Frau – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Derselbe Cholo in einem neuen Poncho http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/derselbe-cholo-in-einem-neuen-poncho/ Fri, 22 Jul 2011 10:44:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4521 Von der Ära der Inkaherrschaft zum Pluri-Multi-Staat.

Der seltsame Fall des bolivianischen Staates ist eine detaillierte Untersuchung wert, samt Lupe und Teleskop. Begreifen Sie „Staat“ in seiner erweiterten Bedeutung, in der Akzeptanz der beiden Aspekte: der politischen Organisation der nationalen und regionalen öffentlichen Institutionen einerseits und der historischen Entwicklung der gesellschaftlichen Situation andererseits.

Wir Bolivianer sind immer dieselben, die zusammen leben. Aber wir überleben das Miteinander, das seit der neueren Dekolonialisierungspolitik in Frage gestellt wird, immer noch mit den kreolischen Sitten der Mittelschicht, mit Jahrtausende alten Nuancen, je nach dem Ursprung der einzelnen, individuellen Kultur. „Wie geht es dir, Genossin?“, begrüßten wir uns in der Zeit der Republikaner; „Wie läuft’s so, Schwester?“, als die bunten Whipalas in Mode kamen. Wir Frauen verließen ein bisschen unsere Rolle als Sklaven des Inkas, um unsere genialen Rechte einzufordern: Außer zu nähen, zu kochen und zu waschen, dürfen wir auch arbeiten gehen. Wir sind Verkäuferinnen heißer Maiskolben neben einer modernen, stinkenden Mikro-Müllanlage neben dem Markt oder unsichtbare Arbeiterinnen am Herd, von Geburt an. Für diese Arbeiten braucht niemand Rechnungen zu stellen, so dass der Arbeitgeber solche Gehälter nicht als Ausgaben steuerlich geltend machen kann.

Unheimlich lustig diese Menschenrechte für Frauen. Immer schon. Dieselbe Chola (eine Frau in typischer Tracht mit Rock und Hut, Anm. d.Ü.) in einem neuen Rock, so lautet ein nationales Sprichwort. Es ist Produkt des kreolischen, machistisch-geprägten Scharfsinns, der sofort ein Stigma erschafft, um das Chaos zu verbergen.

Im Imperium, in der Real Audiencia von Charcas, in der unvollendeten Republik und dem jetzigen Plurinationalen Staat der Multilingualen und Plurikulturellen herrschten und herrschen weit vor den Menschen die unantastbaren Besitztümer des Geldes. Und natürlich werden die Menschen vergegenständlicht, um sie gleichermaßen auf der Seite des Angebots und der Seite der Nachfrage verteilen zu können, egal was sie sein wollen, was sie gerne tun würden, was sie glücklich machen würde. Und die Frauen trifft es in dieser Sache noch schlimmer als alle anderen.

Warum sollte es auch anders sein, wenn wir aufgrund der Tradition ja wissen, dass die Collita wegen allem heult und der Cambita einfach alles steht? Die Gewalt, die als etwas, „das immer schon existierte“, akzeptiert wird, weist alles mit Hilfe von Beschimpfungen, Schlägen und Gemeinheiten in seine Schranken.

In Evos Land ist der Präsident derselbe Cholo in neuem Poncho. Erinnert ihr euch, wie wir in der Grundschule lernten, dass die bolivianische Bevölkerung sich aus Kreolen, Mestizen, Cholos, Indigenen und Schwarzen zusammensetzt? Jetzt gilt es als pejorativ, wenn man sich auf diese Konzepte und auf die verschiedenen Kulturen bezieht. Sie gelten als Schimpfwörter! Klar,  diese Kulturen haben soziale Schichten gemeinsam, sicherlich, aber das, was sie am deutlichsten gemeinsam haben, will niemand sehen: Das ist die Gleichheit bei der Unterdrückung der Frauen. Wir Frauen wissen wohl wie wir mit all den Codes, denen es nicht an Strichen fehlt, zusammenleben können. Wir kümmern uns um die Familie, bekommen Kinder, die wir bis zur Volljährigkeit und darüber hinaus begleiten, wir sorgen für die Ernährung, die Gesundheit, den Schutz; gehen für den Lebensunterhalt auf die Straße und sind immer noch, jedes Mal mehr, das Oberhaupt der Familie. Und dazu werden wir beschimpft, geschlagen, die Söhne verleugnen uns, wir werden vor das Jugendamt zitiert, als hätten wir mit dem Heiligen Geist geschlafen!

Hausmütterlein, verkauf mir bitte Mandarinen. Hausmütterlein, kauf mir bitte Mandarinen ab.

An kleineren Sünden mangelt es uns nicht. Wir unterscheiden uns voneinander durch Neid, weil die eine besser aussieht als die andere, oder weil es eine besser getroffen hat. Aber wir leben mit derselben panischen Angst, mit denselben Unbeständigkeiten, demselben Argwohn, denselben Sorgen zusammen. Die familiäre Wirtschaft reduziert sich auf den Verbraucherpreisindex. Sieh selbst, wie du damit zurechtkommst, während die andere Wirtschaft, die sich nach Metallen, Taschen, Fiktion und Millionen ausrichtet zwar gute Titelgeschichten macht, sich aber in den Mündern einer Minderheit befindet, die uns deshalb unterdrückt, weil wir nicht die Koka-Blätter kauende Mehrheit sind.

Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke, aber in Evos Land hat sich nichts verändert. Weiterhin werden Schulden bei den USA getilgt, Schulden, die nicht wir verursacht haben, sondern diejenigen, die von den Liberalen und Republikanern beschuldigt werden, wie jene, die unter der Flagge des Sozialismus stehlen und immer wieder wiederholt haben: Vaterland oder Tod, wir werden siegen. Wir Frauen leben fast stillschweigend innerhalb der gemeinsamen Mission zusammen, die da heißt, unsere Spezies und unseren Gemeinsinn zu vermehren. Es würde ein kleiner Riss ausreichen, damit die euphorischen Farben unserer empörten und lächelnden Wangen wie der großartigste Vulkan explodieren.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Rosa steht dir nicht http://superdemokraticos.com/themen/koerper/rosa-steht-dir-nicht/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/rosa-steht-dir-nicht/#comments Thu, 12 Aug 2010 07:06:41 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=667 Die Ansprüche, die Frauen an sich stellen, übersteigen oft bei weitem die, die Männer an sich stellen. Wäre ich hier und jetzt ein Mann, würde ich daher auf keinen Fall eine Frau sein wollen. Aber für eine Frau, die diese hohen Ansprüche hochhält und gleichzeitig unter ihnen leidet, erscheint es zugleich unmöglich, ein Mann sein zu wollen.

Doch beneide ich die Männer zutiefst um ihren Großmut gegenüber sich selbst und auch einem anderen Mann gegenüber. Ich beneide sie vor allem um die Männerfreundschaft. Zwei Männer, die womöglich am Leben gescheitert sind, die vielleicht auch noch unter Perversionen leiden und die zudem noch unrasiert und übergewichtig sind, können einfach zusammen angeln gehen, ohne den anderen abzuschätzen und zu belehren. Im Gegenteil, sie bringen füreinander eine solche Toleranz auf, dass sie es nicht mal für nötig halten, sich zu rasieren und mit einem weiten Pullover die überflüssigen Pfunde zu kaschieren. Und wenn einer dann auch noch seinen Job verloren hat, greift der andere ihm verstehend unter die Arme. Männer haben Verständnis füreinander. Sie brauchen sich nicht füreinander anzustrengen, und wenn sie sich mal anstrengen müssen, dann ist es immer für die Frauen.

Klar, gibt es so etwas hin und wieder auch unter Frauen, aber ist das nicht die Regel. Die Mehrheit der Frauen konkurriert viel stärker untereinander. Nur eines von unzähligen Beispielen aus meinem Auslandsstudium an der Lomonossow-Universität in Moskau: Ich wohnte mit einer netten Schweizerin in einem Zimmer, die ich in den Wochen davor kennengelernt hatte. Zuvor war sie mit einer anderen Kommilitonin sehr eng befreundet. Ich fragte sie, warum sie nicht mit ihr in einem Zimmer sein wollte. Sie antwortete, sie könne deren unrasierten Beine nicht ertragen. Nach einem Monat zusammen mit ihr im Zimmer fand ich eine Freundin, eine Jurastudentin aus Kasachstan, mit der ich immer mehr Zeit verbrachte. Wir redeten schon darüber, vielleicht ein Zimmer zusammen zu nehmen, weil auch sie die stressigen Blicke ihrer Mitbewohnerin leid war. Über meine Erfahrungen in einer Frauen-WG in Rom könnte ich nicht viel anderes erzählen.

Auch wenn man über die Männer einiges sagen könnte, aber Selbsttoleranz ist scheinbar ungynäkologisch und womöglich abhängig von der Menge an Testosteron im Körper.

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Nur ein Unterschied http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/nur-ein-unterschied/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/nur-ein-unterschied/#comments Mon, 09 Aug 2010 14:50:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=578 „Das gehört sich nicht für eine Frau!“ ist ein Satz, den ich, an mich gerichtet, zum ersten Mal im Alter von 21 Jahren hörte. Er kam von einem italienischen Mitbewohner, der so zu verhindern suchte, dass ich mich nachts herumtrieb. Zu diesem Zeitpunkt war der Staat, in dem ich aufwuchs, längst von den Landkarten der Welt verschwunden und meine Beeinflussbarkeit, was das Thema „das darfst du nicht“ betrifft, bereits weitgehend abgeschlossen. Der anmaßende Erziehungsversuch Francescos rief bei mir deshalb auch lediglich ein verwundertes Kopfschütteln hervor. Darüber, wie bedauernswert rückständig jemand sein musste, der am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa immer noch annahm, für Jungen und Mädchen sollte nicht derselbe Verhaltenscodex gelten… Im Grunde verwirrt mich das bis heute.

In der DDR ist fast alles schief gelaufen, aber eines hat ziemlich gut funktioniert: die Gleichberechtigung der Frau. Sie hatte zwar nicht zur Konsequenz, dass Männer den Frauen die Hausarbeit oder Kinderversorgung abnahmen (soweit ging es denn doch nicht), aber Frauen mussten sich nicht vorschreiben lassen, was sie allein ihres Geschlechtes wegen, zu tun oder zu lassen hatte. Es war eine der wenigen Einschränkungen, unter denen man in der DDR nicht litt. Und so waren die Mädchen meiner Generation schon die Töchter von Frauen, die ihrerseits bereits gelernt hatten, dass eine Frau selbstverständlich autark über ihre Sexualität und ihren Körper bestimmt, dass Chromosomen nicht über technischen Sachverstand entscheiden und der Unterschied zwischen Frau und Mann nur ein Unterschied ist – kein Qualitätsmerkmal. Diese Gewissheit nahm ich mit in mein neues Leben in der westlichen Gesellschaft, deren Sexualmoral nach völlig anderen Spielregeln funktionierte. Ehrlich gesagt, war das der größte Schock überhaupt.

Ich hab eine Weile gebraucht, bis ich verstanden habe, dass mit der klassischen bürgerlichen Rollenzuteilung der Frau als Küchenwunder und unmündiges Lustobjekt stets noch eine andere Diskriminierung einhergeht: die des Mannes als alleiniger Familienversorger. Der Druck, der in dieser Verantwortung liegt, ist kein geringer. An einen Mann werden ganz andere Ansprüche gestellt, er wird viel schneller als Versager wahrgenommen und hat es keineswegs leichter. Er hat nur andere Probleme als eine Frau. Im Grunde haben wir es da wieder: ein Unterschied – kein Qualitätsmerkmal. Für mich gibt es in Mitteleuropa heute keinen Grund aus Vorteilserwägungen etwas anderes sein zu wollen als ich bin. Das Leben bleibt sowieso ein Kampf. Egal, an welcher Front.

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Help! Eine Göttin hat sich neben mich gesetzt! http://superdemokraticos.com/themen/koerper/help-eine-gottin-hat-sich-neben-mich-gesetzt/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/help-eine-gottin-hat-sich-neben-mich-gesetzt/#comments Mon, 09 Aug 2010 07:08:47 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=593

Eingeklemmt im Trufi. Foto: Javier Badani

Schwitzen. Meine Hände schwitzen. Eine Göttin hat sich gerade neben mich in das Trufi gesetzt und ich versuche alles, um meine Schüchternheit abzuschütteln, während ich ihren Körper aufgrund des Fahrzeuggeruckels berühre. Was? Du weißt nicht was ein Trufi ist? Ich erkläre es dir: Das ist ein sehr spezielles, öffentliches Transportmittel, das in La Paz das Zentrum mit dem Süden der Stadt verbindet. Die Fahrer benutzen dazu klassische, viertürige Limousinen von Toyota. Um mehr Geld zu verdienen, haben sie einen extra „Sitz“ (besser gesagt ein Kissen) im vorderen Teil des Autos eingebaut. Somit kann man die eigentliche, über Jahre entwickelte Idee jener japanischen Ingenieure, ein Auto zu konzipieren, in dem vier Personen bequem transportiert werden können, vergessen. Hier hat der kreolische Erfindungsgeist einen Platz für einen zusätzlichen Passagier hinzugefügt. Verstehst du jetzt mein Problem? Hier bin ich, in der Mitte des Sandwichs, ich kann nichts mehr bewegen außer meinen Kopf, noch wesentlich eingequetschter als eine Sardine in ihrer Dose.

Zu meiner Linken der stinkende Fahrer des Trufi, der mir immer wieder gegen das Knie schlägt, wenn er schaltet. Meine linke Seite fühlt sich angegriffen.

Und zu meiner Rechten eine Zwanzigjährige, die nach Frühling riecht und deren linkes Beine und ihr linker Arm mit mir zusammenstoßen, mich im Geschaukels das Autos schlagen. Meine rechte Seite will angreifen.

Sie hat so weiche Haut, das merke ich an dem Teil des Armes, der mich hin und wieder berührt. Und es scheint, als hätte sie…nein, sie hat wirklich ausgeprägte Hüften, und ich habe das Gefühl, dass diese mit meinen verschmelzen wollen, jedes Mal wenn das Trufi eine enge Kurve nimmt. Ich schließe die Augen und versuche, diesen Moment an ihrer Seite zu genießen und gleichzeitig bemühe ich mich, die lästige Anwesenheit des Körper des Fahrers zu verdrängen. „Was für seltsame Sachen diese Haut, der Körper“, sage ich mir. Schon ein ganz geringer Kontakt reicht aus, eine physische und psychische Reaktion auszulösen, deren Ende nicht absehbar ist. Und diese Hände, die nicht aufhören zu schwitzen. Tatsächlich fühlt sich mein Körper so an, als hätte er sich verflüssigt.

Kurven hierhin und Kurven dahin. Zweifellos werden auf dem Vordersitz eines Trufis über den Tag verteilt Dutzende Körperschlachten ausgetragen.

In diesem Fall versucht der fünfte Körper – also meiner – verzweifelt, sich dem Kontakt mit den pummeligen Körperteilen des Fahrers zu entziehen. Diesen Kampf, muss ich zugeben, kann ich nicht gewinnen.

Auf der anderen Seite dagegen entwickelte sich ein interessanter Dialog zwischen meinen Armhärchen und denen der Zwanzigjährigen, die nach Frühling duftet. Sie sprechen miteinander, sie berühren sich. „Irgendwie muss man ja anfangen“, ermuntere ich mich.

Plötzlich das abrupte Ende: „Ich steig an der Ecke aus!“ sagt das Mädchen zum Fahrer. Das Trufi hält, die Göttin steigt aus und mein Körper schwitzt nicht mehr, er weint jetzt.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Die Kunst des Nicht-Treffens http://superdemokraticos.com/themen/koerper/die-kunst-des-nicht-treffens/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/die-kunst-des-nicht-treffens/#comments Mon, 02 Aug 2010 07:57:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=548 “Entonces, a través de la fina malla de tus pestañas,

verás todavía  alargarse en mis pupilas ávidas un

desperezamiento de panteras…”

Rubén Martínez Villena

Eine der größten Herausforderungen in meinem Leben ist, mit der Angst leben zu lernen. Ich hatte viele Ängste, einige sind verflogen, andere verkleiden sich und schleichen versteckt herum. Aber es gibt eine sich hartnäckig haltende Angst, welche immer wach ist und mich aus dem Traum der Vernunft reißt. Die Angst, nicht zu sehen, geht über die Privatsphäre, die ich für mich beanspruchen, hinaus, das heißt auch, Angst davor, dass die anderen mich nicht sehen, dass wir uns nicht sehen können.

Wenn wir es nicht schaffen, uns wahrzunehmen, scheint es, als ob wir austauschbar wären. Dann würden wir uns in der Allgemeinheit der Begrifflichkeiten verlieren, wie beispielsweise „Frau“ oder „Mann“. Du wärst nur eine Frau, und ich wäre nur ein Mann; wir wären irgendeine Frau, irgendein Mann, wir hätten keinerlei Gesicht, und jeder würde seine Geschlechterzugehörigkeit weiterhin wie ein Schutzschild vor sich hertragen. Die Einteilung in Geschlechterzugehörigkeiten erweist sich als unzureichend, um die subtilen Ausprägungen unseres Seins einzufangen. Dein Geschlecht und mein Geschlecht sind zufällig, und ich will mehr in dir sehen und du sollst mehr in mir sehen, als diese Trivialität, die wir so schnell naturalisieren. Und dass, obwohl ich spüre, dass das Wollen alleine nicht ausreicht.

Am Anfang war es das Gegenteil. Genau deshalb hat mich auf meinen intimen Wegen durch die Berliner Straßen, Bars und Betten die meiste Zeit ein seltsames Gefühl befallen. Die Treffen waren wie Nicht-Treffen. Auf diesen Wegen wurde ich von vielen Frauen und von vielen Männern als lateinamerikanischer Mann wahrgenommen. Diese Spezies Tier wird als wilde Bestie wahrgenommen. Es war gar nicht so schlimm, dieser Gattung zugeteilt zu werden, vor allem weil es „in“ war, und es schien nicht mehr als eine vorübergehende Verrücktheit zu sein. Mancher Wahnsinn dauert länger an. Was ich auch tat, alles bestätigte lediglich mein Naturell des wilden Tiers. Die Brille, die ich normalerweise trage, um die Welt sehen zu können, wurde nicht als Lösung eines visuellen Problems verstanden, sondern als der Versuch gewertet, intellektuell wirken zu wollen. Ich gebe keinem die Schuld, auch mein Großvater war der Meinung, dass die Intellektuellen es im Leben einfacher haben würden. Deshalb bestand er darauf, dass seine Kinder eine universitäre Laufbahn einschlagen sollten. Um den familiären Ratschlägen zu folgen, begann ich Philosophie zu studieren, und natürlich ist mir bisher noch nicht aufgefallen, dass mein Leben deshalb einfacher wäre.

Die Situation fing an erdrückend für mich zu werden. Eines Tages forderte ich ein Mädchen, das gut tanzen konnte, zum Tanzen auf, und ihre Antwort kam prompt und deutlich: „Ich bin schon verheiratet!“ In mir begann das Blut der Jakobiner und der Cimarrónes, das in meinen Adern fließt, zu brodeln. Ich hatte das Werk von Camus gelesen, und seitdem war ich Le latino révolté. Aus dem Schrei heraus entwarf ich eine Strategie, mit der ich Gemeinplätze bekämpfen könne. Meine Taktik war möglicherweise nicht so gut wie die praktische Umsetzung in Afghanistan und im Irak, aber dennoch dachte ich sie funktioniert, denn schlussendlich wollte ich ja nichts erobern – ich wollte lediglich gesehen werden, über das stereotype Bild hinaus.

Die Idee war simpel: Ich musste jene Tänze vermeiden, bei denen sich die Becken berühren könnten. Von da ging das Gerücht herum, dass ich nicht tanzen könne.Ich glaube, er ist gar kein Latino“ – fügten sie hinzu – “er wurde bestimmt hier geboren. Ihm fehlt das Temperament!“ Dieses Gerede hat mich irgendwie getroffen, also habe ich beschlossen gar nicht mehr zu tanzen. Die Interpretation davon ließ nicht lange auf sich warten: „Der tanzt nicht, weil er schwul ist!“

Damit wurde ich auf dem sexuellen Markt sehr hoch gehandelt. Ich fand heraus, dass es für viele Frauen eine willkommene Herausforderung ist, einen Schwulen ins Bett zu bekommen. Als ich meine Frustration in Bier ertränkte, erzählte mir eine Freundin, dass es ihr genauso ginge. Unter Blinden sind die Nicht-Zusammentreffen häufiger als die Zusammentreffen. In dieser Nacht haben wir sie alle, Frauen und Männer, zum Teufel geschickt. Wenn sie uns nicht sehen, können sie uns mal! Sie verpassen was. Es gibt Ängste, die nicht gesund sind, die Angst vor dem Anderen ist eine davon. Die Furcht vor der Blindheit dagegen hilft mir, die Fähigkeit nicht zu verlieren, immer wieder zu staunen, mich zu sehen, dich zu sehen, auf der Suche danach, was ich kann, was du kannst und was ich will, was du willst: Sein. So geh ich, mit Goya an meiner Seite, durch dieses, unser Leben und versuche, die Monster, die aus der Vernunft entstehen, zu ignorieren. Es ist mir nicht immer vergönnt, aber ich versuche es.

Joaquín Sabina, Pie de Guerra.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Davids Schamhaarlöckchen http://superdemokraticos.com/themen/koerper/davids-schamhaarlockchen/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/davids-schamhaarlockchen/#comments Fri, 30 Jul 2010 11:11:17 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=551

São Paulo © Matthias Holtmann

Als die Wollweberzunft Michelangelo beauftragte, den David zu hauen, aus einem Riesenblock Carrara-Marmor, vor dem Jahrzehnte zuvor Agostino de Duccio ebenso wie Antonio Rosselino vergeblich die Meißel streckten, vielleicht hat er da vergessen müssen, dass eigentlich eine Frau in dem Stein steckte?

Meine Kunstlehrerin behauptete, Michelangelo habe Zeit seines Lebens keine Frau nackt gesehen, beschaue man sich einmal die Brüste an den athletischen Körpern der Medicigrabmale Lorenzos und Guilianos. Für ausgeschlossen halte ich das nicht. Ich habe ja auch, gut 460 Jahre später, bis zur Vollendung meines fünfzehnten Lebensjahres, keinen beschnittenen Mann gesehen, und konnte mir dann auf einen beschnittenen Penis keinen anderen Reim machen, als dass es eben von Natur aus solche und solche geben müsse, wobei solche eben eher selten waren, oder eben nacktbaden in der westdeutschen Provinz Mitte der Achtziger für beschnittene Jungs eher unüblich. Hätte ich also einen beschnittenen Penis nur nach Erzählungen der jüdischen Gemeinde oder aus eigener Vorstellungskraft meißeln sollen, hätte der vermutlich noch sehr viel naturferner ausgesehen, als die Brüste des Michelangelo Buonarrotis, die, in ihrer natürlichen Form, aller Wahrscheinlichkeit nach in der Renaissance wohl noch nicht am lebenden Subjekt beschnitten oder aufgepolstert wurden, wie in São Paulo heute gang und gäbe.

Auffällig am David, Michelangelo hatte offensichtlich ein Faible für Schamhaarlöckchen, vielleicht den auftraggebenden Wollwebern geschuldet?

In Anbetracht der Tatsache, dass sich heute beinahe jede/r als rasiert anpreist, scheinen mir in Marmor gehauene Schamhaarlöckchen geradezu revolutionär.

Das Natürliche als das Artifizielle. Einseitiger Biologismus wird dabei von einem Hang des Menschen, sich selbstschöpfend gegen ihn zu wenden, noch jedes Mal verunmöglicht. Der natürlichste Drang scheint also der zu sein, sich unter den gegebenen Voraussetzungen selbst erfinden zu wollen und dem Gegebenen nicht mehr Einflussnahme als dem selbst Hinzuerfundenen einzuräumen.

Und David, David hat gezeigt, man kann auch einen Goliath besiegen, wenn man nicht nach seinen Regeln kämpft. Und wenn ein David fünf Meter misst und aus Marmor ist, bleibt er, egal an welchem Platz auf der Welt, ein Sinnbild für die Freiheit der Bürger, egal ob Mann oder Frau.

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Narben http://superdemokraticos.com/themen/koerper/narben/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/narben/#comments Thu, 29 Jul 2010 15:00:13 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=550 Es ist eine Sache ein Mann zu sein,
aber eine andere ist es, männlich zu sein.
“Vida” / „Leben“ von Ruben Blades

Ich bin Teil dieser unanzweifelbaren Statistik, die aussagt, dass 100 % der Menschen von Frauen geboren werden. Abgesehen von dieser skandalösen und offensichtlichen Gesamtheit befinde ich mich auf einem unergründbaren, aber evidenten Rang in Lateinamerika: Ich bin der Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Das bedeutet, dass wenn ich zudem ein Macho und ein Egozentriker bin, die Schuld – oder die tugendhafte Verantwortung dafür – bei der Frau liegt, die mich erzogen hat. Dieselbe Frau, die mich geboren hat. Ein Schlüsselwort: Mode. Ich habe die Hälfte meines Lebens, eigentlich ein bisschen mehr, damit zugebracht, mir Gedanken über die gleichen Dinge zu machen: Fußball, die Nacht und ihre Partys, Domino und Frauen, im Plural. Mittlerweile mache ich mir auch Gedanken über die Sprache und die Fiktion, aber ich bin sicher, dabei handelt es sich nur um etwas Vorübergehendes, eines der kleineren Übel meiner Jugendzeit, das immer noch nicht vorbei ist.

Als ich klein war, habe ich immer versucht weiter zu spucken, höher zu springen, härter zu zuschlagen und schneller zu rennen als alle anderen. Das war einfach und lustig, ich bin die Risiken ohne Rücksicht auf die Narben eingegangen. Oder eher im Gegenteil: Jede Narbe bedeutete einen Punkt und für diese Punkte gab es Gefälligkeiten, ein Eis, Träume und meine eigene Legenden.

Die erste dieser Narben bekam ich, als ich laufen lernte. Ich blieb mit dem Mund an der Kante eines Nachttisches kleben und mit einem Ausrutscher verlor ich meine gute Laune und das Gedächtnis. Meine Mutter nahm mich in ihre Arme; den Rest erledigten ein Bonbon und zwei perfekte Nahtstiche.

Die zweite Narbe ist die beste: Sie sieht aus wie ein Skorpion, der auf dem Rücken liegt, und man kann sie sogar noch oberhalb meines Fußknöchels, am linken Bein, ertasten. Ich hatte mir beim Karneval die Haut an einer Blechdose aufgeschnitten und zwei Frauen, meine Mutter und ihre Freundin, fielen vor Schreck fast in Ohnmacht, als sie diese zähflüssige Mischung aus Blut und Fett sahen. Von da an war ich nicht mehr ein kleiner, dicker Vierjähriger, sondern ein kleiner, dicker Vierjähriger, der vor Stolz fast platzte.

Bevor ich zehn wurde, hab ich mir endlich die Stirn aufgeschlagen. Ich habe im Haus meines Onkels versucht, Schlittschuh zu laufen, barfuß, auf dem Wasser auf dem Boden. Die Pirouette, die ich zu Beginn anspruchsvoll drehen wollte, verwandelte sich gegen Ende in Übermut. Als ich den Kopf hob, um zu sehen welche Wertung mir die anderen Kinder geben würden, war ich überrascht von dem Entsetzen auf ihren Gesichtern: Das waren neun Stiche quer über meine Stirn, die meine Cousinen erfolglos mit Zärtlichkeit und Kerzen wieder heilen wollten, bevor sie es meiner Mutter über die Telefonleitung berichteten. Ihr Entsetzensschrei am anderen Ende, neun Autostunden entfernt, verstärkte nur, was ich bereits wusste. Mein Onkel nahm mich zur Seite und sagte mir im Vertrauen: Wenn du zwischen der Stirn und dem Kinn eine Narbe hast, mach dir keine Sorgen, streck die Brust raus: Jetzt bist du zum Mann geworden. Wenn man zwei Narben hat, so wie du, kann man du sogar ein vielversprechender Mann werden.

Meine letzte sichtbare Verletzung bekam ich am rechten Arm, jetzt bin ich ganz im Gleichgewicht. Das war bei einer Schlägerei, ich war gerade 12, na ja, fast 13. Der Streit begann, weil ich einen kleineren Jungen verteidigt hatte, um ein Mädchen, das zu Besuch war, zu beeindrucken – dasselbe Mädchen, das mir dann die tiefe sechs Zentimeter lange Schnittwunde mit Klopapier verband und mich nach Hause brachte, um meiner Mutter Bescheid zu sagen. Ich kam aus der Schlägerei mit der Aura des Tapferen, ein Held, verletzt in der Schlacht. Ich hatte das Gefühl mich selbst verwirklicht zu haben. Außerdem blieb mir ein Keloid, ein Begriff den man benutzt, um den sowieso schon geringfügigen ästhetischen Wert, den eine Narbe haben kann, auf etwas noch geringeres als eine groteske Anekdote zu reduzieren.

Seit diesem Moment begann ich, andere Dinge über das Mannsein zu lernen, die nur wenig mit Verletzungen und der anschließenden  – und manchmal unmittelbaren – weiblichen Pflege zu tun haben. Ich liebe die Frauen, genau wie Fußball, die Nacht, die Partys, das Domino und zeitweise die Literatur und ihre Satz-Fallen. Aber vor allem liebe ich es, aus zwei anderen Gründen Mann zu sein: Ich glaube, nur als Mann kann man das richtige Ausmaß der Kerbe in der Seele, die der Tod meiner Mutter, meiner alleinerziehenden Mutter, hinterlassen hat, wirklich schätzen. Und damit auch alles, was sie mir über die Bedeutung, die Wichtigkeit, den Wert und die Courage der Frauen beizubringen versucht hatte. Frauen sind so sensorisch, so intelligent, so sensibel, so zart, so stark und auch so verletzlich. Wenn ich eine Frau wäre, hätte ich nicht unbedingt weniger Narben, das stimmt schon, aber ich hätte sie sicherlich niemals genauso genossen und sie möglicherweise sogar versteckt.

Ich bin jemand, der denkt, dass mit jedem neuen Schmerz die Angst wieder auftaucht, und dass das Trauma, das durch den Tod meiner Mutter hervorgerufen wurde, nur durch eine andere Frau, meinen Tochter, geheilt werden konnte. Das ist der zweite Grund: Nach der Angst überkommt dich plötzlich die Freude, und deine Erinnerungen verändern sich. Natürlich verlor der Stolz über meine Narben mit der Zeit seinen Sinn und dieser Platz ist nun frei für die Neugier, die Metaphern, das Lernen und die Liebe, in all ihrer Vielfältigkeit.

Muttersein erlaubt dir…Woher soll ich wissen, was Muttersein dir erlaubt? Mannsein erlaubt dir, dich in deine Mutter und deine Tochter zu verlieben, falls du beide hast oder hattest. Das ist keine Kleinigkeit, und ich denke, dass es ein ausreichendes Motiv ist, mir dieses Leben, das mir ein männliches Bewusstsein zugeteilt hat, nicht entgehen zu lassen, bis ich in einem anderen, unwahrscheinlichen Leben Frau sein werde und mit Narben geboren werde, die mir die Geburten von jedem einzelnen meiner Kinder zufügen werden.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Kampf der Geschlechter http://superdemokraticos.com/themen/koerper/kampf-der-geschlechter/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/kampf-der-geschlechter/#comments Sun, 25 Jul 2010 07:00:49 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=519

Aus einer Rotkäppchen-Modestrecke. Foto: Javier Badani

Was würdest du lieber sein Mann oder Frau? „Was für eine Frage”, raunten mir meine Testosterone ins Ohr und fragten mich: „Sag mal, kannst du dir vorstellen dir jeden Abend die Zehennägel zu lackieren oder dir jedes Mal die Beine zu epilieren, wenn sich ein Date abzeichnet? Keine andere Chance zu haben, als vor der Damentoilette Schlange zu stehen? Immer dem Blick der Tante ausweichen zu müssen, der dich fragt, warum du mit 35 immer noch Single bist? Jeden Monat Binden mit Flügelchen tragen zu müssen oder zu wissen, dass die Größe deiner Brüste der ausschlaggebende Faktor bei einem Bewerbungsgespräch ist? Kein Frage, Bruder, es ist das Beste ein Männchen zu sein.“

Eine gute Darlegung, antwortete ich.

Aber urplötzlich begannen ein paar Östrogene anzugreifen. Sie kramten aus meiner Erinnerung das Foto von jenem Tag hervor, an dem meine Großmutter meinen Vater als Frau verkleidet hatte. Er war sechs und posierte mit einer schwarzen Perücke und einem eleganten weißen Unterrock vor ihrer Kamera. War es wirklich er, der auf diesem Foto lächelte? Ich glaube schon. Und daraufhin argumentierten die Östrogene: „Stell dir vor, du musst weder obligatorisch Fußball mögen, um zu deinen Freunden zu passen, noch musst du andere schlagen, um dir Respekt zu verschaffen. Du musst dir nicht ständig Sorgen über die Größe deines Gliedes machen oder darüber ob deine Partnerin einen Orgasmus hatte oder nicht. Du musst nicht ständig dem Blick deines Onkels ausweichen, der dich fragt, warum du mit 21 immer noch Jungfrau bist. Du kannst sicher sein, dass du dir die Haare färben und einen Ohrring stechen lassen kannst, ohne Angst haben zu müssen, dass du dadurch als homosexuell abgestempelt wirst. Na also, siehst du nicht, dass es nichts Besseres auf der Welt gibt, als eine Frau zu sein?

Gute Argumentation, geb ich ihnen zu verstehen.

Auf einmal verstrickten sich Testoterone und Östrogene in eine unerbittliche Diskussion. Das Schlachtfeld war mein noch in Entwicklung steckender Körper, diese kleine Masse Flüssigkeiten geschützt im Schoß meiner zukünftigen Mutter; ein neues Wesen, das sich dem Leben stellen muss – in der Haut eines Mannes oder der einer Frau. „Was von den beiden denn nun?“, fragte ich mich. „Ist es denn nicht schon genug, sich als Mensch zu deklarieren?“ Natürlich nicht! Männer und Frauen stecken tief im Kampf um die Herrschaft übereinander. Auf der einen Seite stehen die Männer mit dem jahrhundertelangen Vorteil und unter dem Schild des retrograden Machismus, der seit Beginn der Zeitrechnung gefördert und von den Religionen wie ein Sakrament propagiert wurde, wie zum Beispiel im jüdisch-christlichen Glauben, in dem die Frau immer schon ein minderwertiges Wesen war und sein wird. Auf der andern Seite stehen die Frauen, die versuchen mit ihren Talenten Räume zu erobern, die aber auch nicht davor zurückschrecken, sich an die schärfsten Grundsätze des Machotums zu halten, wenn es ihnen nutzt.

Testosteron und Östrogene können mit ihrem Kleinkrieg gerne weitermachen. Ich zumindest komme zu dem Ergebnis, dass es eine verbissene Diskussion ist, auf die nie eine befriedigende Antwort gefunden werden wird. Denn genauso wie es Männer gibt, die Schufte sind, gibt es auch bösartige Frauen; und genauso wie es fähige Männer gibt, gibt es auch fähige Frauen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Ich, ein/e Unübersetzbare/r http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ich-eine-unubersetzbarer/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/ich-eine-unubersetzbarer/#comments Tue, 20 Jul 2010 07:00:36 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=476

Die Betrachtung der Zukunft.

Sein oder nicht sein. Frau sein oder Mann sein. Oder keines von beidem sein. Ha! Die Relevanz dieser Frage fällt zweifellos unterschiedlich aus, je nachdem, in welcher Epoche und an welchem Ort sie gestellt wird. Sich zu fragen, was es im Mittelalter bedeutet hat, eine Frau zu sein, ist etwas anderes, als zu fragen, was es heutzutage bedeutet. Genauso wie es auch nicht dasselbe ist, sich diese Frage heute in Afghanistan zu stellen oder in Holland. Der jeweilige Kontext entscheidet über Relevanz und Bedeutung dieser Frage.

Wenn mich irgendetwas mit Stolz erfüllt, dann das: dass ich mich zu einem zweifelnden Wesen entwickelt habe. Ich bin davon überzeugt, dass diese Gemütsverfassung der Zeit und dem Ort entspringt, an dem ich lebe. Also: Uruguay im Jahr 2010. Die Möglichkeit, an allem zu zweifeln, was sich mir zu einem bestimmten Zeitpunkt als sicher und unverrückbar dargestellt hat, erfüllt mich mit Hoffnung und Neugierde. Mich erfreut die – zumindest virtuelle –Möglichkeit, dass nicht alles so ist, wie es scheint und dass manchmal eine gute Frage ausreicht, um das institutionelle Fundament eines beliebigen Mythos zum Einsturz zu bringen.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass ich ein Mann bin, zumindest physiologisch. Aber ich zweifle die ganze Zeit daran, dass ich kulturell ein Mann bin. Und ich will klar stellen, dass ich das nicht auf meine sexuellen Neigungen beziehe, da diese in den traditionellen Konzepten von „Mann“ und „Frau“ nicht zu fassen sind. Vielmehr spreche ich von der kulturellen Konstruktion des Archetyps – in diesem  Fall – Mann. Doch zugleich überzeugt mich die andere Option auch nicht genug. Auch wenn das Frausein mehrere Aspekte beinhaltet, die ich gerne mal ausprobieren wollen würde, ist nichts so verführerisch, dass es mich zum vollständigen Wechsel bewegen könnte.

Wir wissen längst schon alle, dass die Frage komplexer ist. Gibt es nur zwei Möglichkeiten zu existieren? Ist man entweder Frau oder Mann? Oder ist man einfach nur? Die Frage ist auf endlose Antworten angelegt, aber hier sollte man zumindest versuchen, eine persönliche Antwort auf sie zu geben. Diese Antwort erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sie ist auch nicht übertragbar auch den Rest der Menschheit. Sie ist nur das Manifest einer Einzelperson, das eine weitere Farbe zu dem Farbspektrum der Antworten hinzufügt.

Also. Wer bin ich?

Ich bin ein Mann, der sich Feinde sucht, die stärker sind, als er selber, und eine Frau, die in Situationen der Ohnmacht ins kalte Wasser springt. Ich bin dieser Mann, der sichere Risiken eingeht, und diese Frau, die sich dort einen Platz sucht, wo sie nicht eingeladen wurde. Ich bin ein Mann, der es nie mochte etwas zu lernen, für das er sich nicht interessierte, und in der Schule nur so viel aufpasste, damit er nicht sitzen blieb, und für Prüfungen einen Tag vorher lernte und damit durchkam. Ich bin diese Frau, die, wenn etwas ihre Leidenschaft entfacht, bereit ist zu lieben, wie niemand je geliebt hat, alles zu geben und sich hinzugeben ohne abzuwägen, ohne zu spekulieren, ohne etwas zu erwarten. Ich bin dieser Mann, der weiß, wie er geliebte Personen verletzen kann, und der sich dann streitet, wenn er gute Chancen auf Erfolg hat, der versucht, unbeschadet aus den Konflikten anderer hervorzugehen, und sich nur so viel einbringt wie nötig. Ich bin diese Frau, die dafür kämpft, woran sie glaubt, und die ihre Ansichten vertritt und sich nicht der falschen Überzeugung der Mehrheit fügt. Ich bin diese Frau, die mehr schläft als nötig, und dieser Mann, der neidisch auf die Schönheit anderer ist. Ich bin diese Frau, die immer daran denkt, einen guten Eindruck zu machen und dieser Mann, der nichts ohne Hintergedanken tut. Ich bin ein Eigennutz und eine Bombenlegerin. Ich bin ein verzogener Junge und eine überhebliche Frau. Ich bin ein/e Unübersetzbare/r. Unverständlich außerhalb meiner selbst.

Ich kann mir den Tag nicht vorstellen, an dem wir alle so sehr Frau und Mann sein können, wie wir wollen, an dem Kulturen nach ihren Grund- und  Gegensätzen gelebt werden und an dem alles eine willkürliche und persönliche, gerechte und kollektive, zufällige und singuläre Konstruktion ist. An dem wir uns unabhängig von unserem Geschlecht gefallen oder uns zurückweisen, weil sich diese längst mit unseren Tugenden und Sünden zur Unkenntlichkeit verwischt haben. Und an dem wir uns in solch vernünftigen und erträglichen Maßen hassen und lieben werden, dass es möglich wird, dass sich die Welt dreht, ohne auch nur die Existenz der winzigsten Albinomücke in Mitleidenschaft zu ziehen. Und an dem es nur so viel Diskriminierung geben wird, dass ich diese in Frieden leben kann, weil sie nicht auf Ausgrenzung abzielt, sondern nur dazu dient, dass ich weiß, dass ich ein einzigartiges Wesen bin, welches zur Farbfülle der Welt beiträgt, ohne dabei die unerträglichen Farben der anderen auszugrenzen. Und diese Welt ist so undenkbar, so weit weg und so unwahrscheinlich, dass wir allein bei der Möglichkeit, sie uns vorzustellen, in Freudentränen ausbrechen werden, so wie jemand, der dem Wesen des Universums ins Gesicht blickt. Ich kann mir diesen Moment und diese Welt nicht vorstellen, aber ich möchte kein Stein auf dem Weg dorthin sein.

Ich werde daher warten, während ich die Gesichter meiner Nachbarn betrachte und darauf hoffe, dass ich die außergewöhnliche Geste erblicke, die Grimasse, die aus der Betrachtung der Zukunft unvermeidlich folgt. Und wenn das passiert, werde auch ich in die Gestik einstimmen, ich werde die Bewegungen kopieren, ich werde durch die Augen der Glücklichen blicken und dabei behilflich sein, als Mann und als Frau werde ich dabei behilflich sein.

Übersetzung: Anne Becker

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