiner Familie, vom Kampf mit dem Berliner Bildungssystem und der Bewältigung des bürgerlichen Selbstverwaltungsaufwands bestimmt wird, da ich meiner selbst leibeigen und selbständig bin und für alles die Verantwortung übernehmen möchte und muss. Und für die Materialisten unter euch gestehe ich ein, dass mein Leben seit Jahr und Tag von abwechselnden Geldnöten und Geldsegen, von Währungsreformen und Enteignungen geprägt und diesbezüglich abgehärtet ist.

Huxley beglückte den Leser mit dem Zitat

Kluge Menschen suchen sich die Erfahrungen selbst aus, die sie zu machen wünschen.

Wenn er damit Recht hätte, hätten einige von uns doch eine Wahl gehabt haben müssen, sich den Auswirkungen dieser Finanz- und Politikmisere zu entziehen? Aber Huxley unterliegt wie die meisten von uns dem Trugschluss, dass eine Wahl immer ein Akt wahrer Selbstbestimmung sei. Denn auf das, woraus du wählen kannst, hast du meist keinen Einfluss. Die Wahl als demokratisches Grundrecht eines jeden mündigen Bürgers ist für mich nicht zugleich die Rechtfertigung für Demokratie und Mitbestimmung. In Restaurants, beispielsweise, darf ich aus einem Angebot wählen. Wenn ich Glück habe, kann ich die Kartoffeln für Reis tauschen. Du bist auch nicht gern gesehen, wenn du zuviele „Umstände“ machst. Zuviel Mitbestimmung ist für die meisten zu anstrengend.

Wenn „Bürger“ und „Individuum“ aufeinandertreffen, entsteht nicht unbedingt eine Liebesbeziehung. Anarchistische Zungen würden sogar behaupten, beide schlössen einander aus. Aber Hand aufs Herz: Wer von uns hat schon Lust, den ganzen Tag mit dem Megaphon durch die Gegend zu rennen und „das System“ aufzumischen? Wer von uns möchte 24 h jeden Tag alles von A-Z selbst bestimmen? Ein Kennzeichen von Leben ist die Symmetrie von Anpassung u n d Widerstand. Das könnte man ruhig auch auf Gesellschaften übertragen. Individuum zu sein heißt doch nichts anderes, als mutig eigene Positionen im Leben einnehmen zu können und diese Positionen auch ebenso mutig wieder verlassen zu können. Ein Individuum ist nackt. Ein Bürger ist nie nackt. Er bekennt Farbe, verhält sich und steht in Beziehung zu einem größeren Gefüge. Ein Bürger-Individuum kann sich aus dem einen Gefüge herauslösen und in ein anderes einfügen. Und es kann jedes Gefüge zugleich genießen und ablehnen. Im nächsten Essay folgen die Analyse und praktische Anwendung aus dem Leben dazu. Übrigens, in der „Überwindung“ von Widerständen liegt sogar eine Art von Sublimation. Überwindung in der Bedeutung von: sie ertragen und sie besiegen. Wem das gefällt, der kann ruhig den Titel für diesen Essay selbst wählen. Wem nicht, der sollte das erst recht tun.

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THEATER http://superdemokraticos.com/themen/burger/theater/ Wed, 18 Aug 2010 07:20:27 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=857

Theaterplakat zu "Las Nenas de Pepe" von Gabriel Calderón.

Theater ist mein Leben. Ich glaube, es gibt keine dramatischere, melodramatischere, klischeehaftere Art, einen Text zu beginnen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mit 18 Jahren beschloss ich, dass ich mich dem Theater widmen würde und seitdem hat mein Leben nicht aufgehört, sich zu verändern. Theater ist nicht das, was ich in meinem Leben mache, sondern das Theater ist mein Leben. Ich denke und handle beim Aufstehen und ins Bett gehen in dem Koordinatensystem des Theaters. Ich erlebe die Stadt, das Land, die Welt durch die theatralische Linse, für die ich mich in meinem Leben entschied. Ich mache Theater und das Theater macht mich. Das klingt ein bisschen pupsig, simpel und billig, aber so ist es.

Ich kann Veränderungen in meinen Gedanken und in meinen alltäglichen Haltungen feststellen, die im Zusammenhang mit dem stehen, was in meinen Proben oder in einer Inszenierung passiert. Szenische Lösungen, die sich oft in Problemlösungen in anderen Bereichen meines Lebens übersetzen und viceversa. Wenn es mir in meinem Leben gut geht, mache ich besseres Theater, und wenn ich eine schlechte Zeit habe, erschaffe ich nur miserable Beziehungen in meinem Kreationsprozess. Ich denke nicht, dass das Allgemeingültigkeit besitzt, es ist einfach bei mir so.

Ich mache Theater nicht mit dem Ziel, dass es allen gefällt. Im Gegenteil, ich versuche verschiedene Geschmacksurteile zu erzeugen, Unterschiede zu fördern, und schon im Publikum vorhandene zu vertiefen. Ich tue nicht so, als ob ich nicht, wie alle Welt auch, geliebt werden möchte. Aber ich verfolge das nicht im Theater. Heiner Müller hat gesagt, dass die Zuschauer schon mit großen Unterschieden den Theatersaal betreten würden, und dass es vollkommen sinnlos sei, wenn das Theater danach streben würde, dass alle Zuschauer gleich dächten. Dass das faschistisch sei, und dem stimme ich zu.

Mir gefällt jenes Theater, das Differenzen vergrößert, so wie mir auch die Demokratien gefallen, die auf der Unterschiedlichkeit ihrer Bürger gründen und nicht auf deren Ähnlichkeiten. Ich glaube, dass eine Demokratie, die versucht, mit den Ähnlichkeiten zu arbeiten, die Unterschiede versteckt und verschiebt. Aus diesem Grund kehrten wir letztendlich zur Arbeit für Toleranz und Diversität zurück. Denn wir sind nicht alle gleich und wir sollten nicht alle gleich behandelt werden. Es gibt Menschen, die verwundbarer sind als man selbst, die angreifbarer und schwächer sind. Und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die stärker, mächtiger, stabiler sind.

Das Theater ist im Wesentlichen identisch mit den Beziehungen, die es herstellt, sowohl zwischen den poetischen Elementen der Inszenierung (Schauspieler, Kostüme, Beleuchtung, Bühnenbild, Musik) wie auch mit dem Zuschauer. Ich nehme die Welt, die mich umgibt, über diese Beziehungen wahr, definiere mich und vieles von dem, was ich fühle und denke anhand dieser Beziehungen. Wenn ich zu einer Gruppe von Beziehungen und folglich von Personen gehöre, kann es passieren, dass sich ein anderer, der nicht zu diesem Beziehungssystem gehört, aus dieser Welt ausgeschlossen fühlt und sich sodann eine Ideologie und Argumentationsweise zurecht legt, die begründet, warum es schlecht ist, zu meinem Beziehungsgeflecht zu gehören.

Zu einem Netz von Beziehungen dazuzugehören, ist einer der größten Wünsche überhaupt auf der Welt. Wir wollen alle zu einer Gruppe dazugehören, zu einer Klasse, zu einer Firma, zu einem Sektor. Und viele Menschen bauen ihr Glaubens- und Wertesystem auf dieser Gruppenzugehörigkeit auf. Ich habe es schon tausendmal erlebt, dass Personen aus dem einfachen Grund schlecht von anderen Gruppen reden, weil sie nicht Teil dieser Gruppen sind. Im Theater passiert es andauernd, das jemand schlecht von einem Stück spricht, weil er nicht dabei ist, oder man redet schlecht über einen Regisseur, weil dieser einen nie engagiert. Das Interessante daran ist, zu beobachten, wie das, was als ein Gefühl, ein Ressentiment beginnt, sogleich in eine ablehnende Argumentation verwandelt wird, bis man dann sagt, dass man nicht an einem bestimmten Ort oder in einem Stück mitarbeitet, weil man nicht einverstanden ist mit…bla…bla. Aber die Erfahrung zeigt, wie die Argumentationsweisen, die auf schwachen Überzeugungen fußen, bei vielen von uns dazu führen, dass wir am Ende etwas machen oder kreieren, was wir früher abgelehnt hätten. Und es geht nicht darum, das System von Beziehungen auszutricksen oder zu lockern, sondern darum, keine falschen argumentativen Eckpfeiler zu errichten, die auf Empfindlichkeiten gründen und nicht auf klugen Gedanken.

Dasselbe habe ich in meinem Leben beobachtet. Leute sprechen schlecht von einem Ort, weil sie nie dorthin eingeladen worden sind, Personen argumentieren gegen eine Kultur, nur weil sie nicht die ihre ist. An irgendeinem Punkt ist es so, als würde die Existenz des Anderen ein Angriff auf meine eigene Existenz darstellen, nur weil er existiert. Tschechow fragte es bereits: Warum schubsen sie sich, wenn doch Platz für alle da ist?

Mir gefällt es, wenn mein Theater (falls so etwas existiert) Ärger und Missfallen im Publikum auslöst. Sollen sie sich mit mir streiten und mit ihren eigenen Überzeugungen, unter sich und über ihre Ideen. Die Herausforderung besteht nicht darin, gutes Theater zu machen. Gutes Theater – das, welches gefällt, unterhält, beruhigt – zu machen, ist einfach und es gibt Hunderte von Kreisen, die damit ein gutes Geschäft machen. Die wahrhaftige Herausforderung besteht darin, ein Theater zu machen, das uns vor den Kopf stößt, das uns bewegt, das uns stört, das uns motiviert, alles zu überdenken … alles. Ein Theater, an dem wir zweifeln, so wie wir an uns selbst zweifeln. Ein Theater, das die tiefsten Wurzeln unser Überzeugungen umgräbt. Ein Theater, das uns dazu bringt, verärgert aus dem Saal zu gehen – nicht aus Langeweile – sondern, weil wir nicht einverstanden sind. Ein Theater, das sich mit uns als Zuschauer streitet und kein Einverständnis gibt. Theater, Leben, Theater, Leben.

„Der Rest ist Schweigen.“

Übersetzung: Anne Becker

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Ausscheidungen, Röcheln, Tod http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ausscheidungen-rocheln-tod/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ausscheidungen-rocheln-tod/#comments Wed, 11 Aug 2010 07:17:44 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=601
Deth of Field
Image by Hryck. via Flickr

Nara „Pionierin nationale Avantgarde“ misstönend und wohlklingend, liebt sich und bewaffnet sich „bis auf die Zähne“, sie wiederholt sich: „Ich habe einen Ausbruch/ ich habe eine Nation/ ich habe eine Revolution, wenn ich aus dieser Tür hinaustrete.“.

Jamila Medina. Ich, herrliche Tür: Ansichten einer Poesie mit Zwischenräumen

Revista Desliz 3, Kuba, 2009

Mein Körper ist kein Körper, er ist eine überinterpretierte Einheit, die zu viele Adjektive übrig hat und der zugleich die Fingernägel fehlen. Heute, hier im Westen, hier in Lateinamerika, hier in der Karibik, hier auf dieser Insel und in Havanna, ist ein Körper niemals ein Körper, sondern ein Ensemble von Worten, die Eigenschaften evozieren, aber die mögliche Stimme des Körpers ausschließen. Mit Glück schenkt der tropische Körper im Falle einer visuellen Überraschung ein paar spontane und eloquente Einsilber, die sich am ehesten an das annähern, was man sich unter dem Diskurs des Körpers vorstellen könnte.

Ein Körper ist übermäßig oft schlank, exquisit, leicht, brutal, abgegriffen, makellos und aufdringlich. Ein Körper Nicht-Körper, ist dieses Sprechen ohne Haare, Zähne und Flüssigkeiten. Während die Stadt sich immer häufiger in vitalen, organischen Metaphern erzählt, als sei sie ein Lebewesen, bleibt der Körper sich selbst blind. Die Glokalität buchstabiert sich wie ein Körper: Hier werden Informations„flüsse“ ausgetauscht, hier „zirkulieren“ Autos auf den Straßen, während sich zum Beispiel das Kapital aus dem Agrobusiness in Sinaloa „in den Händen des Drogenhandels“ befindet.  Die Stadt humanisiert sich, aber der Körper ist dennoch nicht da. Was ist letztlich das Menschliche? Müsst man diesen Begriff nicht genauso mit körperlicher Materie – man lese Schwindel, Röcheln und Ausscheidungen – auffüllen?

Also, versuchen wir, es einfach mal zu sagen: Das Wort zivil verlangt ein Individuum, das nicht vor seinem Körper davon rennt, sondern versteht, mit seinem Tod einen einsamen Dialog zu führen. Mit einem Körpers zu leben bedeutet auch, die Gewissheit eines nahe bevorstehenden Todes zu ertragen. Und ja, die Stammzellen machen Hoffnung. Aber wer möchte wahrhaftig die Unsterblichkeit? Und noch besser: Wer kann mit ihr leben?

Übersetzung: Anne Becker

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