Jorge Luis Borges – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Die Zukunft http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-zukunft/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/die-zukunft/#comments Sun, 24 Oct 2010 18:01:42 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3087

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Ich stimme René Hamann zu, mir gefallen Abschiede auch nicht. Dies hier ist ein Pilotprojekt, das jeden Moment wieder Gas geben könnte. Zudem verschwinden wir nicht ganz, wir nehmen nur ein bisschen das Tempo heraus, senken die Intensität.

Es ist schwierig, einer Idee eine physische Form, etwas Reales, zu geben, sie in eine juristische Person verwandeln. Es ist schwierig, einer Idee treu zu bleiben, wenn viele Personen gleichzeitig sie bestimmen und ausmachen und wenn sie zweisprachig ist. In Wirklichkeit kamen wir an viele Grenzen, so wie Borges es sehr treffend in „Las Ruinas Circulares“ (Die kreisförmigen Ruinen) beschreibt: „Das Ziel, das uns lenkte, war nicht unmöglich zu erreichen, aber es hatte etwas Übernatürliches. Ich möchte einen Menschen erträumen: Ich möchte ihn detailliert integer und ihn dann in die Realität entlassen. Dieses magische Vorhaben hat den gesamten Raum meiner Seele ermüdet.“ Oder es wird ihn später noch mehr ermüden, wenn wir uns hinsetzen, um darüber nachzudenken – hoffentlich mit eurer Hilfe – was und worüber hier eigentlich gesprochen wurde.

Wir werden in den Texten unserer Autoren Schlüsselwörter suchen, neue Konzepte, Schneisen, um zu verstehen, wohin uns die Finanzkrise in den vergangenen Jahren geführt hat, wie sich die Welt nach dem 11. September anfühlt, was es bedeutet, ein Staatsbürger zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es geschafft haben, ein generationelles Mosaik zu entwerfen, sondern vielmehr eines der Mittelschicht, ein sehr vielseitiges. Was wir gemeinsam haben, sind: der Zugang zur Technik, eine bürgerliche Erziehung und dass wir alle an der Uni die wichtigen französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts gelesen haben. Uns unterscheidet die Beziehung, die ein jeder mit seiner Sprache führt. Spanisch ist an keinem Ort der Welt eine Nationalsprache, ich habe eine gesamte Generation von Katalanen erlebt, die Spanisch sehr schlecht sprachen. Auch haben wir uns an das Falschpanisch von Typen wie Gombrowicz gewöhnt, allein zwischen 1910 und 1935 landeten vier Millionen Menschen, europäische Immigranten, in Buenos Aires. An der Grenze zwischen Paraguay und Bolivien spricht man ein unverständliches Deutsch, in den sich abschottenden mennonitischen Gemeinden tragen die Frauen Kopftücher, in Venezuela gibt es die exakte Kopie eines Dorfes im Schwarzwald und überall sieht man Menschen mit blauen Augen, mit hellerer Haut, Kinder der verarmten europäischen Siedler, die es sogar bis zum Gran Chaco, einem trockenen Dschungel zwischen Nordargentinien, Südbolivien und Paraguay, und an andere Orte geschafft haben, an die man sich heute nicht mehr erinnert, auch wenn die bürgerlichen Sehnsüchte dort intakt geblieben sind.

Dann ist da auch noch diese gesamte Generation von ausländischen Autorinnen und Autoren, die auf Deutsch schreiben, und die Deutschen, die heutzutage ihr Leben anderswo auf der Welt führen. Wie bildet sich Zivilisation heraus? Vor vielen Jahren kaufte ich in einem Antiquariat das Tagebuch eines preussischen Soldaten, der in Hamburg in See stach und von Buenos Aires aus sogar die Ufer des Pilcomayo erreichte, ein Fluss in Zentrallateinamerika. Dass Hesse sich ein wenig von einer ähnlichen Geschichte hat inspirieren lassen, um Siddharta zu schreiben, erscheint mir durchaus möglich; nur so kann ich mir erklären, dass in der Bibliothek meines Großvaters im Chaco ein Siddharta stand, ein billiges Buch, erschienen in Argentinien – und das, obwohl in meiner Familie kein einziger Deutscher war.

Wir möchten uns bei unseren Übersetzerinnen und Übersetzern für ihre Arbeit bedanken, einige Texte waren wirkliche Herausforderungen. Wir bedanken uns vor allem bei unserem gesamten Berliner Team: bei den Nübel-Brüdern für das Erscheinungsbild, das sie unserem Spaceship gegeben haben, bei Adriana Bernal für den Überblick über alle Rechnungen, bei Valia Carvalho und Oscar Seca für Illustrationen, bei Sudaca Power, María Mandarina, Inti Che, Kid Watusi y Grace Kellyfür die Musik, bei Acud, La PulqueriaHotel Bar y Madame Sata für Räume und Gastfreundschaft, bei Der Freitag, Wilde Leser, Latinale, Die SpukKommune und allen Freunden, die uns geholfen haben, die Ideen zu verbreiten. Nun treten wir in die zweite Phase unseres Projekts ein und laden alle unsere Leser und Autoren ein, uns bei der Auswahl des Materials für ein superdemokratisches Buch zu helfen. Wir kehren zum Start zurück. Eure Vorschläge bitte an:

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Die Bibliothek von Babel http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-bibliothek-von-babel/ Wed, 13 Oct 2010 11:37:51 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2908
Die Frankfurter Buchmesse könnte der Bibliothek von Babel von Borges eigentlich sehr ähnlich sein, nur, dass man in diesem Fall von unendlichen Hallen spricht und nicht von Sechsecken und dass hier alle Exemplare, die berührbaren und die unberührbaren, zum Verkauf stehen. Hier ein bestimmtes Buch zu suchen, ist wie eine Nadel im Heuhaufen zu suchen. Und das Paradoxe daran ist, dass die weltweit größte Ausstellung von Verlagsneuheiten in einer Sprache stattfindet, die nur ein paar Millionen Menschen verstehen.

Bild von Paul Mollig

Selten habe ich mich so glücklich gefühlt, auf Deutsch lesen zu können. All die Jahre des Lernens, der Arbeit, haben es ermöglicht, meine Neugier unendlich zu machen. Genau wie in der Erzählung von Jorge Luís gibt es auch hier kein individuelles oder globales Problem, für das es keine eloquente Lösung gäbe. Von ranzigen Romanen für Mitglieder des Opus über japanische Mangas für große Kinder, die ihre auffälligen Kostüme in den Fluren spazieren tragen (Figuren, die ich in meiner Ignoranz auf den Namen Pokemons getauft habe) bis hin zu wahren Kunstwerken, die aus den entlegensten Ecken der Welt kommen.

Für einen durchschnittlichen Leser ist der erste Tag in diesem Labyrinth von unschätzbarem Glück. Die Habgier treibt einen zu einem verrückten Wettlauf durch die Gänge an, um Stunde für Stunde gedruckte Seiten anzusehen, Buchrücken, Titel, Wörter, dazu zu versuchen, all die Kombinationsmöglichkeiten, die das Alphabet bietet, zu betrachten. Am ersten Tag liegen alle auf der Lauer, in der Erwartung auf ihre Rechtfertigung zu treffen, auf jenes Buch, dass die passende Botschaft enthält und die persönliche Zukunft bestimmen wird. Das Gelände ist voller Eroberer oder offizieller Sucher, bewaffnet mit ihren Katalogen, die Geschäfte abschließen, während sie auf fettigen Würstchen herumkauen, die so teuer sind, dass man ihr Gewicht in Gold aufwiegen könnte.

Am zweiten Tag verändern sich die Dinge, die ungestüme Hoffnung des Durchschnitts-Menschen wird durch die Beklommenheit ersetzt, durch die Erkenntnis, dass viele fundamentale Bücher in den Regalen verborgen sind. Und dass er möglicherweise niemals in der Lage sein wird, die Buchrücken und die Klappentexte von all diesen Büchern zu lesen, die wichtig scheinen und unbeachtet vorüberziehen. Die Pokemons laden ab dem dritten Tag dazu ein, die Suche abzubrechen und sich ihrer naiven Bewegung anzuschließen, bei der die Worte fast gänzlich durch Bilder, durch Zeichnungen, ersetzt werden und der Sinn seine gesamte Wichtigkeit verliert.

Unter denen, die vier Tage am Stück auf der Messe überlebt haben, gibt es Stimmen, die behaupten, dass die Bibliothek keinerlei Sinn ergibt, dass der Unsinn der Industrie zu einem unverantwortlichen Gebrauch von Tausenden und Abertausenden von Millionen an gedruckten Blättern führt, die den Bäumen gewaltsam abgerissen wurden. Am fünften Tag kann bekanntermaßen niemand mehr eine einzige Silbe formulieren, die nicht erfüllt ist von der Zärtlichkeit und den Ängsten der uns vorangegangenen Menschheit, auch wenn die blonden Konzern-Klone versuchen, uns mit ihren Pressemitteilungen vom Gegenteil zu überzeugen. In Frankfurt, wie auch auf dem restlichen Buchmarkt, sieht man die Innovationsmöglichkeit in den Kombinationen des schon Existierenden und der tatkräftigen Arbeit mit den Freunden ausgestellt. Ich werde niemals aufhören, ein Fan der unabhängigen Verlage zu sein.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Globusse, Balkane und Literatur http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/espanol-globos-balcanes-y-literatura/ Mon, 27 Sep 2010 15:01:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2230 Wir waren 18 Jahre alt, ein bewegtes Jahrhundert neigte sich dem Ende entgegen und ich und mein Freund Boris suchten wie Drogensüchtige nach Büchern. Da es in unserer Stadt keine Buchhandlungen (bzw. eine mit geringer Auswahl) gab, konzentrierten wir unsere Suche auf die Bücherregale unserer Verwandten und Freunde: Wir fragten nach, liehen Bücher aus oder klauten welche (aus den Bibliotheken, die durch Einschränkungen, schlechten Geschmack und Betriebsroutine verwaist waren). Es war uns egal; wir machten Gebrauch, von dem, was wir fanden: Wir waren glücklich in unserer Beschränkung. Das Lesen hielt uns an, immer mehr zu lesen, ohne dass wir sonderlich an die Zukunft oder die Konsequenzen dachten. Eines Tages erreichte uns das Gerücht, dass Herr Soundso angeblich die gesammelten Werke von Jorge Luis Borges in der Emecé-Ausgabe von 1979 besaß. Nachdem wir die ungefähre Adresse des besagten Besitzers ermittelt hatten, fuhren wir auf Boris’ schrottreifen Motorrad los und klingelten zwischen zwei Straßen an jeder Haustür, bis wir an die richtige Tür gelangten. Ein Typ, den wir noch nie gesehen hatten, öffnete uns die Tür, verschwand nach einer kurzen Erklärung von Boris wieder in der Wohnung und kam mit besagter Ausgabe in grünem Einband wieder. Wir fuhren sofort zum Kopierladen und brachten ihm nach einer Stunde sein Buch zurück. Dass es keine Bücher gab (heute gibt es auch nicht viel mehr als damals), schien mir auch ein Symptom des spießigen und obskuren Angestelltenprofils in der Stadtverwaltung: Es ist schließlich leichter, jemanden zu beherrschen, der uninformiert ist oder nicht weiß, was er mit Informationen anfangen soll.

Uns war die Welt damals weit und fremd, auch wenn dies gerade dabei war, sich zu ändern. Wir sollten bald dazu gezwungen werden, unsere Antennen vom analogischen auf das digitale Modell umzustellen. Ein Jahr bevor das 20. Jahrhundert zu Ende ging, konnten wir schon Zeitungen und Magazine im Internet lesen, die vorher für uns nirgends zugänglich gewesen und in unserem monothematischen Zirkel mythischen Status genossen hatten: Mit einem Klick fühlten wir uns selbst gegenüber nun wahrhaft zeitgenössisch. Aber in der „Realität“ zirkulierten weiterhin sehr wenige Bücher und der Klang der „Realität“ hatte mehr Akkorde in Moll denn in Dur: übertrieben hohe Buchpreise bei Lumpengehältern, deren Kaufkraft jeden Tag abnahm, Geringschätzung der Rolle der Literatur, das Aufkommen multinationaler Konsortien, die sich anschickten, unsere „Nationalliteratur“ zu umsäumen (indem sie tendenziöse Debatten führten, Autoren und Werke ignorierten, den Dialog zwischen literarischen und linguistischen Traditionen, die sich nicht um ihr mittelmäßiges Kriterium der nationalen Grenzen scheren, nicht berücksichtigten, indem sie Schulbuchtexte herausbrachten, in denen der Sinn der Literatur in der erzieherischen Funktion verloren ging etc.). Die von diesen Konsortien geförderte „Nationalliteratur“ war in vielen Fällen nichts als ein ideologischer Pakt zwischen einer Öffentlichkeit (die diese teuren Bücher kaufen und die Lektüre dieser klassistischen Bücher genießen konnte) und einem Autoren (der oftmals aus eben dieser sehr begrenzten Öffentlichkeit stammte). Viele Aspekte haben diesen perversen Effekt zu unterminieren begonnen, unter anderem der Zugang zu Literatur über das Internet.

Auch wenn es hier keine Buchhandlungen gibt, die an Supermärkte erinnern, in denen Bücher wie Waren mit einem Verfallsdatum verkauft werden (wodurch viele wertvolle Bücher in Vergessenheit geraten), so verharren wir doch in der Position eines kulturellen Flohmarkts, auf den nur die Abfallprodukte und Überschüsse der großen Märkte gelangen. Das, was einige Autoren (unter anderen Piglia und Link) die „Balkanisierung“ der lateinamerikanischen Literatur nennen. Ramsch wie Selbsthilfeliteratur, miserable Übersetzungen von Klassikern, unechte Bestseller, aber fast nie jene Werke, die unsere (gemeinsame, aber unendlich vielseitige) Sprache transformieren und erweitern, die unser Verständnis davon, was es heißt, Lateinamerikaner zu sein, verändern, die den Kanon reformieren etc. Solange das so bleibt, werden wir dank des Internets – mit all seinen Begrenzungen und unseren Illusionen, mit Geduld, aber auch mit Zorn – weiter Widerstand leisten. Seiten aus Sandstein, die ich mit meinem Freund Boris weiter verschlingen werde. So einfach geben wir nicht auf.

Übersetzung: Anne Becker

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