Historias – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Meine Großmutter, die Zeitungen, … http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/meine-grosmutter-die-zeitungen/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/meine-grosmutter-die-zeitungen/#comments Tue, 13 Jul 2010 08:00:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=447 Foto aus dem Familienalbum

Foto aus dem Familienalbum.

Geschichte ist nichts anderes als das alltägliche Leben mit uns in der Hauptrolle. Auch wenn unsere öffentliche Existenz sich darauf beschränken sollte, am nächsten Kiosk nur deshalb die Zeitung zu kaufen, um darin Fisch einzuwickeln. Es ist möglich, dass Großmutter uns zu dieser Einwickeltechnik geraten hat, „nichts hält den Fisch besser frisch auf dem Weg vom Markt nach Hause“. Es ist möglich, dass unser Name Liz ist und dass die passende Aufgabe für diesen Tag darin besteht, den Fisch holen zu gehen. Dann, wenn die feuchte und knittrige Zeitung weggeschmissen sein wird und Großmutter bemerkt, wie meine neugierigen Augen auf eine zerknüllte, halb aus dem Mülleimer ragende Seite schielen, dann wird sie beginnen, von der Geschichte zu erzählen. Nicht von der Geschichte, wie sie von der Presse blitzschnell hingekleckst wird, sondern von jener anderen Geschichte, die Großmutter sich erinnert, erlebt zu haben. Wenn sie mit dem Erzählen aussetzt, dann nur, um in den Pausen kulinarische Zuckungen und weibliche Flüche unterzubringen.

Unter dem Einfluss des unsichtbaren Inhaltsstoffs, den die Zwiebel beim Schneiden ausdünstet, brach ich in bitterliches, ignoriertes Schluchzen aus, wenn mir meine Großmutter, als ich klein war, ihre Geschichte erzählte. Die Wärme ihres Atems wurde vielleicht vom Knoblauchkauen verursacht oder vom Geschmack einer Vergangenheit, die mit unwirschen Schritten der Gegenwart auf der Spur war. Wenn ihr ein Adjektiv fehlte, suchte sie nicht im abstrakten Wortschatz der Politiker oder Literaturdozenten, sondern schöpfte aus ihrer eigenen Alltagserfahrung mit ihren Lebensmitteln und Haushaltsgeräten. Großmutter sagte nicht solche Sätze wie „niederträchtiger Präsident“ und „unsere Nation verteidigen“. Sie sagte „jener, der Koch war und dann Chefkoch wurde“ und „diese, die immer danach gucken, welchen Kuchen sie in den Ofen schieben“.

Eines Tages starb sie. Die Lust, weiter die Vergangenheit anzurufen, war ihr entgangen, weil sie spürte, dass sich die Zukunft verdunkelte und die Gegenwart sich in ihrer Kehle zuschnürte, so dass die Zeit schmerzhafte Fratzen schnitt. Als es passierte, war ich nicht darauf vorbereitet, sie gehen zu lassen. Aber ihre kleinen Geschichten, hartnäckige Schattierungen der hegemonialen Geschichte, sind mir geblieben.

Ich denke, dass die Geschichte diese bleibende Beständigkeit ist. Der emotionale Zustand, der von einer Erinnerung ausgelöst wird; das Gedächtnis, das in der Lage ist, die Gegenwart zu durchdringen.

Übersetzung: Anne Becker

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Geschichte und Geschichten http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-und-geschichten/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-und-geschichten/#comments Wed, 07 Jul 2010 14:03:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=431 Augenscheinlich sind mir Geschichten wichtiger als Geschichte, sonst wäre ich ja Historikerin und nicht Schriftstellerin geworden – doch Geschichte spielt immer eine entscheidende Rolle. Ob man es möchte oder nicht. Auch beim Schreiben.

Literatur würde ohne althergebrachte Sprache und Alphabet, die beide schon allein Beweis dafür sind, wie wir aus und mit der Vergangenheit leben, gar nicht existieren. Auch das Geschichtenerzählen selbst ist dem Betrachten historischer Zusammenhänge nicht unähnlich, schließlich muss der Autor herausfinden, was der Kern des Geschehens ist, was die Figuren getrieben hat, warum sie so handeln wie sie handeln, um am Ende aus diesen Einzelfäden das Handlungsnetz zu weben.

Doch das einfachste und offensichtlichste ist natürlich der Umstand, dass Geschichte die Menschen formt. Lange bevor wir geboren werden. Ich bin nur deshalb die Person, also die Autorin, die ich bin, weil die Geschichte meines Landes einen so massiven Einfluss auf das Geschick meiner Familie genommen hat – und damit auf mein Leben. Meine Großmutter verlor als junge Frau durch den II. Weltkrieg alles, was ihr bis dahin selbstverständlich erschien: ihre Heimat, ihr Elternhaus, fast alle Verwandten, die Freunde, die Orte ihrer Kindheit, ihren Dialekt. Mein Großvater, der in seinem vom Krieg völlig unberührt gebliebenen Heimatdorf einen kleinen Skandal verursachte, als er ein Flüchtlingsmädchen und keine Einheimische heiratete, starb 1967 im Alter von 42 Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen in einem Stasi-Knast. Weder meine Mutter, die damals noch ein Kind war, noch meine Großmutter haben diesen Verlust jemals verarbeitet. Meine eigene Kindheit war vor diesem Hintergrund im Wesentlichen geprägt von Bewachung und dem Wunsch nach Freiheit. Dass ich eine höhere Schule besuchen durfte, verdanke ich ausschließlich dem Engagement einer mutigen Frau.

Selbstverständlich haben diese Dinge mich geprägt. Und mit mir prägen sie auch meine Geschichten. Niemand von uns fällt einfach so aus der Welt. Oder in sie hinein. Die unauflösliche Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit bildet den einen Raum unseres Daseins, in dessen Inneren wir uns ein Leben lang bewegen – und dem wir nicht entweichen können. Man versteht das Heute nur, wenn man es zusammen mit dem Gestern betrachtet. Das ist keine Frage von Interesse.

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