Gobierno – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 MaschinenMilchMüll http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/maschinenmilchmull/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/maschinenmilchmull/#comments Mon, 29 Aug 2011 07:00:40 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4965 nach Heiner Müller

Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.

Beschirmt von Edelstahl, Glasbeton, Hartz IV. Dahinter mein Ekel. Er ist ein Privileg. Ich bin ein Privilegierter, der ich die Zeit habe, diesen Essay zu schreiben. Wir haben 1989 unsere Revolution gehabt, auch wenn es eigentlich nur eine Konterrevolution war; jetzt macht ihr erst einmal eure eigene. In der Einsamkeit der Flughäfen atme ich auf. Ein Königreich für einen Mörder ist H&M. Gelächter aus toten Bäuchen. In Blut, Feigheit und Dummheit erstickt die Würde die Hoffnung der Generationen. Die erniedrigten Körper der Frauen. Alle ohne die Würde des Messers, des Schlagrings, der Faust. Kurzum: Armut ohne Würde. Ein zugebauter Alexanderplatz, damit sich ein 1989 nicht mehr wiederholt. Gesichter mit den Narben der Konsumschlacht. Ein Streitwagen, der von den Werbetafeln blitzt, geh ich durch Straßen, Discounter …, die nie ein Machthaber betritt. Der tägliche Ekel vom Kampf um die Posten, Stimmen, Bankkonten. Der tägliche Ekel in die Visagen der Macher gekerbt. Ekel haftet den Lügen an, die geglaubt werden. Den Lügen, die von den Lügnern kommen, von niemandem sonst. Die Lügen, die geglaubt werden. Denn dein, mein Ekel, ist das Nichts. Unseren täglichen Mord gib uns nicht mehr heute. Unseren täglichen Mord gib uns wie das Abschalten jetzt, sofort. Wie buchstabiert man „Gemütlichkeit“? Ekel haftet dem präparierten Geschwätz des Power-Point-Deutschs in den Radios an, die den 8- bis 12-Stunden-Arbeitstakt vorgeben, haftet dem verordneten Frohsinn der Fanmeilen an (in den USA meint Public Viewing die öffentliche Aufbahrung eines Toten). Ekel haftet dem Fernsehen an, dem Internet, das aus nichts als Spinnen und Fliegen besteht. Ekel haftet allem an, was da noch kommt.

Einig mit meinem ungeteilten Selbst gehe ich nach Hause und schlage die Zeit tot. Die ausgestopften Zombies in den Pornos bewegen keine Hand. In ihren Vaginen verfaulen die Penisse. Die sozialen Netzwerke sind das Alibi einer Generation, die zu feige ist, um das, was man Protest nennt, auf die Straße zu tragen. Die Dichter haben ihre Gesichter in den Benutzerprofils ihrer Benutzerkonten hochgeladen. Die Gedichtbände sind verloren gegangen. Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase, aufatmend hinter der Flügeltür, blutend in der Menge hat sich meine Lyrik nicht verkauft. Ich bin die Datenbank. Meine lyrischen Ichs sind Speichel und Spucknapf, Messer und Wunde, Zahn und Gurgel, Hals und Strick. Ich füttere mit meinen Daten die Computer. Ich bin mein Gefangener.

Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung. Auf dem Balkon eines Regierungsgebäudes ein Mann mit schlecht sitzendem Anzug, der so lange redet, bis ihn der erste Stein trifft und er sich ebenfalls hinter die Tür aus Panzerglas zurückziehen muss. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Wenn sich der Zug dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einer Polizeiabsperrung zum Stehen. Einzelne Polizisten, wenn sie im Weg sind, werden an den Straßenrand gespült. Langsame Fahrt einer Handykamera durch eine Einbahnstraße auf einen unwiderruflichen Parkplatz zu, der von bewaffneten Fußgängern umstellt ist. Die Straße gehört den Fußgängern. Während der Arbeitszeit und entgegen der Straßenverkehrsordnung. Der Aufstand beginnt immer als Spaziergang. Meine Lyrik, wenn sie sich noch verkaufen würde, verkaufte sich in der Zeit des Aufstands. Auf den Sturz der Metaphern folgt nach einer angemessenen Zeit immer der Aufstand.

Ich bin nicht H&M. Ich kaufe dort nicht ein. Ich schreibe nicht mehr mit … Eine Lyrik, die auch mich nicht mehr interessiert. Um mich herum werden, ohne dass ich gefragt worden bin, die alten Fassaden hochgezogen. Von Leuten, die meine Lyrik noch nie interessiert hat, für Leute, die sie nie etwas angehen wird. Eine überalterte Gesellschaft hat sich nie dem Tod gestellt. Die Sehnsucht nach der Monarchie ist ein Stadtschloss.

Gekleidet in mein Blut gehe ich auf die Straße. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust, die mein Herz war. Ich werfe meine Kleidung ins Feuer. Ich lege Feuer an mein Gefängnis.

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Wer ist das denn? http://superdemokraticos.com/laender/venezuela/wer-ist-das-denn/ Wed, 15 Jun 2011 07:01:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4109 1.

In meiner dritten Nacht in Sao Paulo, Brasilien, unterhielt ich mich mit ein paar Typen, die ich gerade eben auf einer Party kennengelernt hatte: Geschichtsprofessoren, Produzenten, Philosophen und Künstler. Das war 2005. Es gab tolle Live-Musik und teure Cachaça. Dennoch haben wir es irgendwie geschafft, am Ende der Nacht bei den Themen Sex und Politik zu landen. Zwei Themen, die – und das wissen wir ‚Männer in Aktion‘ – weniger dazu da sind, darüber zu reden, als sie zu praktizieren.

Möglicherweise lag es daran, dass ich die Sprache ziemlich schlecht beherrschte, aber als ich einmal aus der Küche zurückkam, mit vernebeltem Blick und einer Flasche in jeder Hand, wurde mir bewusst, dass für meine Gesprächspartner das zweite Thema wesentlich interessanter war als das erste. Denn nach den anarchistischen Bewegungen, den alternativen Medien und dem Guerillakino, fiel er, der Name, besser gesagt der Nachname, auf den alle Venezolaner im Ausland seit etwa zehn Jahren angesprochen werden, und zwar immer in diesem fragenden Ton: Chávez?

Ich lache dann zuerst immer und wenn ich auf einer Party bin, frage ich nach einem neuen Drink. Und wenn es keinen neuen Drink gibt, denke ich an Sex. Aber ich antworte. Zuerst mit einer Scherzfrage: „Wer ist das denn? Den kenne ich gar nicht.“ Danach erzähl ich irgendetwas, das mir einfällt, um zu widersprechen.

Aber dieses eine Mal habe ich das Orakel gemimt: „Was wollt ihr wissen?“

Eine gute Freundin, die ich wegen ihres besonnenen Charakters, ihrer Lebenserfahrung und einer Sache, die ich gerne als mütterliche Klarheit interpretiere, sehr schätze, sagt immer zu mir: „Das, was in Venezuela derzeit passiert, ist wahnsinnig interessant… “, dann legt sie eine Pause ein und beendet den Satz: „ …wenn wir in Europa leben würden.“

So ungefähr wollte auch ich meinen neuen Kumpels aus jener bilingualen Nacht antworten, aber da fiel mir etwas Besseres ein: Ich lud sie zu mir nach Hause ein, so viele Tage sie auch bleiben wollen. Sie sollen zum Weltsozialforum kommen, das tatsächlich im ersten Quartal des Jahres 2006 in Caracas stattfand.

2.

Während der Feierlichkeiten dieses bezaubernden Massen-Events im darauffolgenden Jahr schaffte es ein Arbeitskollege, eine Retro-Hippie-Touristin von seiner tiefen Bewunderung für den Präsident überzeugen zu können, da dieser, wie er ihr immer wieder versicherte, keine Kosten und Mühen gescheut habe, um die U-Bahn in Caracas in Rekordzeit und nur für sie alle erbauen zu lassen. Und hier ist sie, sagte er – und ich stelle mir vor, wie er erst ihre Augen darauf lenkte, bevor er ihre Hand nahm.

Die Frau hat sich augenblicklich verliebt. In meinen Freund, in die U-Bahn und in Chávez. Mein Freund hat eine sehr zielstrebige politische Meinung: Er zielt immer auf die Mitte, genau auf den Punkt, der zwischen den Beinen der Frauen liegt. Man kann also sagen, in diesem Moment war er ein Diplomat. Er hat mir nie erzählt, ob er schlussendlich Sex mit der Ausländerin hatte oder nicht, aber wenn er hatte, kann wohl niemand verneinen, dass ein geringfügiger Anteil des Zustandekommens dieses Ficks doch auf die Lügen zurückzuführen ist, die sich von der Macht des Präsidenten ableiten lassen.

Die Lüge braucht die Wahrheit, um leben zu können, aber vor allem braucht sie Zeit um zu existieren. Die Lüge gibt es erst, wenn sie sich entfaltet hat, wenn sie geteilt wird, wenn sie hinausgeschrien wird. Aber sie hat auch ein Problem: Sie kennt keine Entfernungen und verändert sich je nach Geographie.

Diese Erfahrung mussten auch die beiden tapferen Brasilianer machen, die es tatsächlich wagten, zu mir zu kommen und bei mir zu Hause zu wohnen. Damals lebte ich in einem kleinen Anbau, zusammen mit meiner Freundin, die allerdings jetzt mit ihrem neuen Freund in Europa lebt und ununterbrochen von den Vorzügen des Fahrradfahrens spricht– um nur eines der Dinge zu erwähnen.

Dieses tapfere, glückliche Paar, beide Liebhaber des anti-imperialistischen Diskurs Chávez, durchreisten verschiedene Städte in Venezuela und machten auch Halt in Caracas. Er wurde krank, und sie pflegte ihn so gut sie konnte. Sie mussten sich damit abfinden zu akzeptieren, dass diese Regierung noch in den Kinderschuhen steckte, und sie stellten auch fest, dass die Preise der Produkte und Dienstleistungen unverhältnismäßig hoch im Vergleich zu den Mindestlöhnen und Durchschnittsgehältern waren, aber dass es von außen betrachtet besser wirke. Ich wollte nicht, dass sie desillusioniert das Land verließen, und meinte zu ihnen, dass das Gleichgewicht wiederhergestellt werden könne, wenn man verstünde, dass es auch von innen heraus betrachtet viele Menschen gibt, die es gerne schlechter sehen wollen würden.

Schon kurz nach Beginn seiner Amtszeit etablierte sich bei vielen Venezolanern, die ich kenne, eine einfache Formel, um die nationale Politik analysieren zu können: Wenn dir Chávez gefällt, verteidigst du ihn, wenn er dir nicht gefällt, kritisierst du ihn. Ende der Geschichte. Jeglicher Zweifel verortet dich auf der jeweiligen Seite oder – und das ist noch viel schlimmer – in einem unakzeptablen Limbus. Einem schwarzen Loch. Chávez hat mittlerweile sehr viel Macht an sich gezogen. Er konfiszierte Schuld und Verdienst. So ziemlich alles, was passiert, unterliegt seiner Verantwortung. Geht es dem Land gut, ist das so dank ihm und seiner Politik. Geht es dem Land schlecht, dann liegt das ebenfalls daran – obwohl des Öfteren auch die abgedroschenen Phrasen der Medien ins Spiel gebracht werden.

3.

Ich weigere mich, an dieser automatischen Lüge teilzunehmen. Zwölf Jahre bevor er an die Macht kam und einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts verkaufte, der wohl noch hundert Jahre braucht, bis er sich tatsächlich findet, kam ihm – nur um ein Beispiel zu nennen – eine Sache in den Kopf, die er „Misión Vivienda“ nannte. Bei dieser Mission wollte er nichts anderes als den Bau von Millionen von Häusern für Millionen von Menschen anregen, die keine Häuser hatten. Das wäre ehrenhaft und begrüßenswert gewesen, wenn Indikatoren der Makroökonomie und der Produktion nicht ein Bild der Realität konstruieren würden, welches das verblüffende Gegenteil davon aufzeigt.

Ich nahm nicht nur Teil an einer journalistischen Untersuchung zu diesem Immobilienbetrug, der die Unter- und Mittelschicht Venezuelas empfindlich traf und eine Konsequenz aus der Korruption, der niedrigen Produktion von Stahlstreben und Beton und der Konfrontation des öffentlichen Sektors mit den privaten Baufirmen des Landes war, sondern ich habe zudem auch noch einen verwegenen Umzugsdurchschnitt: Pro Lebensjahr bin ich 0,87 Mal umgezogen. Sollte ich vor Oktober diesen Jahres erneut umziehen, steigt dieser Schnitt auf 0,90.

Somit weiß ich, was es heißt, unter Obdachlosigkeit zu leiden. Somit hätte ich mich wahnsinnig darüber gefreut, wenn dieses Versprechen, dass ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl gegeben wurde, zur Freude vieler Leute gehalten worden wäre. Aber ich bin nicht die Touristin aus der U-Bahn. Und deshalb hätte ich es zwar gerne, glaube aber nicht mal auf lange Sicht daran, dass es sich erfüllen kann. So ist das mit diesem Land. Als Chávez versprach, seinen Namen zu ändern, wenn es ein Jahr nach seinem Amtsantritt immer noch bedürftige Kinder geben würde, war die Lüge noch nicht vollzogen. Aber so sind Revolutionen nun mal, sie fordern neue Paradigmen. Der tatsächliche Preis, der einen Mann antreibt, der so sehr von der Macht, von sich selbst und von der Geschichte begeistert ist, führt meist auch die Bürde der Erinnerung mit sich. Nun sind zwölf Jahre vergangen, und soweit ich weiß, heißt er immer noch Hugo.

In Fällen wie diesen sollte man an die Kraft des Wortes erinnern. Dinge anders zu benennen, bietet andere Perspektiven, sich neue Möglichkeiten vorzustellen und diese auszubauen. Und genau das ist es, zwischen den positiven sozialen Maßnahmen und einer langen Liste von Niederlagen, was bislang gemacht wurde. Wo es früher eine Realität mit einem Namen gab, existiert nun eine ähnliche Realität, sei sie besser oder schlechter, aber unter einem anderen Namen. Dieser Name vermittelt vor allem Hoffnung für die Ärmsten der Armen. Und ja, natürlich, das birgt etwas Revolutionäres, aber eher auf einer populistischen als auf einer sozialistischen Ebene. In Zukunft werden keine Lügen mehr existieren. Und ein guter Politiker wird ebenso wie ein guter Künstler wissen, wie schon Antonio Machado schrieb, dass die Wahrheit auch nur erfunden wird.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Der Ort, an dem ich wohne http://superdemokraticos.com/themen/burger/der-ort-an-dem-ich-wohne/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/der-ort-an-dem-ich-wohne/#comments Fri, 27 Aug 2010 07:04:02 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1291 Mehr als die Situation meines Heimatlandes interessiert mich die Situation der Stadt, in der ich lebe. Caracas hat zwischen 4 und 8 Millionen Einwohner – je nachdem, welche Meinung gerade diensthabend ist; zwischen 22 und 80 Tote pro Woche, je nachdem welche Zeitung darüber berichtet oder je nach Beamtem, der die Zahlen präsentiert; es gibt sieben Rathäuser, aber eines, das „übergeordnet” genannt wird, und angeblich die anderen fünf delegiert, das arbeitet nicht, oder besser gesagt, man lässt es nicht arbeiten. Denn dieses siebte, das gibt es erst seit kurzem und es ist eigens von der exekutiven Macht eingerichtet worden, der Macht, die in Venezuela alle anderen Mächte dominiert: Es ist das Rathaus der Regierung und hat nun den größten Einfluss. Oder eben auch nicht.

Auf jeden Fall ist es ein Geldkuchen, der hierhin und dahin fließt, und man selbst, als Bürger oder Fußgänger, der weder sehr arm, noch sehr reich, noch ein großer Künstler in diesem Spiel der gewählten Politik ist, weiß nicht, ob diese Gelder an ihr Ziel kommen oder ob sie überhaupt den Ort erreichen, für den sie bestimmt sind. Jedenfalls gibt es sieben Rathäuser, aber es könnten auch sechs sein oder fünfeinhalb. In dieser Stadt gelten genaue Zahlen als ein unnötiger Luxus.

Jedes einzelne dieser fünfeinhalb oder sieben Rathäuser hat sein eigenes präventives Sicherheitssystem: Fünf verfügen über einen Polizeiapparat, der sich in Brigaden unterteilt, um Festnahmen und Vollzüge durchführen zu können, wenn es für notwendig erachten wird. Manche von ihnen regulieren sogar institutionell den Verkehr und die reibungslose Zirkulation der Autos, obwohl es auch eine Institution gibt, das Ministerium für Verkehr und Transportwesen, das über Beamte verfügt, die genaue diese Aufgaben ausüben sollten.

Ich habe gelesen, dass sich, laut der Aussage desjenigen, der 2008 Präsident dieser Institution war, die Hauptstadt mit 40 % des Fuhrparks von ganz Venezuela schmückt, und dass in jenem Jahr über 2 Millionen Autos täglich durch die Stadt fuhren, 400.000 davon, um von einem Bundesstaat zum anderen zu gelangen. Heute müssten es 100.000 mehr sein, wenn wir mal annehmen, dass jeder zweite Einwohner in Caracas ein Auto hat.

Oder, gut, vielleicht jeder vierte. Kommt darauf an.

Bis vor ein paar Jahren war die Rush Hour ungefähr zwischen 6 und 8 Uhr morgens, in der Mittagszeit und zwischen 5 und 7 Uhr abends. Heutzutage runden wir auf: zwischen 6 Uhr morgens und 7 Uhr abends, oder noch ein bisschen länger, kann man in einem Stau steckenbleiben, der ein bis zwei Stunden kostet. Wenn du also in deinem Auto oder im oberirdischen öffentlichen Nahverkehr sitzt, entspann dich, du kannst sowieso nicht wirklich was tun.

Caracas hat viele Parks. Es ist eine graue Stadt, mit grünen Muttermalen, den Blick aufs karibische Meer gerichtet, mit riesigen Gipfeln, auf denen die Spaziergänger herumklettern, die sich mit der Natur verbunden fühlen wollen, die Caracas wie Haare umschließen, und mit einem ziemlich blauen Himmel. Der Bart und die Flaumhaare des Körpers, um in diesem Bild zu bleiben, waren Berge voller Bäume, voller diagonaler, unbebauter und brachliegender Ländereien und voller Hügel. Mittlerweile sind sie voller selbstgebauter Häuser, gebaut aus Ziegelsteinen, Zink, Zement, Hoffnung und, abhängig von der Gegend,  viel Angst – wie wenn man denkt, es wird heftig regnen, und dann regnet es wirklich.

In Caracas gibt es mindestens 35 Einkaufszentren der gleichen Kette. Hier gibt es die größten, die mit dem schicken Namen, dem doppelten Konsonanten, in kursiver Schrift. Diese – ja, ist gut, ich erkläre den Witz – diese Malls, gemeinsam mit hunderten kleinen Ladengeschäften von mittelmäßiger Wichtigkeit, bilden einstimmig das kommunistische Bild eines Ortes, der einen so großen Anteil am lateinamerikanischen Markt der Blackberry-Telefone besitzt, dass der Begriff Sozialismus nicht nur erschreckt aus unserer Realität wegläuft, sondern uns auch noch seinen nackten Arsch zeigt.

Wie in vielen anderen Städten auf dem Kontinent, ist auch in Caracas der Kontrast die Regel. Es gibt Villen, in denen leben Minister, Vertreter der Regierung, glückliche Erben und Fabrikbesitzer, – manche mit Würde, andere ohne dass es sie auch nur interessieren würde, dass sie diese schon in ihrer Jugend verloren haben, vielleicht 100 oder 1.000 oder 20.000, mittlerweile wissen wir ja, dass Genauigkeit bei den Zahlen wenige in dieser Schicht interessiert. Gleichzeitig gibt es auch Millionen von Hütten, zwei, vier oder sieben, in denen der Hunger auf unangenehme Art vorherrscht, und wo man nun weiß, dass das Leben mit mangelnden Mitteln härter ist. Viel härter.

Feuerwaffen? Allein in Caracas, im ersten Halbjahr 2009, hat der Polizeiapparat 2166 davon beschlagnahmt. Das heißt, im Durchschnitt 12 am Tag. Aber wenn man sich mit irgendjemand unterhält oder den Meinungsvertreter im Dienst liest, glaubt man schlussendlich, dass – legale und illegale zusammen gerechnet – Millionen existieren. Die Konservativen sagen, es gibt 5 im ganzen Land. Die Apokalyptiker sprechen von mehr als 15. Wir reden hier über Millionen. Millionen von Feuerwaffen. Hast du schon mal bis zu einer Million gezählt? Na los, mach mal!

Ist es wichtig, ob es dreieinhalb oder 9.900 sind? Diese Zahl lässt uns so oder so schamvoll den Kopf senken. Im besten Fall denken wir nicht daran, weil es in der Realität unzählige andere, bessere Dinge gibt, mit denen wir die Zeit verbringen können, wie beispielsweise tanzen gehen oder eine Reise unternehmen, was hier sehr einfach und immer ermutigend ist. Im schlimmsten Fall multiplizieren wir Waffen mit den Jahrzehnten der Trägheit und den Jahrzehnten der Kugeln, und überlegen nu, wer sich das Geld dieses riesigen Geschäftszweigs einsteckt.

In Caracas kann man an die besten und an die schlechtesten Menschen geraten, hat mir vor ein paar Wochen eine Freundin aus Frankreich gesagt, die seit zwei Jahren in dieser Stadt wohnt, davor in den USA, Spanien, Mali, Madagaskar, Mexiko und Brasilien gelebt hat und durch Osteuropa, den Cono Sur (Teile Südamerikas) und Kolumbien gereist war. Wie meinst du das? hab ich sie gefragt. Naja, ich habe noch nie so nette und solidarische Menschen getroffen wie die Venezolaner, aber ich habe auch noch nie so viel Bosheit gesehen wie hier. Glaubt mir, zumindest bei ihr wollte ich in der ersten Gruppe sein.

Nimmt man die Worte meiner Freundin ernst, ist es bei dieser offensichtlichen Bipolarität nicht verwunderlich, dass es an diesem Ort, zusätzlich zu den Autos, Motorrädern, Feuerwaffen, Mobiltelefonen, Parks und Einkaufszentren, auch eine Unmenge an Alkoholläden gibt, um das Leid wegzutrinken und zu feiern, dass wir Rum haben, denn solange es Rum gibt, gibt es Hoffnung; genau wie die Unmenge an Friseuren und Fitnessstudios, um in Form zu bleiben und sich Montagmorgen das lange Haar glätten zu lassen; und die Drogerieketten, in denen es von Maismehl bis Fotokameras alles gibt und wo Freitagnacht Viagra meistens ausverkauft ist.

Ich werde gefragt, wie ich die Situation an dem Ort, an dem ich lebe, beurteile. Hier ist, ganz grob umrissen, die Antwort: Caracas ist hässlich, aber es packt dich, weil es ein Intensität besitzt, mit der es dir ganz selten langweilig wird. Es ist wie eine Droge, die dich schüttelt und dich versteckt, du weißt, dass du damit aufhören musst, bevor es zu spät ist. Ich wurde auch gefragt, ob ich glaube, einen Einfluss auf die Stadt haben zu können.

Die Wahrheit? Ich habe vier Zeitschriften gegründet, drei davon sind kulturelle, ich habe in einem Museum gearbeitet, als ich der Meinung war, dass die Kunst die Massen erreichen könnte, ich habe 2006 auch das Weltsozialforum und das alternative Sozialforum, das von der Gegenseite initiiert wurde, unterstützt, ich habe Informationen über ein audiovisuelles Magazin herausgegeben, in einer Zeit, in der die Politik extrem polarisierte, ich habe einige Chroniken über vergessene Räume der Stadt redigiert, Debatten und Diskussionsrunden organisiert, öffentlich zugängliche Partys, einige Workshops gegeben über das, was ich für guten, narrativen Journalismus halte (Martí, Walsh, Capote, Kapuscinski, Rotker, Lemebel, Monsiváis, Caparrós, Guerriero, Salcedo Ramos, Muñoz, Duque, usw.). Und bei jeder einzelnen dieser Taten hab ich mein Bestes gegeben und dabei zuerst an mich gedacht, dann an mein direktes Umfeld und danach letztendlich an Caracas. Und dennoch glaube ich es nicht.

Ich denke nicht, dass ich in einer Stadt wie dieser einen Einfluss haben kann, im positiven wie im negativen Sinne, nicht außerhalb meines direkten Umfeldes und innerhalb kürzester Zeit. Ich glaube es nicht und manchmal hätte ich gerne gehabt, dass es mir egal gewesen wäre, aber die Wahrheit ist, dass ich, solange wie ich hier leben werde, es weiter versuchen werde.

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Das Kuba, das nicht in die Geschichtsbücher passt http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/das-kuba-das-nicht-in-die-geschichtsbucher-passt/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/das-kuba-das-nicht-in-die-geschichtsbucher-passt/#comments Thu, 24 Jun 2010 12:14:16 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=326

Ein anderes Bild von Havanna. Foto: Lizabel Mónica

Für Zaida, Professorin für Geschichte

Immer wenn man „Kuba“ hört, denkt man an das US-amerikanische Wirtschaftsembargo gegen die Insel, an die Schlacht in der Schweinebucht, an Playa Girón – „die erste Niederlage des Imperialismus in Amerika“, wie es die offizielle Propaganda vorbetet –, an die Castro Brüder und die organopódicos (städtische, landwirtschaftlich genutzte organische Gärten). Für manche repräsentiert Kuba die Ikone der Linken und viele Touristen, die von einer überschwänglichen Begeisterung angetrieben werden, versuchen sich aufgeregt dem zu nähern, was für sie das Bild Che Guevaras auf ihren T-Shirts anzudeuten scheint. Andere wiederum sind weiterhin überzeugt, dass Kuba ein roter, populistischer Alptraum ist und dringend eine Kapitalspritze braucht. Für mich hingegen als eine Person, die zu einem Zeitpunkt geboren wurde, als sich der Kalte Krieg zunehmend entspannte, deren Jugend davon geprägt war, das Desillusionierung und Verzweiflung die zwei neuen Regeln des zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens zu sein schienen – und so den gewöhnten Triumphdiskurs der proletarischen Utopie ersetzten -, und die schließlich im 21. Jahrhundert volljährig wurde, machen die enthusiastischen Glaubensbekenntnisse meiner Eltern oder die episch geschönte Vision einer immer unglaubwürdigeren Geschichte kaum noch irgendeinen Sinn.

Zu sagen, dass die vom Staat proklamierte Geschichte der Nation nicht für bare Münze genommen werden kann, ist so, wie zu sagen, dass die Menschen die Veränderungen im Ökosystem der Erde mit verursacht haben: Beides sind unbestreitbare Wahrheiten und als solche müssen sie halb ersichtlich sein und halb verhüllt bleiben. In beiden Fällen ist es keine Frage von Gewissheiten, sondern eine Frage, wie damit jeweils politisch umgegangen wird. Der strenge Blick der Staatswächter hat mir vor allem beigebracht, mir meine eigene Meinung über Ereignisse zu bilden. Hier eine kleine Zusammenfassung: Kuba war Ende des 19. Jahrhunderts die letzte Spanische Kolonie, die unabhängig wurde, gerade zur rechten Zeit, um sich in eine Neokolonie der USA zu verwandeln. Nachdem 1933 Präsident Gerardo Machado angesichts von Volksaufständen ins Ausland floh, wurde die formale Unterordnung unter die USA aufgehoben und das Land hangelte sich von einer Regierung zur nächsten, bis Fulgencio Batista schließlich eine blutige Diktatur errichtete. Über diese Diktatur siegten die Guerillakämpfer in den Bergen der Sierra Madre unter der Führung von Fidel Castro. Bei dem Bündnis, das der Kubanischen Revolution 1959 zum Sieg verhalf, handelte sich zunächst um eine nationale Bewegung von verschiedenen, diktaturkritischen gesellschaftlichen Gruppen, die von der heimische Bourgeoisie gestützt wurde. Doch nach und nach zersplitterte die Bewegung und verlor durch „Säuberungen“ ihren heterogenen Charakter, avancierte zu einer monolithischen Einheit und nahm am 16. April 1961 – mit Fidel Castros Verkündung des „sozialistischen Charakters der Revolution“ – ihre endgültige politische Richtung ein, nur wenige Minuten nachdem die Bombardierung von Playa Girón begonnen hatte. Ab dem Moment musste sich alles diesem Regierungsprogramm beugen.

Ich habe gelernt, dass die Geschichte jeweils anders klingt aus dem Mund eines Spaniers, aus dem Mund eines Nordamerikaners und definitiv pikanter aus dem losen Mundwerk eines normalen Kubaners auf der Straße. Ganz zu schweigen von den unerwarteten feinen Unterschieden, wenn es sich um einen Kubaner handelt, der in die kubanische Hauptstadt am anderen Ufer jenseits unserer geographischen Grenzen ausgewandert ist: Little Havanna. Geschichte hängt immer davon ab, wer sie erzählt. In der Regel behalten es sich die Überlebenden, die Sieger, die Machthaber vor, uns zu sagen, wie sich denn alles eigentlich zugetragen hat. In diesem Moment verbirgt sich hinter der Feder eine kubanische Frau (wer sagt, das Geschlecht habe wenig mit geopolitischen Anliegen zu tun, der soll die karibische Insel im Internet suchen; er wird eine weitaus klarere Antwort finden, als meine Argumente hier liefern können), eine weiße Frau (ich empfehle in diesem Fall, in der Suchzeile die kulturelle und imaginäre Kategorie „Rasse“ mit einzugeben), Tochter von Akademikern und selbst Akademikerin (Sie werden sicher bemerkt haben, dass die kubanischen Blogger in der Mehrzahl sehr gebildete Mädels und Jungs sind – sowohl die unabhängigen wie die vom Regime beauftragten), und keine Bewohnerin der marginalisierten Randbezirke von Havanna, aber auch nicht wohnhaft im privilegierten Zentrum der Stadt (obwohl allein schon in Havanna zu wohnen, bedeutet, aus dem Zentrum zu schreiben, was überprüft werden kann, indem man den zu Suchbegriffen Kuba+Geschlecht+Rasse das einfache, scheinbar unschuldige Wort „Stadt“ hinzufügt: fast alle Blogs, fast alle spezialisierten und institutionellen Internetseiten werden aus der Hauptstadt lanciert, während der Rest des Landes in einem vollständigen, hartnäckigen Schweigen verschwindet, das uns den Zugang zu ihm in Bit-Codes verweigert). Aber es wird keine formalisierte Geschichte dieser Zeilen geben.

Die erste Lektion in Geschichte, an die ich mich mit Freuden erinnere, erhielt ich von einer Lehrerin, als sie zu mir meinte: „Entspann dich und lass die Bücher, wir machen jetzt eine Zeitreise.“ Ich möchte hier noch eine Passage zitieren, die ich in einem alternativen Reiseführer gefunden habe: „Kuba ist ein einzigartiges Land mit vielen verschiedenen Facetten. Um dort hinzureisen, bedarf es nicht nur eines Passes, Gelds und eines guten und widerstandsfähigen Rucksacks, es bedarf auch der Flexibilität, der Kreativität, des Sinns für Humor, der Geduld und eines gesunden Gespürs für Abenteuer…“ Das Kuriose an der Geschichte ist, dass sie sich nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigt. Denn sie ist zugleich auch in der Lage, unsere heutige Erfahrung drastisch zu verändern. Möchten Sie Kuba kennen lernen? Willkommen an Bord, bringen Sie Ihr Gepäck mit, lassen Sie Ihre Bücher zu Hause…Und falls Ihnen etwas unklar ist, zögern sie nicht, den Kapitän zu fragen, aber fragen sie auch den Heizer.

Übersetzung: Anne Becker

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