Geschichte – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Ich habe mir die Haare nicht entfernt http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/ich-habe-mir-die-haare-nicht-entfernt/ Mon, 11 Oct 2010 21:25:43 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2887

Pedro Mairal wurde 1970 in Buenos Aires geboren, seine Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt und in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland herausgegeben worden. 2007 wurde er von der Jury der Bogota39 zu einem der besten, jungen Schriftsteller Lateinamerikas erklärt. Er sprach über Argentinien, die Buchmesse und politisches Positionieren:

Wie Borges schon sagte: Man ist leider unvermeidlich Argentinier. Man kann es nicht vermeiden, Argentinier zu sein, man kann es nicht vermeiden, Lateinamerikaner zu sein. Man kann es nicht vermeiden, für die Europäer exotisch zu wirken. Man kann weder versuchen, noch kann man vermeiden, es zu sein. Mich interessiert sehr, wie die Politik und die Geschichte in der Intimität widerhallen, wie sie im Bewusstsein, im Körper widerhallen.

Mich interessiert Politik, wenn die gefällten Entscheidungen schlussendlich im Körper von irgendjemand Wirkung zeigen. Es gibt beispielsweise eine Erzählung über eine Frau, die gefoltert wurde. Sie wurde in den Keller gebracht, in einen Kerker geworfen und angewiesen, sich nackt auszuziehen. Sie wusste, dass sie gefoltert werden würde, aber das erste, an das sie dachte, als zu ihr gesagt wurde, sie solle sich ausziehen, war: Ich hab mir die Haare nicht entfernt. Diese kleine Windung des Gedankens, dieser Moment der Intimität, in dem der Scham größer ist, als alles andere, das ist der Moment, in dem für mich die Prosa eintreten soll. Nicht in der Makro-, sondern in der Mikro-Politik. In jener Intimität, da, wo die politischen Entscheidungen schlussendlich im Bewusstsein, im Körper widerhallen, und eine persönliche Verzweiflung hervorrufen. Ich versuche immer zu vermeiden, mich politisch zu positionieren. Das passt am besten zu meinem Wesen. Ich habe keine klare politische Einstellung. Das hängt ziemlich von der Laune ab, mit der ich morgens aufstehe, außerdem fühle ich mich durch keine der derzeitig in Argentinien existierenden politischen Parteien tatsächlich vertreten. Demnach fühle ich mich politisch ziemlich frustriert.

Ich bin mit der persönlichen Freiheit der Demokratie aufgewachsen, das ist die Kultur, die mich prägte. Die Gefahr, in der unsere Generation sich befindet, ist, dass wir sie als selbstverständlich ansehen. Aber wir sollen nicht vergessen, dass es etwas ist, das man erreicht hat, etwas, zu dessen Erhaltung man beigetragen hat, und in diesem Punkt glaube ich schon, dass ich eine persönliche Verantwortung habe, die darin besteht, für das Thema zu sensibilisieren.

Ich habe nur zwei Hallen von der Messe gesehen. Mir kommt es vor, als wären es mehrere Messen zusammen, es ist monströs, riesig, unüberschaubar. Ich war noch nie auf einer so großen Buchmesse. Ich versuche, alles zu sehen, was ich schaffe, aber ich weiß, dass es unmöglich ist, alles zu sehen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Globalisierung: Für Kuba zutreffend? http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/globalisierung-fur-kuba-zutreffend/ Wed, 22 Sep 2010 15:14:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2057 Das Wort Globalisierung ist auf Kuba doppeldeutig. Wir haben sicherlich nicht diese in vielen Ländern vorzufindende hybride Wirtschaftsform, die ein allgemein anerkanntes Kennzeichen der Globalisierung ist. Eigentlich haben wir gar keine Wirtschaft. Auf Kuba war das lange ein verbotenes Wort. Zunächst einmal deshalb, weil in der von der Kubanischen Revolution geschaffenen Staatsform der Staat die Verantwortung für die Wirtschaft übernahm. Es ging darum, ein Modell für ein zukünftiges Land aufzubauen, oder besser gesagt, für eine zukünftige Welt. In diesem Modell war, wie in jedem Modell, die Wirtschaft grundlegend.

Die Konsequenz? Heute haben wir einen Expräsidenten, einen historischen Mythos und einen halbwegs linksradikalen Dinosaurier – Fidel Castro, jawohl – der in einem Interview zugibt, dass das Modell des kubanischen Sozialismus nicht sonderlich gut funktioniert. Auch wenn er später die Aussage zurücknahm, steht diese Erklärung doch sehr offensichtlich im Zusammenhang mit den neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen von Präsident Raúl, seinem Bruder, in denen zum ersten Mal seit 50 Jahren nicht nur das Privateigentum wertgeschätzt wird, sondern auch über Massenentlassungen Anreize für die private Akkumulation geschaffen werden. Wie spiegelt sich das im Alltag wider? Sagen wir mal so, dass die Globalisierung der Wirtschaft eine Legende ist, über die ich so viel gehört habe, dass ihr Einfluss auf die Wirklichkeit dem Einfluss der Legende vom Weihnachtsmann gleicht…

Ein weiteres Kennzeichen der Globalisierung: die Zunahme der Migrationsbewegungen. Im Fall von Kuba hat auch hier der nationalistische-kommunistische-sozialistische Staat (das waren die verschiedenen Bezeichnungen des revolutionären Prozesses) unter je unterschiedlichem Vorzeichen, in verschiedenen Kontexten und zu sehr umstrittenen Bedingungen massive Auswanderungswellen angestoßen. Zugleich wurden dem normalen kubanischen Staatsbürger Auslandsreisen verboten. Die Ausreiseerlaubnis – und die Einreiseerlaubnis für den emigrierten Kubaner – machten die Insel zu einem gigantischen Gefängnis, dessen Außenmauer das Meer war. Also, … das mit der Migration ist ein delikates Thema für jeden Kubaner und weit vom modus vivendi eines privilegierten Bürgers der Ersten Welt entfernt.

Zu guter Letzt betet die Propaganda der neuen, vom Norden gehätschelten Ideologie der – Globalisierung (welche andere hätte es sein können? ) – vor, dass jeder von uns ein Mosaik sei. Nun gut, von Lateinamerika aus betrachtet würde die Sache anders aussehen oder sieht sie anders aus… Die Befreiung unserer Länder von der Kolonialherrschaft wurde auf der Basis des Ausschlusses vieler Teile des kontinentalen Mosaiks errungen. Die Ureinwohner, Schwarzen und Chinesen und andere mehr wurden innerhalb jedes Landes an die Ränder einer kreolischen Gesellschaft gedrängt, die sich als weiß und europäisch verstand.

Gegen Ende dieses Prozesses fingen viele „Ethnologen“ an – auf Kuba haben wir Fernando Ortiz –, über Synkretismus, Transkulturalisierung, letztlich über kreuz und quere Mischungen zu sprechen. Jedoch hat dieses Bestreben, alle Teile des Mosaiks als Zutaten ein und der selben Suppe zu verstehen, etwas sehr Trügerisches und Vorgegaukeltes. Es handelt sich um eine Form des Einschluss ohne einzuschließen: Was schließen wir ein, wenn alles schon da ist? Die Entwicklungslinie dieses Denkens – welches positivistische Züge trug – reicht bis ins 20. Jahrhundert und fand Eingang in die Kubanische Revolution. Und zwar in dem Moment, als diese auf einzigartige Weise erklärte, alle Minderheitenorganisationen des Landes auflösen zu wollen und jede Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe zu verbieten, indem sie einerseits eine Politik der positiven Diskriminierung ins Leben rief und anderseits verlautete, dass ein Revolutionär nicht rassistisch sein könne. Es würde eine gute Lektion in Politik abgeben, würde man analysieren, wie die Kubanische Revolution die Differenz zwischen dem „Sollen“ und dem „Sein“ ideologisch gehandhabt hat: leider aber eine Lektion in Politik, die dazu führen würde, über den „Multikulturalismus“ zu sprechen, diese globalisierte Etikette.

Übersetzung: Anne Becker

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Erleuchtende Spannungen http://superdemokraticos.com/themen/burger/erleuchtende-spannungen/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/erleuchtende-spannungen/#comments Sat, 21 Aug 2010 09:50:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1028

Blick aus dem Fenster. Foto: Agustín Calcagno

Der wesentlichste Aspekt des Wandels, den Lateinamerika in den letzten Jahren durchlebt hat, besteht darin, Licht auf die sozialen Spannungen geworfen zu haben, die zuvor im Halbdunkel lagen. Die vielfältigen und gefärbten Gesichter, die unseren Horizont bevölkern, Gesichter der Meere der Berge der Wälder der roten Kneipen am Rand des Abgrunds und in der Nähe des Himmels; diese unzählbaren Gesichter unseres Kontinents waren bis zu diesem Punkt in der Geschichte Gefangene eines monotonen Diskurses, der gedacht worden war, um das Vielfältige beschämend, unwürdig und wenig zivilisiert erscheinen zu lassen.

Die Mehrheiten und die Dinge, die der Großteil der Menschen denkt, fühlt und braucht, wurden in die Dunkelheit des Bettelns verbannt. Der Arme war es nicht würdig vom Besitz derselben Dinge zu träumen wie der Reiche. Der Arme musste auf seine Armut stolz sein, sich darüber freuen, ausreichend zum Überleben zu haben… Und dankbar sein… Als ob das Leben ein Geschenk des kreolischen Edelmuts sei, musste der Arme außerdem ein Indio sein und in der Konsequenz doppelte Gnade erhalten, da sie Gott empfangen hatten…den richtigen… Ein Gott, der unsere Dankbarkeit und unser schweigendes Lob braucht. Sie baten uns zu schweigen, ausgerechnet uns, die wir die lärmende Materie der Vielfalt, der heterogenen Landschaften, der ewigen, in jeder Ecke schwebenden Musik sind. Sie baten uns zu schweigen, uns, die wir die spanische Kultur anzunehmen und mit Talenten, mit verführerischen Akzenten, die in die verschiedensten Gesichtszüge eingeschrieben sind, zu füllten wussten. Schweigen, Akzeptanz, Monotonie, Scham.

Aber die Kraft des Blutes und der Erde ist mächtiger als die Herrschaft; und die offensichtliche Spannung zwischen einem monotonen, eurozentrischen Diskurs und unserer Vielfalt trat ans Licht. Manches Mal hervorgerufen durch tausende Stimmen, andere Male durch Geflüster. Noch so viele Male durch triumphierende Tränen der Revolution und viele andere durch totes Schluchzen, durch staubige Augen junger Körper. Das herrschende System, das dieses winzige Stück auf der Landkarte bewohnt und auf dem sich die Vorteile aller, die wir Sauerstoff atmen, konzentriert, lockerte sich. Sie hatten so lange darauf bestanden, uns davon zu überzeugen, dass die Ungleichheit unvermeidbar ist, dass sie selber begannen, ihren eigenen Diskurs zu schlucken. Sie gelangten zu dem Glauben, dass die Geschichte an eben jenem Punkt anhalten würde, der sich für sie als vorteilhaftester erwies. Sie waren Narzissten, die ihr Leben mit feuchter Eitelkeit verblendeten, und möglicherweise macht dies es ihnen heute schwer, ihre Köpfe aus dem Wasser zu ziehen.

Seit den Siegen der neuen populären Regierungen begannen die realen Spannungen unserer Gesellschaften in den Diskussionen, den politischen Disputen, im alltäglichen Leben aufzutauchen. Diese neuen Mächte richteten ihre Lichter auf die ausradierten Gebiete der sozialen Landkarte: auf diejenigen Gebiete, die von Armen, Ausgeschlossenen, in den Fokus der Justiz Geratenen, bewohnt werden, wie auch auf die ewigen Gebiete, die die koloniale Macht vor unseren Augen verborgen hat. Die neuen, lateinamerikanischen Regierungen hatten die Tugend der Erleuchtung – in allen Bedeutungen des Wortes. Auf der einen Seite entblößten sie die faktischen Mächte, die uns jahrhundertelang beherrscht haben; und parallel dazu zeigten sie auf, dass andere – inklusivere und abwechslungsreichere – Formen der Herrschaft sich in Gemeinsinn verwandeln können, in Macht.

So wie die sanften, braunen Körper in der Sonne mit dem harten Schritt derjenigen zusammenleben, die wir weiter im Süden das Feuer in trockenen Worten erforschen, so leben unsere Regierungen miteinander, obwohl sie verschiedene Ziele und Strategien verfolgen. Sie leben miteinander und werden bereichert, weil sie bemerkt haben, dass unsere Farbpalette groß ist. Das unterhaltsame, südamerikanische Geschrei, das des Volkes, das auf der Straße gesprochen wird, sucht Worte Begriffe, Ideen, die ihre Erwartungen und Vision der Vergangenheit beinhalten; die von ihrer eigenen, vielfarbigen Vergangenheit sprechen; nicht jene, die von einigen Büchern wiedergegeben werden, die von nur gen Norden schauenden Intellektuellen erwähnt werden; diese sind Filme, Strophen von Hymnen, vollbusige Lieder oder schwachsinnige diskursive Verrenkungen, die von Ökonomen in den Stein gehauen wurden.

Meinerseits erobere ich die Straße alleine oder in Begleitung vieler anderer, die die Verpflichtung verspüren, sich zu verteidigen, sich zu offenbaren, die dunklen Gebiete zu enthüllen. Die unterschiedlichsten Beweggründe motivieren uns, Forderungen, die kein Zentrum zu haben scheinen. In Wahrheit ist es so, dass uns das Bewusstsein eint, dass es kein einzelnes Zentrum geben soll… unsere Tugend ist gerade das Wissen darüber, dass Spannungen immer da sein werden, aber dass wir sie zunächst einmal beleuchten müssen, damit sich aus ihnen Forderungen herauskristallisieren, die die Welt gerechter machen.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Was ich schreiben könnte http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/was-ich-schreiben-konnte/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/was-ich-schreiben-konnte/#comments Mon, 19 Jul 2010 14:24:05 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=470 Ich könnte zur Abwechslung was Originelles schreiben

Ich könnte jetzt zur Abwechslung was Originelles schreiben. Zum Beispiel, dass Geschichte nicht mehr als ein Vorurteil ist, und dass ihre Bedeutung für die Gegenwart massiv überschätzt wird. Ich könnte schreiben, dass die Bevorzugung von diachronen vor synchronen Denkmodellen eine Altlast der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts ist.

Ich könnte schreiben, dass der Blick sich nur noch nach hinten richtet

Ich könnte sodann schreiben, was dabei besonders auffällt: Besonders fällt auf, dass – anders als zu Zeiten Marx‘ und Hegels – heute niemand mehr nach vorne, auf ein irgendwie geartetes „Ziel“ oder „Ende der Geschichte“ schaut; dass der Blick sich nur noch nach hinten richtet, auf das „Wie wir wurden, was wir sind“. Und dass so etwas eine Zivilisation lähmt…

Ich könnte schreiben, dass Geschichtsschreibung sich selbst schreibt

Ich könnte ewig so weitermachen. Ich könnte noch schreiben, dass Geschichtsschreibung ja sowieso immer nur sich selbst, die eigene Geschichte schreibt; dass die deutsche Altertumsforschung bis heute wesentlich mehr darüber aussagt, wie das 19. Jahrhundert mit Schliemann die klassische Antike idealisierte, als darüber, wie es in der athenischen Polis „wirklich“ war. Ich könnte sodann noch schreiben, dass doch nur noch irgendwelche halbblöden 68er-Lehrer, die ihren Adorno nicht bis zum bitteren Ende gelesen haben, noch glauben, man könne irgendwas aus Geschichte lernen.

Ich könnte schreiben: „Wir leben in einer Diktatur der Geschichte!“

Ich könnte schreiben, dass man, statt zu lehren, mit Geschichte nur Generation um Generation traumatisieren könne, gerade mit der deutschen. Ich könnte schreiben, dass die als Lehrstück ‚missbrauchte‘ deutsche Geschichte das Gegenteil von Freiheit und dass sie nur eine weitere Doktrin in dieser ‚ach so freiheitlichen Gesellschaft‘ sei. Schließlich sogar: dass wir in einer Diktatur der Geschichte leben. Ich könnte allen Ernstes schreiben: „Wir leben in einer Diktatur der Geschichte!“

Ich könnte schreiben: „Die machen ihr Ding, ich mach‘ mein Ding!“

Ich könnte es freilich auch volkstümlicher machen: wie die (angebliche) Hauptschülerin, die ich mal in einer Ausgabe der deutschen Late-Nite-Sendung „TV Total“ beim Bewerbungsgespräch beobachten konnte. Vom Personalchef auf ihr „Mangelhaft“ im Schulfach Geschichte angesprochen sagte sie, dass sie eben  „eher die Zukunft“ interessiere – und nicht, „was vor mir war“. Über das historische Personal sagte sie noch: „Die machen ihr Ding, ich mache mein Ding. Diese komischen Römer und so …“

Ich könnte schreiben: „Geschichte, schön und gut!“

Das alles könnte ich schreiben. Ich könnte mich auch hinsetzen und schreiben: „Geschichte, schön und gut. Aber das ist doch ein Auslaufmodell der Gutenberg-Galaxie. In wenigen Jahrhunderten wird entweder gar kein Quellenmaterial über vorangegangene Epochen vorliegen, oder so viel, dass sich jede historische Wahrheit im Nachhinein erstellen lässt. Was wiederum zeigt, dass es historische Wahrheiten überhaupt nie gegeben hat.“

Das alles könnte ich schreiben

Das alles könnte ich schreiben. Aber irgendwie hindert mich die Geschichte.

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Familientauziehen http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/#comments Fri, 16 Jul 2010 08:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=460 Seit meinem fünften Lebensjahr besuchte ich jeden Sonntag meine Großmutter väterlicherseits. Meine Oma war an den Rollstuhl gefesselt. Mehrere Krankheiten hatten sie früh ihrer Jugend beraubt. Dieses Invalidendasein schien ihr einen inneren Frieden zu bescheren, welcher sich in einem scharfsichtigen historischen Sinn äußerte. Eine zu früh gealterte Frau als Speicher für das kollektive Gedächtnis. Jeden Sonntag also, nach dem Mittagessen, erzählte sie mir punktgenau ein Kapitel der bolivianischen Geschichte. Auf diese Weise versuchte sie, dem Einfluss entgegenzuwirken, den ich im Hause meiner Großmutter mütterlicherseits ausgesetzt war, wo ich von Montag bis Samstag wohnte. Dort waren sie flammende Anhänger der MNR (lange wichtigste Partei des Landes; in den 1940/50er Jahren linksgerichtete, nationalrevolutionäre später dann neoliberale Orientierung, Anm.d.Ü.). Meine Oma väterlicherseits erzählte mir von der Familie Barrientos und der Nationalgeschichte. Ihre Erzählung glich einem Spionagefilm. Wer die Guten und wer die Bösen waren, war für mich schwer zu durchschauen. Die Geschichten waren voller Mikrogeschichten. Sie erzählte mir von den Überstülpungen der Revolution von 1952, vom Leben ihres Vaters in den Minen, vom geheimen dekadenten Leben des Präsidenten Víctor Paz Estenssoro, genannt der„Affe“, vom inneren Exil meines Großvaters, der Mitglied der faschistischen Falange in Bolivien war, vom Tod meines Onkels bei einem Flugzeugabsturz direkt vor der Haustür, von dem anderen Onkel (dem berühmteren), der Paz Estenssoro gestürzt hatte.

Ich kam jedes Mal verwirrt und misstrauisch wieder im mütterlichen Zuhause an, und dort kontrastierten sie die Erzählung mit anderen Beweisstücken: die unübersehbaren Errungenschaften der Revolution von 52 (Nationalisierung der Minen und die Landreform, zum Beispiel), die manipulative Amtsführung von Barrientos als Präsident, der lange Protagonismus der MNR in der nationalen Politik als Beweis ihres Erfolgs.

Beide widerstreitende Erzählungen formten nach und nach meine Identität. Mit der Zeit habe ich dann selber die Erzählung unter Zurhilfenahme von Büchern und Lehrern neu zusammen gesetzt. Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass die Geschichte ein Prozess ist und keine Abfolge von historischen Ereignissen und schroffen Brüchen. Die Revolution von 1952 kann aus heutiger Sicht kritisiert und als unzureichend eingestuft werden, als eine Zeit voller Widersprüche. Doch zugleich wäre nichts von dem, was wir heute erleben, ohne diesen Prozess möglich gewesen. Nicht zuletzt die Revolution selber, die aus den indigenen Revolten hervorging, welche im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzten und bis in 1940er Jahre anhielten. Diese wiederum kündigten sich seit den Aufständen der Tupcas am Ende des 18. Jahrhunderts an. Tupac Katari und Tupac Amaru II waren zwei der wichtigsten indigenen Rebellen während der spanischen Kolonialzeit, sie umzingelten La Paz zweimal, 1750 und 1781.

Es gibt keine Stunde Null und kein Ende der Geschichte. Ich habe auch gelernt, dass die Geschichte nicht allein in den Geschichts- und Schulbüchern präzise beschrieben ist, sondern auch in den Liedern und in der Stimme unserer geliebten Mitmenschen.

Übersetzung: Anne Becker

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Geschichte? Nein danke, wir haben schon eine. http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-nein-danke-wir-haben-schon-eine/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-nein-danke-wir-haben-schon-eine/#comments Tue, 13 Jul 2010 16:07:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=415 Die Frage der Blogmacherinnen diese Woche: Ob Geschichte wichtig für uns ist.

Die Geschichte lag seit zwei Wochen im Regal für Sonderangebote. Zuerst stand neben ihr das Duschgel, für 99 Cent, doch das war bald aus. Dann kamen die Erdnüsse, fein gesalzen, ohne Schale, für 50 Cent. Als das letzte Päckchen gekauft wurde, rief es der Geschichte noch zu: „Ver-sa-ger!“ Die Geschichte war traurig und beschloss zu gehen. Wenn niemand für sie bezahlen würde, würde sie sich eben verschenken. Sie klopfte bei Müller, Angermeyer, Huber und bei Fried. „Nein danke, wir haben schon“, sagten die Menschen ohne zuzuhören. Und was sie nicht wüssten, könnten sie ja bei Wikipedia nachsehen, sagte der Sohn von Fried. Woher er denn wüsste, dass da die Wahrheit stünde? Der Junge schaute verwirrt, dann sagte er: „Ich google einfach alles und was mehr Treffer hat, ist richtig.“

Mit Herodot war die Geschichte noch klar gekommen. Aber jetzt wollten einfach zu viele mitschreiben. Die Wikipedia-Administratoren, Guido Knopp in Deutschland und Felipe Pigna in Argentinien, Tausende von Bloggern und Twitterern. Gegen die CIA hatte sie schon lange verloren, das wusste sie, und seit „Inglorious Basterds“ auch noch gegen Tarantino. Aldo The Apache, der Nazijäger, würde schon bald in den Schulbüchern zu finden sein.

Alles stand im Internet, aber niemand wusste irgendwas. Die Geschichte war erbost. Sollten sie doch. Sollten sie doch untergehen mit ihrem Finanzsystem, erinnerten sie sich denn nicht an die Tequila- und die Argentinien-Krise? Sollten sie doch sinken mit ihren Öltankern, erinnern sie sich nicht an die Titanic? Diktaturen, Menschenrechte, Kriege. Das war jetzt nicht mehr ihr Problem. Sollten die Menschen doch alle Dummheiten wiederholen, wenn sie es unbedingt wollten.

„Die Geschichte ist der beste Lehrer mit den unaufmerksamsten Schülern“, hatte Indira Ghandi einmal über sie gesagt. Darauf war sie heute noch stolz. Sie brauchte die Menschen nicht, die Menschen brauchten sie.

Noch immer kochte die Geschichte vor Wut. Aber sie war besonnen genug, um zu erkennen, dass sie über die Jahrtausende hinweg den gleichen Fehler begangen hatte. Sie war zu spät gekommen. Jedes Mal. Wie oft schon waren Menschen gestorben, wenn sie ankam. Dabei war sie auf ihre alten Tage sogar schneller geworden. Die US-Truppen waren gerade erst im Irak gelandet, als schon bekannt wurde, dass es die Massenvernichtungswaffen dort nie gegeben hatte.

Die Geschichte beschloss, in Ruhe nachzudenken, wie sie weiter vorgehen sollte. Sie machte das I-Phone aus, setzte sich in den Schaukelstuhl und wärmte sich die Hände an einer Tasse Lindenblütentee. Gemütlich, aber mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Wieder würde sie ankommen, wenn alles schon vorbei war. So war sie eben.

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Das Gedächtnis der Namenlosen http://superdemokraticos.com/editorial/das-gedachtnis-der-namenlosen/ Mon, 12 Jul 2010 14:54:59 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=453 Beim Lesen und Übersetzen von euren Texten habe ich mich an dieses Foto und eine Reise von mir erinnert…

Gedenkort

Foto: Gedenkort „Passagen“ für Walter Benjamin in Portbou, Katalonien/Spanien. Denkmal des Künstlers Dani Karavan.

Auf der Glasplatte ist zu lesen:

Schwerer ist es das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht. Walter Benjamin, G.S. I, 1241

Zitat aus Walter Benjamins „Thesen über den Begriff der Geschichte“, einer seiner letzten Manuskripte (ca. 1939). Im September 1940 starb Walter Benjamin in Portbou, Spanien, nachdem die Gruppe von jüdischen Flüchtlingen, mit denen er auf der Flucht vor der Gestapo unterwegs war, von der Polizei Francos an der Grenze aufgehalten wurde. Wohl aus Angst vor einer Auslieferung an das von den Nazis besetzte Frankreich nahm Benjamin sich – höchstwahrscheinlich – das Leben. Er starb an einer Überdosis Morphium.

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17. Oktober 1945 http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/17-oktober-1945/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/17-oktober-1945/#comments Mon, 12 Jul 2010 07:05:13 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=440

Alle Erinnerungen täuschen, verschleiern auf irgendeine Art und Weise. Selbst diese gemeinsame Erinnerung, die wir Geschichte nennen, bewahrt uns vor dem Unerreichbaren: vor der Wahrheit, die – so sagt der Dichter – sicherlich unerbittlich sein muss. Auf der anderen Seite schützt uns das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit unserer persönlichen Erfahrungen vor dem Wahnsinn.

17. Oktober 1945. http://commons.wikimedia.org/wiki/File:17deoctubre-enlafuente.jpg

In dieser Bar, wie in jeder anderen jetzt oder in der Zukunft, hier oder wo es euch beliebt, regiert die Anonymität der Nacht und wir alle sind unerschüttliche Dichter auf der Suche nach Worten, mit denen wir der weitschweifigen Realität ein Stückchen Wahrheit entlocken und entreißen möchten. Mein Ellbogen ruht auf dem Tresen und meine Fingerkuppen erwarten schon die Kühle des Glases, die Ruhe, die vom Alkohol ausgeht, lässt mich die Beklemmung, mich immer  außerhalb des mich umgebenden Geschehen zu befinden, vergessen. Alle Gedanken, die ich auf Papier oder in meiner Erinnerung aufzeichne, verstümmeln zunehmend und es scheint, dass ich nur das zu sagen vermag,  was mir die Zeit in ihrer Fülle zu besitzen erlaubt. Alles hat sich an diesem 17. Oktober 1945 vollständig und unwiderruflich verändert.

Die Stadt hat sich für immer verwandelt. Tausende von Personen sind aus dem Nichts hervorgekommen, Unsichtbare, die plötzlich unser Aussehen erneuert haben. Ich würde gerne alles mit einem einzigen Wort sagen können, dichtend sprechen können, treffend und unbesiegbar wie eine Kugel, aber es erweist sich als unmöglich, einen Begriff zu finden, der annähernd das Gefühl erfasst, so viele Menschen auf diesem nächtlichen Platz vereinigt zu sehen, unbekümmert über ihre Gerüche und ihre Akzente, und die einem Militär zuschauen, der den Armen die Zukunft verspricht, und sagt, dass jene, die nie gehört wurden, ab heute das Echo seiner Stimme sein werden. Diesem naiven Traum der zahnlos Lächelnden, die an der plebejischen Invasion teilnahmen, würde ich gerne einen Namen geben. Ich würde gerne die Bedeutung des Kampfes, der bevorsteht und der gewesen ist, in einem Satz verdichten. Aber es gibt kein Wort, das von der Vergangenheit und der Zukunft spricht, von der Geschichte und den Kosten der Gleichheit, von der Freude und dem Martyrium der Generationen, die vergehen werden. Es gibt kein Wort, das gleichzeitig Leben und Tod bedeutet.

Die Besucher des Kabaretts scheinen verwirrt und verängstigt, während jene, die hier arbeiten, fröhlich von abstrakten Dingen wie Klassen vor sich hin murmeln. Ich nähere mich der freundlichen Person hinter dem Tresen; ich nehme einen Schluck, atme durch, schaue ihm in seine glänzenden und vergnügt dreinblickenden Augen und beende daraufhin meine Erkundung. In dem Moment, in dem ich meinen Mund zum ersten Mal öffne, türmen sich die konfusen Ideen vor mir auf:

– Es lebe Perón! rufe ich ihm zu.

– Er lebe! antwortet er mir freudig.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Die Internationalmannschaft http://superdemokraticos.com/editorial/die-internationalmannschaft/ http://superdemokraticos.com/editorial/die-internationalmannschaft/#comments Sun, 11 Jul 2010 22:31:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=449 Sorry, Jungs, sorry, Mädels, ich muss, solange es noch geht, ein bisschen über Fußball schreiben. Seit der letzten WM 2006, die in Deutschland stattfand und mit dem Slogan „Zu Gast bei Freunden“ beworben wurde, wundert sich nämlich bei uns niemand mehr über öffentlich zur Schau gestellte Deutschlandflaggen. Was 2006 noch überraschte, ist bei der WM 2010 Normalität geworden. Die überpräsente National-Beschmückung führt dazu, dass ich mich täglich mit Deutschland und mit meiner Rolle als so genannte Deutsche (Pass) beschäftige. Beschäftigen muss. Und das ist mir immer etwas unangenehm. Denn wie deutsch bin ich, wenn ich meine erste eigene Wohnung als Aupairmädchen in Frankreich bezog, meine erste totale Sonnenfinsternis in London sah, meine erste Vollnarkose in Ungarn erlebte, zum ersten Mal in Bolivien in einem glasklaren Fluss schwamm?

Als ich zur Schule ging und studierte, in den 80ern und 90ern, konnte ich die Fahnen, die ich in meinem Leben gesehen hatte, an einer Hand abzählen. Es gab sie einfach nicht. Es gab im Lexikon den Eintrag „Flagge“, neben allen Flaggen der Welt, aber sie wurde nicht aus ihrer Kiste geholt. Sie war ein abstraktes Staatssymbol. Manchmal hing sie an öffentlichen Gebäuden, auf Halbmast, bei Todesfällen internationalen Ausmaßes, oder am Masttop in EU-Kontexten. Wenn wir mit der Familie Urlaub in Dänemark machten, flatterte dort vor allen Holzhäuschen die dänische Flagge. Ich dachte: Unsere Flagge ist einfach hässlich, die dänische ist viel schöner. Bin ich also Dänin?

Und nun: Autos, Fenster, Balkons, Vorgärten, Vuvuzelas, ja sogar Körperteile (Arme, Beine, Wangen) sind beflaggt. Neulich sah ich, wie eine dicke Frau im Tigerprint-Kleid auf die solariumsbraune Glatze ihres Mannes ein Flaggentattoo auftupfte. Eine Glatze in Schwarz-Rot-Gold… Ich bin verwirrt: Woher kommt diese neue Flaggenliebe der Deutschen? Warum ist die ehemalige Verdruckstheit weg („Ich kann nicht stolz auf mein Land sein, nach all dem, was passiert ist“, das 6-Millionen-Argument, von dem auch Jo Schneider in seinem Essay spricht; die historische Verantwortung, die man als Deutsche/r mit sich trägt)? Warum male sogar ich mir eine Flagge auf den Arm? Sind wir alle geschichtsvergessen geworden?

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Die neue deutsche Fankultur hat vielleicht mit einer gemeinsamen, kollektiven Freude zu tun, weil Sommer ist, weil wir draußen auf der Straße zusammen herumschreien und -tröten, weil es Spaß macht, sich mit etwas zu identifizieren, weniger mit einem Nationalgefühl als mit Sportsmanship und mit flotten Männern (Yes, Ladies!). Weil die Nationalmannschaft zu einer Internationalmannschaft geworden ist, mit Spielern wie Mesut Özil, Boateng und Piotr Trochowski mit migrantischen Wurzeln, die jung sind, nach anderen Regeln spielen, nicht mehr hierarchisch aufgestellt sind, irgendwie nicht-deutsch wirken (wenn Biertrinken, Schwermut, Autoritätsgehorsam als „deutsch“ gelten). Weil sie jetzt niederländisch spielen – das sagen zumindest die Zeitungen.

Gleichzeitig werde ich wohl nie davon wegkommen, das Flaggen-Meer als irgendwie gefährlich einzuschätzen. Nationale Symbole tragen diese Ambivalenz in sich, diese Drohung, von der auch Gabriel Calderón spricht: „Die Geschichte / Immer zur Stelle, um in jedem Moment wieder aufzutauchen / Um mit aller Wucht in der Gegenwart einzuschlagen.“ Leider mischen sich nämlich vermehrt auch Neonazis unter die johlenden Fußballmassen.

Noch ambivalenter ist im Übrigen die deutsche Nationalhymne, die neuerdings auch wieder deutlich und öffentlich mitgesungen wird: Die Melodie stammt aus der Feder des österreichischen Komponisten Joseph Haydn. Er komponierte sie in Wien als Grundlage für die habsburgerische Kaiserhymne, basierend auf einem kroatischen Volkslied. Den Text hat der deutsche Dichter Heinrich von Fallersleben 1841 als „Deutschlandlied“ auf der damals britischen Insel Helgoland verfasst, und er handelt unter anderem von den Außengrenzen des im 19. Jahrhundert sehr uneinheitlichen deutschen Reiches, um die innere Zerrissenheit zu überspielen. Diese Insel in der Nordsee, die Deutschland nach dem ersten Weltkrieg gegen die Kolonie Sansibar tauschte, diente im Zweiten Weltkrieg als nördlichster U-Boothafen der Nationalsozialisten. Die Militärs durchlöcherten die Insel wie einen Schweizer Käse mit unterirdischen Bunkergängen, welche am Ende des Krieges in die Luft gesprengt wurden. Eine Hälfte der Insel brach ab und versank im Meer. Heute ist Helgoland ein Mekka für Birdwatcher (Trottellummen). Und gesungen wird nur noch die dritte Strophe – in der keine Grenzen vorkommen.

Ja, es geht um Details, wenn wir über Geschichte sprechen, allgemeingültige Symbole (Flaggen, Monumente) kann es eigentlich nicht geben. Ich glaube immer mehr, das wir nur Vorübergehende in der Gegenwart sind weniger als von der Vergangenheit bestimmte Existenzen; wir sind Passanten der Geschichte, Passanten in der Geschichte, mikroskopisch klein (wie Lena Zuñiga sagt), aber jeder an seinem Ort wichtig. Wo wir morgen sein werden, in welcher Geschichte, hängt von uns ab. Nicht von einer Flagge.

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Der Corrido des Weißen Pferds http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/der-corrido-des-weisen-pferds/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/der-corrido-des-weisen-pferds/#comments Sun, 11 Jul 2010 06:39:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=450 Der Satz von Alfredo Jiménez „Ich ging mit Ziel gen Norden / nachdem ich Guadalajara verließ“ hat mich schon immer beunruhigt. Das Lied, aus dem er stammt, heißt „Der Corrido des Weißen Pferds“ (Corrido ist eine besondere Liedform in Mexiko, Anm.d.Ü.). Das Bild, das aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts stammt, beschreibt die Rundreise eines Chryslers, Modell 57. „Der Corrido des Weißen Pferds“ ist eine Art On the road-Lied. José Alfredo fährt – wie ein Jack Kerouac – mit einem Chrysler statt mit einem klapprigen Dodge Richtung Norden. Beide Werke stammen aus der selben Epoche. Die Verbindung, die zwischen der Beat Generation und den populären mexikanischen Liedermachern besteht,  hat mich immer umgetrieben. Ich denke an Javier Solís als unseren lokalen Gregory Corso. Wenn die Geschichte mich etwas gelehrt hat, dann, dass sich absolut jedes Volk aus Fußbällen, verbitterten Geliebten und moralischen Lektionen zusammensetzt.

Jenes weiße Pferd, auf das sich José Alfredo bezieht, ist die Geschichte. Wenn ich irgendetwas von der Geschichte gelernt habe, dann, dass die einzige Lösung für unsere Konflikte im Himmelreich der Musik zu finden ist. In diesem Sinne ist die Geschichte das Wichtigste in meinem Leben. Es ist wahr: Die Geschichte kann man in Toten, in Kriegen, in Aufständen messen. Aber sie wird immer ungenau aufgezeichnet werden. Allein mittels der Musik ist es möglich, den Puls der Geschichte zu spüren. Wenn wir an die Geschichte denken, rufen wir zuerst unseren persönlichen soundtrack ab, noch bevor irgendein Erinnerungsbild entstehen kann. Niemand erinnert sich an so viele Daten wie an Lieder.

Immer wenn ich den „Corrido des Weißen Pferds“ höre, denke ich nur an zwei Dinge: Frauen und Fußball. Ich will sagen: Ich lasse die Geschichte und meine Geschichte Revue passieren. Nach zwei Ehen (wie Fogwill sagt: Ich trenne mich nicht, ich werde rausgeworfen) ist mein einziges Anliegen, mir ein paar Beistelltische zu kaufen (oder sie selbst bauen, wie mir jemand nahelegte), um vor dem Fernseher zu essen. Währenddessen stelle ich mir vor, dass das weiße Pferd die mexikanische Fußballmannschaft ist, die, nachdem sie eines sonntags Guadalajara verließ, von Argentinien vernichtet wurde, das wiederum von Deutschland vernichtet wurde, das wiederum von Spanien vernichtet wurde, und mit ihr auch meine Geschichte der Weltmeisterschaft in Südafrika 2010.

Übersetzung: Anne Becker

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