Fußball – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Die wilden Fußball-Bestien http://superdemokraticos.com/laender/kolumbien/die-wilden-fusball-bestien/ Tue, 11 Oct 2011 07:15:34 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5247 Immer, wenn Fußball ist, dreht Iowa City durch. Die Straßen werden zu Flüssen aus Menschen und alle Leute tragen nur Schwarz und Gelb – von Kopf bis Fuß. Die Frauen malen sich das Logo der Hawkeyes ins Gesicht und die Männer tragen es auf ihren Unterhosen. Es gibt auch welche, die sich komplett als Hawkeyes verkleiden, mit Federn aus Stoff laufen sie auf den Gehwegen Rollschuh, und Betrunkene, die darauf bestehen, dass du mit ihnen High-Five einschlägst. Vor dem Spiel betrinken sich die Menschen in den Bars, und nach dem Spiel kommen sie zurück, um sich weiter zu betrinken. Wenn die Hawkeyes gewinnen.

Heute haben sie gewonnen. Aus meinem Fenster sah ich einen Streit, ich sah eine Frau in Stöckelschuhen, die ohnmächtig wurde und sich wieder fing, kurz bevor sie auf den Boden aufschlug. Ich sah ein paar Typen tatsächlich auf dem Boden liegen und einen Bettler mit einem Schild, das ihn als Mitglied der „Small Penis Foundation“ auswies. Die Leute lachten darüber und warfen Münzen in den Becher. Der Typ machte sich die kollektive Hysterie zunutze. Genau wie ich. Ich ging durch die Straßen und dachte über die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft nach. Geheule, Beschimpfungen, heimliche Küsse, gefallene Menschen. Alles in Schwarz und Gelb. Niemals zuvor habe ich soviel kollektive Hysterie gesehen.

Wenn die Welt ein Dorf wäre und dieses Dorf hieße Iowa City, würden lediglich zwei Klassen von Menschen auf dieser Welt existieren. Die wilden Fußball-Bestien und die Intellektuellen. Iowa City ist der Sitz des Iowa Writers‘ Workshop, des Iowa Playwrights‘ Workshop, des Iowa Summer Writing Festival, des Non-fiction Writing Program und des International Writing Program. Auch wenn Iowa City nicht den Weltrekord in literarischen Programmen hält, wurde es dennoch von der UNESCO zur Weltliteraturstadt erklärt.

Ich bin in dem International Writing Program, als „resident writer“ mit 36 weiteren Autoren aus aller Welt: Menschen aus Australien, Neuseeland, aus West-und aus Ost-Europa, aus Irland und Schottland, aus dem Mittleren und dem Fernen Osten, aus Afrika und Lateinamerika. Dichter, Dramaturgen, Romanautoren, nicht-fiktionale Autoren, Verfasser von Kurzgeschichten. Aber in Wahrheit sind 37 Schriftsteller in Iowa City eigentlich nichts. In Iowa City ist jeder ein Schriftsteller. Jeder, der kein Fußball-Wilder ist.

Der Barmann, der uns im FoxHead bedient, ist Dichter, die Freundin der Frau, die ich eben kennengelernt habe und die in der Bar auf einen Mann wartet, ist Literaturkritikerin, eine, die ich gerade erst kennengelernt habe, die in der Bar auf einen Mann wartet, ist Englischprofessorin und der Mann, auf den sie wartet, ist Schriftsteller. Romanautor aus dem Writers‘ Workshop. Angehender Romanautor, besser gesagt. Der Typ kommt. Cordjacke mit Flicken auf den Ellbogen und Büchern unter dem Arm. Nachdem er uns die Hand gegeben hatte und wir unsere Namen genannt hatten, folgte das hier:

–Ach, du bist also Schriftstellerin, wie alt bist du denn?

–39.

–Wie viele Bücher hast du schon herausgebracht?

–Drei.

Maria lacht über diese Geschichte. Maria ist die Argentinierin aus dem International Writing Program. Sie sagte zu mir, ich hätte ihm die Gegenfrage stellen sollen: Und, Alter, wie lang ist deiner? Schau dir die doch an, sagt sie auf einen Passanten zeigend, schau sie dir doch an. Der Passant trägt Bücher unter seinem Arm, eine Zigarre und eine Baskenmütze. Schau dir die Verkleideten doch an. Das Lachen der Argentinierin sprudelt nur so aus ihr heraus und ist ansteckend.

Ich ging lieber, um mit Brandon zu reden. Brandons Arbeit ist es, die Schule zu putzen. Er ist die erste Person in Iowa City, die ich kenne, die kein Schriftsteller ist. Na ja, obwohl er manchmal sagt, dass es ihm gefallen würde oder das es ihm gefallen hätte oder es ihm unter Umständen doch zugesagt hätte zu schreiben. Ich wechsle dann das Thema. Brandon, lass uns raus gehen.

Draußen vor dem FoxHeart trifft man immer auf die Raucher des International Writing Programs. Und auf alles mögliche. Der Südafrikaner beschimpft eine wilde Fußball-Bestie, die schimpfend vorbeiging. Der Philippine liegt auf dem Boden, weil er zu viel Whiskey getrunken hat, er, der eigentlich nur Bier trinkt. Die Deutsche gibt Kampfschreie von sich, während sie Karateschläge verteilt. Ein Paar, weiter weg, in der Kälte, gibt sich den Kuss, den sie sich nicht geben sollten und den die anderen Leute nicht sehen sollte.

In Iowa City gibt es nur am Samstag Spiele und die wilden Fußball-Bestien dösen die Woche über. Und wir, ja wir schreiben auch, nehmen an Diskussionsrunden teil und halten Lesungen. FoxHead hat Montags Ruhetag, oder war es Sonntag?

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Rückfahrt in getrennten Autos oder „Wie mein 12-jähriges Ich dereinst den Kampf der Kulturen aufheizte“ http://superdemokraticos.com/themen/burger/ruckfahrt-in-getrennten-autos-oder-wie-mein-12-jahriges-ich-dereinst-den-kampf-der-kulturen-aufheizte/ Fri, 03 Sep 2010 12:36:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1574 Ich habe ein Geständnis zu machen. Angesichts der in Deutschland derzeit um sich greifenden Integrationsdebatte möchte ich zugeben: Ja, auch ich war einmal Teil einer anti-islamischen Initiative. Beziehungsweise: Auch ich habe Migranten aus dem mohammedanischen Kulturraum als Gruppe diskriminiert. Allerdings, das möchte ich zu meiner Ehrenrettung betonen, entsprachen meine Motivationen in keinster Weise den schwammigen Beweggründen, die jetzt Teile der Bevölkerung dazu bringen, einem sich (rechts-)radikalisierenden Politiker darin zuzustimmen, dass muslimische Migranten generell eine kulturelle Bedrohung darstellen; dass sie – ob genetisch oder kulturell bedingt sei erstmal dahingestellt – nicht integrationswillig und nicht lernfähig sind und die deutsche Kultur so wenig respektieren wie überhaupt die Protagonisten des Kulturraums, der ihnen – im Kontext von Immigration ein so furchtbares wie falsches Wort – „Gastgeber“ ist. Ob Deutschland sich „abschaffen“ könnte, wie es dieser besagte Politiker befürchtet, interessierte mich damals, als ich noch Aktivist war, einen Scheißdreck. Ich wollte nur Tore machen! Ich war 12 Jahre alt, ich spielte Fußball beim SC Aplerbeck 09, einem Vorortverein am Rand des Ruhrgebiets. In diesem Verein passierte das, was das dreigliedrige Schulsystem sonst zu verhindern wusste: Bürger- und zumeist ausländische Arbeiterkinder prallten nahezu ungebremst aufeinander. Mit einschneidender Wirkung: Noch heute sehe ich mich mit sieben anderen zumeist semmelblonden deutschen Mittelschichtsknaben nach einem Spiel zum Trainer gehen (Vater eines Mannschaftskameraden, deutsch) und sagen: „Wir wollen nicht mehr mit den Marokks zusammen spielen.“ Der Trainer fragte: „Warum?“ Wir: „Weil: Die spielen nie ab! Und wenn, dann nur untereinander!“ Was mich aus heutiger Sicht an diesem politisch völlig unkorrekten, gruppendiskriminierenden Vorstoß gegen unsere sieben marokkanischen Mitspieler beeindruckt (und was ihn von der jetzigen ideologisch dominierten Debatte unterscheidet), ist sein Pragmatismus. Man hätte seinerzeit, wo man schon mal „dabei“ war, ja tatsächlich so vieles nennen können, was in dieser mannschaftgewordenen Engführung zweier kultureller Gruppen nicht funktionierte. Man hätte die klassischen Exzesse der Ehrkultur monieren können, das aufbrausende „Ey, machsu misch an?“, wenn man in der Mannschaftskabine zu lange in eine Richtung gestarrt hatte. Man hätte sich über die offensichtliche Geringschätzung unserer Familienstrukturen, vor allem unserer Mütter, aufregen können, die sich in dadaistischen Dialogen wie „Verpiss dich, du Hurensohn!“ – „Selber Hurensohn!“ – „Ey, hast du grad meine Mutter beleidigt?“ niederschlugen. Vielleicht war es Arroganz, die sich in Nachsicht äußerte, und die von unseren Eltern auf uns überging: „Das sind meist ganz einfache Leute, die haben’s hier auch nicht leicht.“ Vielleicht war es auch der marokkanische Ärztesohn, der – ebenfalls in unserer Mannschaft – so ganz anders als seine Landsmänner war und damit ein übergroßes Zeichen dafür setzte, dass aggressive Rappeligkeit eventuell doch primär ein soziales und erst danach – im spezifischen Ausdruck – ein kulturelles Problem sei. Vielleicht war es aber auch unser Trainer, ein besonnener Heizungsbau-Meister, der das Strohfeuerchen der Revolte schnell in den Griff bekam. Nicht etwa, indem er interkulturelle „Patenschaften“ bildete, wechselseitige Hausbesuche organisierte oder dergleichen mehr neumodisches Zeugs. Er sorgte einfach vor dem nächsten Spiel für ein klärendes Gespräch. Als die El-Fassi-Brüder in der Folge gelobten, auch „mal“ abzuspielen, grinste er breit. Später lobte er sie vom Spielfeldrand in den Himmel, als sie das dann auch alle Jubeljahre „mal“ taten. Und er warf sich oben auf, als wir – nach einem interkulturellen Doppelpass – das Siegtor schossen und zu fünfzehnt in der roten Erde lagen. Dass der Trainer uns, den Deutschen, bei der Rückfahrt in getrennten Autos versicherte, dass das heute „schon besser“ war, dass „die“ es aber so „natürlich“ dennoch „im Leben“ nie „weit“ bringen würden „in diesem Land“ und uns für unsere Geduld lobte, ist die unschöne Fußnote dieser an sich doch recht hübschen Geschichte.

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Die Stadt als Körper und Witz http://superdemokraticos.com/themen/koerper/die-stadt-als-korper-und-witz/ Tue, 03 Aug 2010 14:31:05 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=565

Ich wie ein Kind in der Stadt.

• Ich fahre im Taxi die Straße entlang und beobachte die Körper der Menschen, wie sie durch die Stadt laufen. Ich beobachte, ob ihre Körper sich an Montevideo anpassen oder ob es Montevideo ist, das sich an ihre Körper anpasst. Ich fahre eingeklemmt auf der Rückbank des Taxis, denn ich bin groß, 1,90 Meter, und in die Taxis von Montevideo wurde vor einigen Jahren aus Sicherheitsgründen eine Schutzscheibe eingebaut, die den Fahrer von den Fahrgästen trennt. Für Langwüchsige wie mich ist es sehr schwierig, Taxi zu fahren; wir müssen immer schräg sitzen, da in der normalen Position unsere Knie an die Scheibe stoßen. Wenn das Taxi ruckartig bremst, stoßen wir uns die Stirn an der Scheibe. Fährt das Taxi irgendwo gegen, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir uns einen Zahn ausschlagen oder irgendein Knochen im Gesicht brechen. Die Taxis in Montevideo sind nicht gemacht für die montevideischen Körper.

• Aus dem Taxi gucke ich mir die Fortbewegungsgewohnheiten der montevideischen Körper im Verhältnis zur Stadt an. Ich achte darauf, wie wir uns durch die Adern dieser Hauptstadt bewegen, wie sich die Bürger auf den Hauptarterien kreuzen, wie sie sich auf ihren offenen Plätzen tummeln, wie sie gegen ihre Knochen stoßen, in ihren Gelenken umbiegen, sich in ihren Löchern verstecken. Wenn die Stadt ein Körper wäre, welcher Teil von ihr wäre dann ihr Geschlecht?

• Zuerst dachte ich, es wären die Krankenhäuser. Dort werden die Kinder geboren, dort vermischen sich die krankhaften Körperflüssigkeiten der Leute, da sterben sie, da werden sie geboren, da beginnt und endet die große Masse der Bürger. Aber dann stelle ich fest, dass das Geschlecht mehr als das ist, dass ich danach suchen muss, welcher Part der Stadt sich reproduziert, sich amüsiert, sich selbst genießt. Wenn ich scheinheilig sein wollen würde, würde ich behaupten, dass sich das Geschlecht in jedem Bett unserer Haushalte befindet…..Lüge!

• Aus der Perspektive der Fortpflanzung betrachtet leidet Uruguay an einer Krankheit im Endstadium. Seine Bevölkerung wächst nicht und ist sowieso schon sehr klein, die wenigen jungen Menschen wandern früh aus. Wir sind knappe dreieinhalb Millionen Personen, und es scheint, als hätten wir nicht genug Lust zu wachsen. In solch einem Land sind die Betten kein Fest. Nein, die Betten in diesem Land sind mehr als für irgendetwas anders zum Schlafen da.

• Nichtsdestotrotz vögeln wir und pflanzen uns fort und amüsieren uns, aber wir sind nicht viele, wir sind sogar ziemlich wenige, aber wir halten unsere Adepten beieinander und missionieren neue Bürger. Ich schließe mich hier mit ein, da ich mich immer am Geschlecht der Stadt aufhalten werde. Ich ziehe das ihren arbeitsamen Armen, ihrem erfinderischen Kopf oder ihren geschickten Füßen tausendfach vor. Ich suche immer das Geschlecht von meiner Stadt, diesen Zugang zum Verborgenen, zum Genuss, zum Exzess, zum Obszönen, zur schönen, wundersamen Perle inmitten des Blutigen und Schmutzigen. Man muss in den Fluss hineinsteigen, um die Goldkörner zu finden.

• Meine Stadt ist ein alter Körper und wir sind alt in dieser Stadt. Wir sind ein junges Land  –  wir sind noch keinen 200 Jahre alt, auch wenn wir diese schon feiern, obgleich es offiziell noch so 20 Jahre bis dann hin sind – aber wir sind sehr alt. So habe ich mich am Anfang dieses ganzen Schreibspiels vor ungefähr fünf Essays vorgestellt. „Ich bin ein alter Mann im Körper eines jungen Mannes“ und das selbe gilt auch für die Stadt. Ihr natürliche Verfassung ist die Langsamkeit, die Traurigkeit und die Nostalgie. Zumindest empfinden…empfanden wir so.

• Etwas passiert gerade: Eine Art Benjamin Button auf Landesebene –  ha, ich weiß, dass der Vergleich fürchterlich ist, aber ich erinnere mich nicht an das andere, kultigere Buch, welches von der selben Geschichte handelt. Die Stadt und ihre Menschen, mit der Zeit hat sie angefangen, wieder jünger zu werden. Wir sind weit davon entfernt, Kinder oder Jugendliche zu sein, und schon gar nicht junge Leute in den 30ern. Aber eine Brise des Erwachsenenseins weht über den Boden unseres Vaterlands. So als wären wir plötzlich nicht mehr 70 Jahre alt sondern 50. Auf diese Weise wollen wir noch ein bisschen mehr vögeln, haben wir die Hoffnung und Lebenserwartung, dass uns noch ein wenig Zeit bleibt. Wir animieren uns sogar zu ein paar Fußballspielchen und dazu, sie zu gewinnen, wenn uns ein Wunder dabei hilft!

• Etwas verändert sich gerade. Uruguay hat das hohe Alter hinter sich gelassen und ist ins Stadium der Reife eingetreten, und mit ein bisschen Glück erfüllt sich jener Witz von Quino (bekannter argentinischer Comiczeichner; Anm.d.Ü.). Vielleicht ist Uruguay dieser Witz von Quino. HA! Hoffentlich.

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Das Leben laut Quino

…Ich denke, dass die Art und Weise, wie der Fluss des Lebens verläuft, falsch ist. Es müsste anders herum sein: Man müsste zuerst sterben, um das ein für alle Mal erledigt zu haben.

Dann eine Zeitlang im Altersheim wohnen, bis sie dich da rausschmeißen, wenn du nicht mehr alt genug bist, um dort zu weilen.

Dann beginnst du zu arbeiten, 40 Jahre lang, bis du jung genug bist, um deinen Ruhestand zu genießen.

Danach Partys, um die Häuser ziehen, Alkohol. Spaß, Geliebte, Freunde, Freundinnen, alles, bis du bereit bist, auf die Sekundärschule zu gehen…

Danach beginnst du die Grundschule und bist ein Kind ohne Verantwortlichkeiten irgendeiner Art…

Danach wirst du zu einem Baby und gehst erneut zurück in den mütterlichen Bauch und dort verbringt du die besten und letzten 9 Monate deines Lebens, schwebend in einer warmen Flüssigkeit, bis dein Leben sich mit einem heftigen Orgasmus ausschaltet.

DAS IST DAS WAHRE LEBEN!!!

Übersetzung: Anne Becker

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Die Internationalmannschaft http://superdemokraticos.com/editorial/die-internationalmannschaft/ http://superdemokraticos.com/editorial/die-internationalmannschaft/#comments Sun, 11 Jul 2010 22:31:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=449 Sorry, Jungs, sorry, Mädels, ich muss, solange es noch geht, ein bisschen über Fußball schreiben. Seit der letzten WM 2006, die in Deutschland stattfand und mit dem Slogan „Zu Gast bei Freunden“ beworben wurde, wundert sich nämlich bei uns niemand mehr über öffentlich zur Schau gestellte Deutschlandflaggen. Was 2006 noch überraschte, ist bei der WM 2010 Normalität geworden. Die überpräsente National-Beschmückung führt dazu, dass ich mich täglich mit Deutschland und mit meiner Rolle als so genannte Deutsche (Pass) beschäftige. Beschäftigen muss. Und das ist mir immer etwas unangenehm. Denn wie deutsch bin ich, wenn ich meine erste eigene Wohnung als Aupairmädchen in Frankreich bezog, meine erste totale Sonnenfinsternis in London sah, meine erste Vollnarkose in Ungarn erlebte, zum ersten Mal in Bolivien in einem glasklaren Fluss schwamm?

Als ich zur Schule ging und studierte, in den 80ern und 90ern, konnte ich die Fahnen, die ich in meinem Leben gesehen hatte, an einer Hand abzählen. Es gab sie einfach nicht. Es gab im Lexikon den Eintrag „Flagge“, neben allen Flaggen der Welt, aber sie wurde nicht aus ihrer Kiste geholt. Sie war ein abstraktes Staatssymbol. Manchmal hing sie an öffentlichen Gebäuden, auf Halbmast, bei Todesfällen internationalen Ausmaßes, oder am Masttop in EU-Kontexten. Wenn wir mit der Familie Urlaub in Dänemark machten, flatterte dort vor allen Holzhäuschen die dänische Flagge. Ich dachte: Unsere Flagge ist einfach hässlich, die dänische ist viel schöner. Bin ich also Dänin?

Und nun: Autos, Fenster, Balkons, Vorgärten, Vuvuzelas, ja sogar Körperteile (Arme, Beine, Wangen) sind beflaggt. Neulich sah ich, wie eine dicke Frau im Tigerprint-Kleid auf die solariumsbraune Glatze ihres Mannes ein Flaggentattoo auftupfte. Eine Glatze in Schwarz-Rot-Gold… Ich bin verwirrt: Woher kommt diese neue Flaggenliebe der Deutschen? Warum ist die ehemalige Verdruckstheit weg („Ich kann nicht stolz auf mein Land sein, nach all dem, was passiert ist“, das 6-Millionen-Argument, von dem auch Jo Schneider in seinem Essay spricht; die historische Verantwortung, die man als Deutsche/r mit sich trägt)? Warum male sogar ich mir eine Flagge auf den Arm? Sind wir alle geschichtsvergessen geworden?

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Die neue deutsche Fankultur hat vielleicht mit einer gemeinsamen, kollektiven Freude zu tun, weil Sommer ist, weil wir draußen auf der Straße zusammen herumschreien und -tröten, weil es Spaß macht, sich mit etwas zu identifizieren, weniger mit einem Nationalgefühl als mit Sportsmanship und mit flotten Männern (Yes, Ladies!). Weil die Nationalmannschaft zu einer Internationalmannschaft geworden ist, mit Spielern wie Mesut Özil, Boateng und Piotr Trochowski mit migrantischen Wurzeln, die jung sind, nach anderen Regeln spielen, nicht mehr hierarchisch aufgestellt sind, irgendwie nicht-deutsch wirken (wenn Biertrinken, Schwermut, Autoritätsgehorsam als „deutsch“ gelten). Weil sie jetzt niederländisch spielen – das sagen zumindest die Zeitungen.

Gleichzeitig werde ich wohl nie davon wegkommen, das Flaggen-Meer als irgendwie gefährlich einzuschätzen. Nationale Symbole tragen diese Ambivalenz in sich, diese Drohung, von der auch Gabriel Calderón spricht: „Die Geschichte / Immer zur Stelle, um in jedem Moment wieder aufzutauchen / Um mit aller Wucht in der Gegenwart einzuschlagen.“ Leider mischen sich nämlich vermehrt auch Neonazis unter die johlenden Fußballmassen.

Noch ambivalenter ist im Übrigen die deutsche Nationalhymne, die neuerdings auch wieder deutlich und öffentlich mitgesungen wird: Die Melodie stammt aus der Feder des österreichischen Komponisten Joseph Haydn. Er komponierte sie in Wien als Grundlage für die habsburgerische Kaiserhymne, basierend auf einem kroatischen Volkslied. Den Text hat der deutsche Dichter Heinrich von Fallersleben 1841 als „Deutschlandlied“ auf der damals britischen Insel Helgoland verfasst, und er handelt unter anderem von den Außengrenzen des im 19. Jahrhundert sehr uneinheitlichen deutschen Reiches, um die innere Zerrissenheit zu überspielen. Diese Insel in der Nordsee, die Deutschland nach dem ersten Weltkrieg gegen die Kolonie Sansibar tauschte, diente im Zweiten Weltkrieg als nördlichster U-Boothafen der Nationalsozialisten. Die Militärs durchlöcherten die Insel wie einen Schweizer Käse mit unterirdischen Bunkergängen, welche am Ende des Krieges in die Luft gesprengt wurden. Eine Hälfte der Insel brach ab und versank im Meer. Heute ist Helgoland ein Mekka für Birdwatcher (Trottellummen). Und gesungen wird nur noch die dritte Strophe – in der keine Grenzen vorkommen.

Ja, es geht um Details, wenn wir über Geschichte sprechen, allgemeingültige Symbole (Flaggen, Monumente) kann es eigentlich nicht geben. Ich glaube immer mehr, das wir nur Vorübergehende in der Gegenwart sind weniger als von der Vergangenheit bestimmte Existenzen; wir sind Passanten der Geschichte, Passanten in der Geschichte, mikroskopisch klein (wie Lena Zuñiga sagt), aber jeder an seinem Ort wichtig. Wo wir morgen sein werden, in welcher Geschichte, hängt von uns ab. Nicht von einer Flagge.

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Der Corrido des Weißen Pferds http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/der-corrido-des-weisen-pferds/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/der-corrido-des-weisen-pferds/#comments Sun, 11 Jul 2010 06:39:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=450 Der Satz von Alfredo Jiménez „Ich ging mit Ziel gen Norden / nachdem ich Guadalajara verließ“ hat mich schon immer beunruhigt. Das Lied, aus dem er stammt, heißt „Der Corrido des Weißen Pferds“ (Corrido ist eine besondere Liedform in Mexiko, Anm.d.Ü.). Das Bild, das aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts stammt, beschreibt die Rundreise eines Chryslers, Modell 57. „Der Corrido des Weißen Pferds“ ist eine Art On the road-Lied. José Alfredo fährt – wie ein Jack Kerouac – mit einem Chrysler statt mit einem klapprigen Dodge Richtung Norden. Beide Werke stammen aus der selben Epoche. Die Verbindung, die zwischen der Beat Generation und den populären mexikanischen Liedermachern besteht,  hat mich immer umgetrieben. Ich denke an Javier Solís als unseren lokalen Gregory Corso. Wenn die Geschichte mich etwas gelehrt hat, dann, dass sich absolut jedes Volk aus Fußbällen, verbitterten Geliebten und moralischen Lektionen zusammensetzt.

Jenes weiße Pferd, auf das sich José Alfredo bezieht, ist die Geschichte. Wenn ich irgendetwas von der Geschichte gelernt habe, dann, dass die einzige Lösung für unsere Konflikte im Himmelreich der Musik zu finden ist. In diesem Sinne ist die Geschichte das Wichtigste in meinem Leben. Es ist wahr: Die Geschichte kann man in Toten, in Kriegen, in Aufständen messen. Aber sie wird immer ungenau aufgezeichnet werden. Allein mittels der Musik ist es möglich, den Puls der Geschichte zu spüren. Wenn wir an die Geschichte denken, rufen wir zuerst unseren persönlichen soundtrack ab, noch bevor irgendein Erinnerungsbild entstehen kann. Niemand erinnert sich an so viele Daten wie an Lieder.

Immer wenn ich den „Corrido des Weißen Pferds“ höre, denke ich nur an zwei Dinge: Frauen und Fußball. Ich will sagen: Ich lasse die Geschichte und meine Geschichte Revue passieren. Nach zwei Ehen (wie Fogwill sagt: Ich trenne mich nicht, ich werde rausgeworfen) ist mein einziges Anliegen, mir ein paar Beistelltische zu kaufen (oder sie selbst bauen, wie mir jemand nahelegte), um vor dem Fernseher zu essen. Währenddessen stelle ich mir vor, dass das weiße Pferd die mexikanische Fußballmannschaft ist, die, nachdem sie eines sonntags Guadalajara verließ, von Argentinien vernichtet wurde, das wiederum von Deutschland vernichtet wurde, das wiederum von Spanien vernichtet wurde, und mit ihr auch meine Geschichte der Weltmeisterschaft in Südafrika 2010.

Übersetzung: Anne Becker

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ISLA DE ENCANTA http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/isla-de-encanta/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/isla-de-encanta/#comments Fri, 09 Jul 2010 06:48:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=445 Geschichte spricht nicht, Geschichte verlagert sich. Als die Niederlande die Deutschen im Halbfinale der Europameisterschaft 1988 schlugen, enterten unsere Nachbarn den Jahrmarkt, der an diesem Tag in unserer Grenzstadt stattfand, und malten die Gehsteige orangefarben. Als sie das Finale gewonnen hatten, sprangen sie in Amsterdam in die Grachten. Als zwei Jahre später die Revanche stattfinden sollte, schloss der Zoll vorsorglich die Grenze. Niemand kam mehr her oder hin.

Mein Großvater war noch mit dem Falsch-Schirm auf das platte Land gestürzt, als irgendjemand seinen Flieger abschoss, 1940. Er versteckte sich, so hieß es, lange bei einer niederländischen Familie, bis er als Kriegsinvalide anerkannt in sein großdeutsches Heimatdorf zurückkehren durfte.

Das Heimatdorf, die Grenzstadt, hat Hügel und Wälder an den Rändern, die immer noch von Gräben und Trichtern, Schützengräben und Bombentrichtern, von Bunkern und alten Stellungen durchzogen sind. Aber die Menschen im Seniorenheim erinnern sich nicht. Die Gräben stammen aus dem 1. Weltkrieg, sagen sie.
Was geschichtlich nicht stimmen kann.

Das Heimatdorf kam nach dem Krieg zu den Niederlanden, meine Mutter ist gebürtige Niederländerin. 1963 wurde es wieder Deutsch. Meine Mutter ist Deutsche. Nach ihrer Scheidung, fünf Jahre nach der Wiedervereinigung, nahm sie ihren Mädchennamen wieder an und zog zurück in die Niederlande.

Demokratie schützt uns, und Demokratie regt zur Teilnahme an, macht meist aber teilnahmslos. Das Spiel läuft im Fernsehen. Wir schauen zu. Die Regierung nutzt das Zusammenkommen von Euphorie und Passivität, um ungehörige Beschlüsse zu verabschieden. Das Ende der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Und vieles mehr.

Aber lasst uns nicht von der Regierung reden.
Reden wir über Fußball.

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