Fremdsein – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Mäuschen in der Säule http://superdemokraticos.com/themen/burger/mauschen-in-der-saule/ Mon, 11 Oct 2010 08:56:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2857

Dieser Text ist der Mäusefamilie gewidmet, die an der Hauptwache in Frankfurt in einer Säule lebt, mit etwa 14 Mäuschen-Kinderchen. Hektische und putzige Nachtarbeiter im Kollektiv. Dieser Text ist folglich den Diminutiven gewidmet, die Zaubertricks gegen Superlativen.

Dieser Text ist auch der Sprache gewidmet, mit der ich in den vergangenen Tagen kommuniziert habe, die mich unter spanischsprachigen Freunden in eine mir manchmal unangenehme Fremdheit trägt, weil ich die Sprache eher zufällig durchs Leben, nicht in der Schule gelernt habe. Ich nenne diese Sprache „espanol falso“, Falschpanisch. Das ist die pseudomigrantische Währung, die ich unter der Zunge trage.

Frische Äpfel von meinem Brandenburger Bauern, Notizblock, Kamera, ansonsten eine leere Tasche. Dies war nicht meine erste Frankfurter Buchmesse, sondern meine fünfte. Ich fühlte mich vorbereitet. Aber dann kam, als ich die unendlichen Regale sah, eine neue Angst über mich, eine Angst, die ich bisher noch nicht erlebt hatte und die vielleicht mit meiner Rolle als Superdemokratin zu tun hatte: Wer soll das lesen? Ich nicht, niemals. Und selbst, wenn ich eine wohlüberlegte Auswahl träfe, wann könnte ich dann noch schreiben, geschweige denn handeln? Der Teufelskreis der Leser-Schreiber-Bürger lähmte mich zunächst.

Aber zum Glück traf ich viele andere Leser-Schreiber-Bürger auf Gängen, an Ständen, auf Parties, Menschen, die Bücher lieben und klauen und ihre ganz privaten guten Bücher, diese kleinen Geistesbomben, weitertragen oder selbst gestalten, wie die unermüdlichen Eloisa Cartoneras. Die Bomben-Metapher ist geklaut; der unabhängige argentinische Verlag Clase Turista hat bereits ein Buch mit Zündkabel gestaltet.

Ich, als Säulenmensch. Foto: Viktor Nübel

Unabhängige Verlage, ob in Argentinien oder in Deutschland, stellen unter vollem Einsatz ihrer Person und Persönlichkeit solche relevanten Kunstobjekte her, intellektuelle Eingreiftruppen auf dem oft doch sehr gleichgeschalteten Markt. Sie treffen „Entscheidungen für die Zukunft“, wie es Sergio Parra, vom chilenischen Verlag Metales Pesados ausdrückte. Ich fühle mich schon ein wenig heuchlerisch, das jetzt auf ein Blog zu schreiben, aber die „literarische politische Theorie“, die alle Autoren von Los Superdemokraticos in den vergangenen vier Monaten virtuell entwickelt haben, soll es auch in ein paar Monaten gedruckt geben. Wir gehen einfach mal rückwärts: erst online, dann offline. Erst digital vernetzen, dann physisch verbreiten.

Bei der Präsentation des „2010 Ranking of the Global Publishing Industry“ hörte ich mir an, was die großen Konzerne in der Zukunft vorhaben. Trotz der Finanzkrise geht es, so erfahre ich, der Verlagsbranche nicht allzu schlecht, denn die digitalen Märkte boomen, ob in den USA, Spanien oder Deutschland – wie ist das in Lateinamerika?? Die Verlage machen keinen Unterschied mehr zwischen digitalen und, wie sie sagen, „physischen“ Büchern, einzig die Vermarktungswege wären unterschiedlich, hier kommt es auf die Vertriebswege an, aber auch um Zusatzservices wie Empfehlungen, nicht nur nach Algorhythmen. Aha, sag ich da, es geht um menschlichen Austausch. Carolyn Reidy vom US-amerikanischen Großverlag Simon & Schuster macht bei dieser Veranstaltung die poetischste Aussage: „Es werden sich neue Ebookformate entwickeln, aber wir haben sie noch nicht entdeckt. Das macht die nächste Generation, sie haben andere Gehirne als wir.“ Das kann ich bestätigen. Nach dem Aufstehen lief aus meinem linken Auge eine Wasserspur wie aus einer Tränenmaschine. Als ich in der Apotheke Tropfen kaufen wollte, sagte ich: „Es sieht so aus, als ob ich weine, aber ich weine nicht. Mein Auge macht das einfach so.“ Das kommt bestimmt vom Messeklima. Bücher wie Mäuse sollten auch mehr an die frische Luft!

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Werdet Bus-Bürger http://superdemokraticos.com/editorial/werdet-bus-burger/ Sun, 12 Sep 2010 11:18:29 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1884 Unser Blog Los Superdemokraticos verbindet zwei Regionen, die sehr unterschiedlich auf Migration blicken, dieses Phänomen, dass weltweit die Gesellschaften, die Literaturen prägt: Deutschland hat Probleme, seine Immigranten als integralen Teil zu akzeptieren (siehe Sarrazin-Debatte, bei Jo Schneider und Emma Braslavsky), dabei hat bereits in Berlin jedes zweite Kind Migrationshintergrund, lateinamerikanische Länder wie Argentinien verstehen sich dagegen schon lange als Einwanderungsland (siehe Karen Naundorfs Text), andere Staaten – Mexiko, Bolivien, Kuba – sind durch Abwanderung geprägt: in die USA, nach Europa soll es gehen.

Doch: Jeder Mensch trägt gewisserweise einen Migranten in sich, vielleicht ist das der gute Bürger, den René Hamann getroffen hat. (Wer jetzt mit dem Kopf schüttelt, braucht in seiner Familiengeschichte nur ein paar Generationen zurückgehen.) Neu ist, dass jeder durch Internet, Kabelfernsehen, Radiostreams und Skype mit seiner ursprünglichen Heimat verbunden bleibt. Die Überseekabel dienen als Nabelschnur und das Fort-Da-Spiel von Freud wird somit ad absurdum geführt: Es ist möglich, sowohl hier, als auch da zu sein, zumindest als hyperrealer Bruder, Freund, Elternteil, Facebook-Freundin. Aus dieser Spannung heraus kann „eine neue Form der Identität aus eigenen und fremden kulturellen Praktiken“ gefunden werden, wie Lizabel Mónica es formuliert. Sie fordert weiterhin, das „Fremdsein als eine Form des bürgerschaftlichen Handelns zu praktizieren“. Wer fremd ist, sieht die Dinge anders. Wer fremd ist, kann konstruktive Vorschläge machen. Wer fremd ist, erlebt Missstände.

Heute reicht es, mit dem Bus zu fahren, um sich, ich sage mal, „produktiv fremd“ zu fühlen. Um zu erkennen, wo die gesellschaftliche Debatte hakt. Im Liniennetz des öffentlichen Nahverkehrs begegnen sich Arbeiter und Arbeitslose, Touristen, Asylanten und Alteingesessene, Familien, Paare und Singles, Studenten, Bauarbeiter, Straßenmusiker Sie benutzen Kollektivos, Trams, U-Bahnen und Zügen völlig zufällig. In einem Gefährt werden sie zu Gefährten eines gemeinsamen Alltags. Agustín Calcagno lauscht im Bus einer Mischung aus Cumbia und Minimal Tech, Maria Medrano den Stimmen der Frauen, die ihre Verwandten im Gefängnis besuchen, Leo Felipe Campos bedauert ausländischen Besuch, der sich den „Abenteuern der verschiedenen öffentlichen Verkehrsmittel“ nicht stellt, Rery und ich treffen Touristen und einen berühmten bolivianischen Maler in der M 29. Ich plädiere hier dafür, eine neue Form der Staatsbürgerschaft, die Bus-Bürgerschaft zu gründen. Vor dem Bus sind alle gleich. Fahrt mehr Bus! Erhascht den Blick des Anderen.

PS: Ihr könnt natürlich sagen, das ist doch Schwachsinn. Aber diese Form der Annäherung an unterschiedliche kulturelle Codes wäre zumindest ein Anfang. Wir könnten anfangen, mit denen zu reden, die neben uns sitzen. Zu beiden Seiten. Und Bus und Bussi, das geht gut aus.

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