Familia – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Die Kinder des Netzes http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-kinder-des-netzes/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/die-kinder-des-netzes/#comments Thu, 17 Nov 2011 08:01:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5828

Die Wege des Lebens sind nicht diejenigen, die ich erwartet hatte, sie sind nicht so wie ich es gewollt hatte…
Vallenato

Auf der 73. Straße in Bogotá fährt ein Bus nach San Blas und nach Germania. Als ich diesen sah, musste ich einfach lachen, denn ich glaube, ich hatte, ohne es zu wissen, vor vielen Jahren genau diesen Bus genommen. In einer anderen Stadt, mit einem Ex-Freund, der Blas hieß und mit dem ich in Potsdam, Deutschland, landete. Im Juli 2012 gedenke ich den 15. Jahrestag dieser ersten Reise. Seitdem überquerte ich viele Male den Atlantik.

Praktisch meine gesamte Familie lebt immer noch in den Anden und ihren Ausläufern, verteilt zwischen der Hauptstadt meines Landes, La Paz, und Tarija, im südlichen Tal, an der Grenze zu Argentinien, aus dem wir eigentlich alle stammen. Dort liegt die Wiege der Galarzas, der Ort, den mein ganzer Clan in sentimentaler Imagination in sich trägt, obwohl wir möglicherweise niemals dort gelebt haben. Das ist es, was beispielsweise meinen beiden Neffen passierte, den beiden Kinder, die fröhlich in London aufwachsen. Die beiden kleinen englischen Kids, die ich so sehr liebe.

Ich kann sie mir nicht vorstellen, die Zeit, in der der Kontakt zueinander auf dem Rücken den Maultiere aufrechterhalten wurde, anhand von Briefen, die Jahrhunderte brauchten, um anzukommen, wenn sie denn eines Tages ankamen. Ich weiß von Freunden, dass sogar Anfang der 1980er noch nicht einmal das Telefon ein sicherer Weg war, um den Kontakt mit der Familie zu halten. Die Telekommunikation war mangelhaft, im Hintergrund hörte man die Geräusche der Welt und die Stimmen derer, die man tatsächlich hören wollte. Sie mussten sich die Seele aus dem Leibe schreien, um sich in diesem Chor der Störgeräusche, diesem ununterbrochenen Lärm, Gehör zu verschaffen.

Ich dagegen hatte das unglaubliche Glück in der Offenheit der Welt des Internets aufzuwachsen und mein Ausländerdasein wird erträglich, weil ich mit meiner Mutter bei einem Konferenzgespräch Kaffee trinken kann. Ich kann sie sehen und hören, mit ihr eine Zigarette rauchen, mehrmals die Woche. Es ist erträglich, weil ich sehen kann, wie meine Neffen aufwachsen, und weil ich mit meiner Schwester mit einem Glas Wein zu Abend essen kann, immer, wenn uns danach ist. Ich kann sie zwar nicht anfassen, bin aber dennoch ein Teil ihres Lebens. Ich bin der Kopf auf dem Computer, der versucht sie aus der Ferne zum Lachen zu bringen. Und die Kleine, mein Augenstern, erkennt in dem typischen Windowsgeräusch, wenn der Rechner hochfährt, ihre Tante oder ihre Oma wieder, und sie hat überhaupt keine Hemmungen diesem flachen Bildschirm herzliche Beweise ihrer Liebe zu erbringen.

In diesem Monat war unser Thema Neue Welt im Netz: Liebe, Arbeit, Freiheit, und ich denke, es sind die Ausländer in aller Welt, egal, woher sie stammen, die am meisten dazu zu sagen haben. Ich werde niemals den überraschten Gesichtsausdruck meines Mitbewohners vergessen, als er eines Nachmittags, vor ein paar Monaten, meine Mutter begrüßen musste. Er, der daran gewöhnt ist, dass seine Eltern nicht jederzeit, wann immer sie wollen, zu ihm nach Hause kommen können, weil sie in Bielefeld wohnen und weil sie nicht mit den neuen Medien vertraut sind, sprang vom Stuhl in der Küche auf, um seinen Schlafanzug zu verstecken. Er, der nicht daran gewöhnt ist, dass der Computer so ein essentieller Teil seines sozialen Lebens ist, verstand letztendlich woher meine Unabhängigkeit kommt. Denn ich muss niemanden in der Realität sehen, ich lebe im ständigen Kontakt mit meiner Familie, meinen Freunden und Arbeitskollegen, wo auch immer sie sein mögen.

Ich bin nicht von einem physischen Raum konditioniert, die meiste Zeit über nicht einmal von einer Sprache. Ich fließe zwischen der digitalen und der analogen Realität hin und her, zwischen dem, was in Bolivien passiert, und dem, was in Deutschland los ist, und auf meine Art und Weise bin ich ein aktives Mitglied beider Gesellschaften. Und genau wie ich sind das auch drei Millionen Bolivianer, die in der ganzen Welt verteilt leben. Ein Viertel der Bürger meines Landes lebt zwischen Buenos Aires, Virginia und Madrid. Die Überweisungen, die sie schicken, sind die drittgrößte Einnahmequelle meines Landes. Unsere Ausländer und ihre bescheidene Lebensweise sind effizienter für die Wirtschaft als die Entwicklungshilfe, wesentlich effizienter. Und unsere Kinder konstruieren ihre neuen Identitäten. Emotionale Zugehörigkeiten, die wir möglicherweise noch nicht in ihren gesamten Dimension wahrzunehmen fähig sind.

Ich kann mir vorstellen, dass es überall an den Universitäten Pflicht werden wird, jeweilige soziologische Studien durchzuführen, um die Generation zu verstehen, die derzeit mit Breitband und mit doppeltem Herkunftsort heranwächst, ohne eine gemeinsame Bezugssprache, die wahren Bürger dieser Welt.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Mein genetisches Muster für Migration http://superdemokraticos.com/themen/burger/mein-genetisches-muster-fur-migration/ Thu, 09 Sep 2010 15:00:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1763

Doppelhelix - Wikipedia, GNU Free Documentation License

Wenn man – wie ich – mit Ende 30 auf einmal von einem Beamten im Berliner Senat offenbart bekommt, dass man durch die Eltern Migrationshintergrund habe und das im Antragsformular für ein Stipendium auch ankreuzen solle, wankt erst einmal gehörig das Selbstbild. Bis dahin hatte ich angenommen, einfach nur deutsch zu sein (in meiner Kindheit wurde ich nie wie ein Migrantenkind behandelt, weil die DDR diese historische Fußnote in den Lebensläufen meiner Eltern, die beide nach dem Krieg aus den Ostgebieten vertrieben oder umgesiedelt oder was weiß ich worden sind, lieber unter den Teppich kehrte). Aber auf einmal wurde alles viel komplizierter. Von da an brauchte ich für die Wiederherstellung meines kognitiven Gleichgewichts das Wort: Heterogenität.

Jo Schneider hat schon in seinem Essay auf die gerade in Deutschland geführte, leidige Debatte um Anstieg und Fall des gesamtdeutschen Intelligenzquotienten durch (muslimische) Migrantenfamilien aufmerksam gemacht. Nicht allein, dass eine solche Diskussion selbst schon lächerlich ist, aber geht sie mir (als frisch gebackene Deutsche mit Migrationshintergrund) an dem eigentlichen Problem vorbei: nämlich des verqueren politischen Selbstverständisses des „deutscher Bürger-Seins“ als scheinbar homogenes. Darin liegt nun auch eine Art von angenommener genetischer Vererbung des Deutschseins, dass latent in der momentanen Debatte mitschwingt, aber von der Seite in den Medien überhaupt nicht diskutiert wird. Wenn kein Gen den Fortbestand einer Nation oder Volksgruppe etc. maßgeblich bestimmt, dann auch nicht den der Deutschen. Somit schränkt ein Staat die Individualität seiner Bürger ein, wenn er ihnen einen Hintergrund bescheinigt, der ein Menschenrecht für jedes Individuum darstellt, denn jedes Individuum ist doch frei, sich von hier nach da zu bewegen, sich aus einem kulturellen Zusammenhang zu lösen und sich wieder in einen anderen einzufügen. Oder gilt die Globalisierung nur auf wirtschaftlicher Ebene?

Die Emsigkeit der deutschen Medien um Aufklärung zum Stand der aktuellen genetischen Forschung zeigt umso mehr: Deutscher Bürger kann jeder werden. Wenn deutsch zu sein heißt, gewisse Bräuche, einen distinktiven Habitus, die deutsche Sprache zu beherrschen und eine (weitgehend idealisierte) Bildung genossen zu haben, dann heißt das nur, durch das Wirken eines kulturspezifischen Musters (oder Umfelds meinetwegen) geprägt worden zu sein. Ich behaupte mal frech, dass viele so genannte „homogene Deutsche“, also die ohne Migrationshintergrund, es nicht selten an den einschlägigen Prägungen dieses Musters fehlen lassen. Die Bildungsmisere in Deutschland ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen politischen Versagens, Herumwurschtelns und fehlender Durchsetzungskraft auf diesem Gebiet und einer immer weiterführenden Abschiebung der Bildungsverantwortung in den Privatraum der Familie. Aber eine Bildungsverantwortung, die eine Volksgruppe prägt und sie überhaupt als eigenständige ausweist, sollte nicht auf den jeweiligen heterogenen und individual geprägten Campus der einzelnen deutschen Familien abgeschoben, sondern unabhängig von ihnen, von der bündelnden Systemkraft dieser kulturellen Gemeinschaft geleistet werden. Dazu müsste man diese Gemeinschaft aber erst mal als offene, individualisierte und vor allem heterogene und veränderliche begreifen und sich klar darüber sein, dass jeder zu Hause das sein kann, was er will – nämlich Individuum, mit welchem Kopftuch, mit welchem Haarschnitt oder womit auch immer er sich spirituelles Gleichgewicht verschafft. Deutschland ist per Grundgesetz ein säkulares Land, da sollte eine Religionszugehörigkeit in politischen Debatten eigentlich keine Rolle mehr spielen, es sei denn, wir machen uns hier alle etwas vor.

Meinen Migrationshintergrund und damit meine deutsche Heterogenität rechne ich mir zu meinem kulturellen Vorteil an. Ich bringe noch etwas mit, eine Farbe über dem Horizont. Wenn es mir finanziell möglich sein wird, mein Genom entschlüsseln zu lassen, werde ich das tun und sehen, ob sich bei mir ein spezifisches genetisches Muster für Migration nachweisen lässt, das ich vielleicht sogar an meine Tochter weitergegeben habe. Womöglich wird auch sie sich irgendwann in diesem Land anhören müssen, dass sie zur zweiten Generation einer Migrantenfamilie gehört. Vielleicht aber wenden wir dann aus besserem Wissen den Begriff nicht mehr an. Jetzt, da ich als Deutsche mit Migrationshintergrund bezeichnet werde, fühle ich mich auch so.

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Was legal ist … http://superdemokraticos.com/editorial/was-legal-ist/ http://superdemokraticos.com/editorial/was-legal-ist/#comments Mon, 06 Sep 2010 14:51:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1719 Es ist eines wichtigsten Ziele von Los Superdemokraticos, eine Sammlung von Polaroids zu erstellen, die das Individuum in seinem Umfeld zeigen, und zu versuchen, gemeinsame Linien zwischen unseren Mannschaftsmitgliedern zu entdecken, die wir als Repräsentanten „unserer Generation“ ausgewählt haben. Auch wenn natürlich 20 Personen kein repräsentatives Bild ergeben, haben wir sehr darauf geachtet, dass unterschiedliche Positionen vertreten sind. Unser Name ist nur eine Übertreibung, ein Witz über das, worüber wir hier ständig nachdenken: die Meinungsfreiheit. Als Individuen stehen wir oft im Konflikt mit Meinungen und Überlegungen, die nicht unserer eigenen Haltung entsprechen. Als Projektleiterinnnen von Los Superdemokraticos müssen wir weiter gehen: unsere Neutralität bewahren. Was tun?

Unsere Devise lautet: Was legal ist, ist erlaubt; allerdings verletzen manche Gedankengänge, die argumentativ gut strukturiert sind, das individuelle Feingefühl. Wir haben intern die verschiedensten Diskussionen geführt. Ich persönlich hätte mir niemals vorstellen können, dass mein Name mit einer Idee in Verbindung gebracht wird, die Javier Badani in seinem Artikel „Erschießen wir sie?“ vertritt. Aus dem Maschinenraum von Los Superdemokraticos kann ich nur dieses sagen: Wir sind nicht für die Todesstrafe, wir möchten keine Diskussion befördern, die in diese Richtung geht. Die Abwesenheit der Staatsmacht legitimiert den Mob in keinster Weise, die Justiz in die eigenen Hände zu nehmen und das auch noch als die Ausübung von Gerechtigkeit anzusehen.

Als Frau bin ich auch nicht mit Liliana Laras Artikel „Entbindung“ einverstanden. Mir erscheint es natürlich legitim, die Mutter- oder Vaterschaft als einen fundamentalen Aspekt des Lebens eines Subjekts anzuerkennen. Und natürlich darf niemand darüber urteilen, welcher Apspekt für eine andere Person der wichtigste im Leben ist. Aber die Wahrheit ist doch, dass Frauen seit Jahren, Generation für Generation, dafür kämpfen, selbst über ihre Körper zu bestimmen, aufzuhören, eine Gebärmutter zu sein. Ich glaube nicht an die Mutterschaft mit großem M. Dieses Konzept kam mir immer wie eine Falle vor, die das Patriarchat der Frau stellt, um sie „ehrenhaft“ im privaten Raum zu halten. Für mich ist die Erzeugung von Nachkommen etwas ebenso Männliches wie Weibliches. Eine Entbindung ist kein Garant für menschliche Beziehungen, und ein Kind gehört denen, die es großziehen. Daher bin ich für das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare.

Auch meine Kollegen haben über die vergangenen Wochen mit einigen Texten Probleme gehabt, aber weil wir, wie alle hier, Individuen sind, reagieren wir bei ganz unterschiedlichen Dingen sensibel. Bisher haben wir unseren Zensur-Instinkt im Zaume gehalten und Themen nicht diskutiert. Jetzt aber ist ein guter Moment, um unsere Position klarzustellen: Wir teilen viele der Meinungen unserer Autorinnen und Autoren, aber wir bleiben unserer Idee treu: Was legal ist, … Genau das. Unsere Editorials sind dazu da, die Meinung des Teams wiederzugeben und von unserem Einspruchsrecht Gebrauch zu machen. Meinungsfreiheit ermöglicht uns, öffentlich zu zeigen, dass wir eine bestimmte Ansicht vertreten. Vor allem ermächtigt sie uns, öffentlich zu sagen, wenn wir nicht einverstanden sind.

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Narben http://superdemokraticos.com/themen/koerper/narben/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/narben/#comments Thu, 29 Jul 2010 15:00:13 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=550 Es ist eine Sache ein Mann zu sein,
aber eine andere ist es, männlich zu sein.
“Vida” / „Leben“ von Ruben Blades

Ich bin Teil dieser unanzweifelbaren Statistik, die aussagt, dass 100 % der Menschen von Frauen geboren werden. Abgesehen von dieser skandalösen und offensichtlichen Gesamtheit befinde ich mich auf einem unergründbaren, aber evidenten Rang in Lateinamerika: Ich bin der Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Das bedeutet, dass wenn ich zudem ein Macho und ein Egozentriker bin, die Schuld – oder die tugendhafte Verantwortung dafür – bei der Frau liegt, die mich erzogen hat. Dieselbe Frau, die mich geboren hat. Ein Schlüsselwort: Mode. Ich habe die Hälfte meines Lebens, eigentlich ein bisschen mehr, damit zugebracht, mir Gedanken über die gleichen Dinge zu machen: Fußball, die Nacht und ihre Partys, Domino und Frauen, im Plural. Mittlerweile mache ich mir auch Gedanken über die Sprache und die Fiktion, aber ich bin sicher, dabei handelt es sich nur um etwas Vorübergehendes, eines der kleineren Übel meiner Jugendzeit, das immer noch nicht vorbei ist.

Als ich klein war, habe ich immer versucht weiter zu spucken, höher zu springen, härter zu zuschlagen und schneller zu rennen als alle anderen. Das war einfach und lustig, ich bin die Risiken ohne Rücksicht auf die Narben eingegangen. Oder eher im Gegenteil: Jede Narbe bedeutete einen Punkt und für diese Punkte gab es Gefälligkeiten, ein Eis, Träume und meine eigene Legenden.

Die erste dieser Narben bekam ich, als ich laufen lernte. Ich blieb mit dem Mund an der Kante eines Nachttisches kleben und mit einem Ausrutscher verlor ich meine gute Laune und das Gedächtnis. Meine Mutter nahm mich in ihre Arme; den Rest erledigten ein Bonbon und zwei perfekte Nahtstiche.

Die zweite Narbe ist die beste: Sie sieht aus wie ein Skorpion, der auf dem Rücken liegt, und man kann sie sogar noch oberhalb meines Fußknöchels, am linken Bein, ertasten. Ich hatte mir beim Karneval die Haut an einer Blechdose aufgeschnitten und zwei Frauen, meine Mutter und ihre Freundin, fielen vor Schreck fast in Ohnmacht, als sie diese zähflüssige Mischung aus Blut und Fett sahen. Von da an war ich nicht mehr ein kleiner, dicker Vierjähriger, sondern ein kleiner, dicker Vierjähriger, der vor Stolz fast platzte.

Bevor ich zehn wurde, hab ich mir endlich die Stirn aufgeschlagen. Ich habe im Haus meines Onkels versucht, Schlittschuh zu laufen, barfuß, auf dem Wasser auf dem Boden. Die Pirouette, die ich zu Beginn anspruchsvoll drehen wollte, verwandelte sich gegen Ende in Übermut. Als ich den Kopf hob, um zu sehen welche Wertung mir die anderen Kinder geben würden, war ich überrascht von dem Entsetzen auf ihren Gesichtern: Das waren neun Stiche quer über meine Stirn, die meine Cousinen erfolglos mit Zärtlichkeit und Kerzen wieder heilen wollten, bevor sie es meiner Mutter über die Telefonleitung berichteten. Ihr Entsetzensschrei am anderen Ende, neun Autostunden entfernt, verstärkte nur, was ich bereits wusste. Mein Onkel nahm mich zur Seite und sagte mir im Vertrauen: Wenn du zwischen der Stirn und dem Kinn eine Narbe hast, mach dir keine Sorgen, streck die Brust raus: Jetzt bist du zum Mann geworden. Wenn man zwei Narben hat, so wie du, kann man du sogar ein vielversprechender Mann werden.

Meine letzte sichtbare Verletzung bekam ich am rechten Arm, jetzt bin ich ganz im Gleichgewicht. Das war bei einer Schlägerei, ich war gerade 12, na ja, fast 13. Der Streit begann, weil ich einen kleineren Jungen verteidigt hatte, um ein Mädchen, das zu Besuch war, zu beeindrucken – dasselbe Mädchen, das mir dann die tiefe sechs Zentimeter lange Schnittwunde mit Klopapier verband und mich nach Hause brachte, um meiner Mutter Bescheid zu sagen. Ich kam aus der Schlägerei mit der Aura des Tapferen, ein Held, verletzt in der Schlacht. Ich hatte das Gefühl mich selbst verwirklicht zu haben. Außerdem blieb mir ein Keloid, ein Begriff den man benutzt, um den sowieso schon geringfügigen ästhetischen Wert, den eine Narbe haben kann, auf etwas noch geringeres als eine groteske Anekdote zu reduzieren.

Seit diesem Moment begann ich, andere Dinge über das Mannsein zu lernen, die nur wenig mit Verletzungen und der anschließenden  – und manchmal unmittelbaren – weiblichen Pflege zu tun haben. Ich liebe die Frauen, genau wie Fußball, die Nacht, die Partys, das Domino und zeitweise die Literatur und ihre Satz-Fallen. Aber vor allem liebe ich es, aus zwei anderen Gründen Mann zu sein: Ich glaube, nur als Mann kann man das richtige Ausmaß der Kerbe in der Seele, die der Tod meiner Mutter, meiner alleinerziehenden Mutter, hinterlassen hat, wirklich schätzen. Und damit auch alles, was sie mir über die Bedeutung, die Wichtigkeit, den Wert und die Courage der Frauen beizubringen versucht hatte. Frauen sind so sensorisch, so intelligent, so sensibel, so zart, so stark und auch so verletzlich. Wenn ich eine Frau wäre, hätte ich nicht unbedingt weniger Narben, das stimmt schon, aber ich hätte sie sicherlich niemals genauso genossen und sie möglicherweise sogar versteckt.

Ich bin jemand, der denkt, dass mit jedem neuen Schmerz die Angst wieder auftaucht, und dass das Trauma, das durch den Tod meiner Mutter hervorgerufen wurde, nur durch eine andere Frau, meinen Tochter, geheilt werden konnte. Das ist der zweite Grund: Nach der Angst überkommt dich plötzlich die Freude, und deine Erinnerungen verändern sich. Natürlich verlor der Stolz über meine Narben mit der Zeit seinen Sinn und dieser Platz ist nun frei für die Neugier, die Metaphern, das Lernen und die Liebe, in all ihrer Vielfältigkeit.

Muttersein erlaubt dir…Woher soll ich wissen, was Muttersein dir erlaubt? Mannsein erlaubt dir, dich in deine Mutter und deine Tochter zu verlieben, falls du beide hast oder hattest. Das ist keine Kleinigkeit, und ich denke, dass es ein ausreichendes Motiv ist, mir dieses Leben, das mir ein männliches Bewusstsein zugeteilt hat, nicht entgehen zu lassen, bis ich in einem anderen, unwahrscheinlichen Leben Frau sein werde und mit Narben geboren werde, die mir die Geburten von jedem einzelnen meiner Kinder zufügen werden.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Morgen heirate ich http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/morgen-heirate-ich/ http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/morgen-heirate-ich/#comments Fri, 16 Jul 2010 10:48:49 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=465

Ja, Hochzeit!

Seit Wochen wird in unserem Land mit Pro- und Contra-Argumenten über die gleichgeschlechtliche Ehe diskutiert. In diesen letzten Tagen war im Namen Gottes, der Liebe und der Familie so viel Unsinn zu hören, dass ich dem Ganzen nicht mehr traue.

Heute findet eine Demonstration von den Gegnern der schwul-lesbischen Ehe statt. Auch wir, die wir an die Freiheit für alle glauben, protestieren lautstark an verschiedenen Orten der Stadt.

Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich nur daran denke, dass wir das Thema bei dem heutigen Stand der Dinge so diskutieren und auf derart ungebremsten Gewaltniveau austragen. Es überrascht mich und doch wieder nicht, natürlich… in einem Land, in dem noch immer Menschen verschwinden (erinnert ihr euch an Julio López?) und ich erwähne das, um nicht nacherzählen zu müssen, was sich in unserem Land alles mit dem Segen der Heiligen Katholischen Kirche ereignete… und von dem jeder weiß… und all das wurde normal. Was ist das Normale? Ist es normal, dass all das normal ist?

Ich kann es in meiner eigenen Familie beobachten… mein älterer Bruder spricht seit neun Jahren nicht mehr mit mir, weil ich mit einer Frau zusammen bin, mein Vater sagte mir: „Tu was du willst, aber für mich ist ‚das‘ eine Krankheit.“ Ausgerechnet heute, wo die Katholiken gegen die Freiheit demonstrieren, löschte mich mein anderer Bruder vom MSN.

Wovor haben sie solche Angst? Wieso klingen ihre verbissenen Argumente und ihre vehemente Ablehnung in meinen Ohren nach versteckter Perversion? Wieso denken sie, wenn sie an ein homosexuelles Paar denken, nur an Sex und nicht an Liebe? Wieso hegen sie, wenn doch Gott Liebe ist, wie sie behaupten, solchen Hass und Ablehnung gegenüber ihren Nächsten, die sie lieben sollten wie sich selber?

Vor Kurzem trennte ich mich von der schönsten und besten Frau der Welt. Wir waren fast neun Jahre lang ein Paar. Morgen heirate ich nicht, das war ein Witz. Aber wenn wir irgendwann wieder zusammen kommen sollten, sie und ich, werde ich sie sicherlich fragen, ob sie mich nicht heiraten möchte.

Heute machen wir die Geschichte!

Übersetzung: Marcela Knapp

Anmerkung: Das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe wurde am 14. Juli 2010 vom argentinischen Senat nach einer vierzehnstündigen Sitzung verabschiedet. Damit ist Argentinien das erste Land in Lateinamerika, das die gleichgeschlechtliche Ehe unterstützt.

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Familientauziehen http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/#comments Fri, 16 Jul 2010 08:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=460 Seit meinem fünften Lebensjahr besuchte ich jeden Sonntag meine Großmutter väterlicherseits. Meine Oma war an den Rollstuhl gefesselt. Mehrere Krankheiten hatten sie früh ihrer Jugend beraubt. Dieses Invalidendasein schien ihr einen inneren Frieden zu bescheren, welcher sich in einem scharfsichtigen historischen Sinn äußerte. Eine zu früh gealterte Frau als Speicher für das kollektive Gedächtnis. Jeden Sonntag also, nach dem Mittagessen, erzählte sie mir punktgenau ein Kapitel der bolivianischen Geschichte. Auf diese Weise versuchte sie, dem Einfluss entgegenzuwirken, den ich im Hause meiner Großmutter mütterlicherseits ausgesetzt war, wo ich von Montag bis Samstag wohnte. Dort waren sie flammende Anhänger der MNR (lange wichtigste Partei des Landes; in den 1940/50er Jahren linksgerichtete, nationalrevolutionäre später dann neoliberale Orientierung, Anm.d.Ü.). Meine Oma väterlicherseits erzählte mir von der Familie Barrientos und der Nationalgeschichte. Ihre Erzählung glich einem Spionagefilm. Wer die Guten und wer die Bösen waren, war für mich schwer zu durchschauen. Die Geschichten waren voller Mikrogeschichten. Sie erzählte mir von den Überstülpungen der Revolution von 1952, vom Leben ihres Vaters in den Minen, vom geheimen dekadenten Leben des Präsidenten Víctor Paz Estenssoro, genannt der„Affe“, vom inneren Exil meines Großvaters, der Mitglied der faschistischen Falange in Bolivien war, vom Tod meines Onkels bei einem Flugzeugabsturz direkt vor der Haustür, von dem anderen Onkel (dem berühmteren), der Paz Estenssoro gestürzt hatte.

Ich kam jedes Mal verwirrt und misstrauisch wieder im mütterlichen Zuhause an, und dort kontrastierten sie die Erzählung mit anderen Beweisstücken: die unübersehbaren Errungenschaften der Revolution von 52 (Nationalisierung der Minen und die Landreform, zum Beispiel), die manipulative Amtsführung von Barrientos als Präsident, der lange Protagonismus der MNR in der nationalen Politik als Beweis ihres Erfolgs.

Beide widerstreitende Erzählungen formten nach und nach meine Identität. Mit der Zeit habe ich dann selber die Erzählung unter Zurhilfenahme von Büchern und Lehrern neu zusammen gesetzt. Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass die Geschichte ein Prozess ist und keine Abfolge von historischen Ereignissen und schroffen Brüchen. Die Revolution von 1952 kann aus heutiger Sicht kritisiert und als unzureichend eingestuft werden, als eine Zeit voller Widersprüche. Doch zugleich wäre nichts von dem, was wir heute erleben, ohne diesen Prozess möglich gewesen. Nicht zuletzt die Revolution selber, die aus den indigenen Revolten hervorging, welche im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzten und bis in 1940er Jahre anhielten. Diese wiederum kündigten sich seit den Aufständen der Tupcas am Ende des 18. Jahrhunderts an. Tupac Katari und Tupac Amaru II waren zwei der wichtigsten indigenen Rebellen während der spanischen Kolonialzeit, sie umzingelten La Paz zweimal, 1750 und 1781.

Es gibt keine Stunde Null und kein Ende der Geschichte. Ich habe auch gelernt, dass die Geschichte nicht allein in den Geschichts- und Schulbüchern präzise beschrieben ist, sondern auch in den Liedern und in der Stimme unserer geliebten Mitmenschen.

Übersetzung: Anne Becker

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Meine Großmutter, die Zeitungen, … http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/meine-grosmutter-die-zeitungen/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/meine-grosmutter-die-zeitungen/#comments Tue, 13 Jul 2010 08:00:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=447 Foto aus dem Familienalbum

Foto aus dem Familienalbum.

Geschichte ist nichts anderes als das alltägliche Leben mit uns in der Hauptrolle. Auch wenn unsere öffentliche Existenz sich darauf beschränken sollte, am nächsten Kiosk nur deshalb die Zeitung zu kaufen, um darin Fisch einzuwickeln. Es ist möglich, dass Großmutter uns zu dieser Einwickeltechnik geraten hat, „nichts hält den Fisch besser frisch auf dem Weg vom Markt nach Hause“. Es ist möglich, dass unser Name Liz ist und dass die passende Aufgabe für diesen Tag darin besteht, den Fisch holen zu gehen. Dann, wenn die feuchte und knittrige Zeitung weggeschmissen sein wird und Großmutter bemerkt, wie meine neugierigen Augen auf eine zerknüllte, halb aus dem Mülleimer ragende Seite schielen, dann wird sie beginnen, von der Geschichte zu erzählen. Nicht von der Geschichte, wie sie von der Presse blitzschnell hingekleckst wird, sondern von jener anderen Geschichte, die Großmutter sich erinnert, erlebt zu haben. Wenn sie mit dem Erzählen aussetzt, dann nur, um in den Pausen kulinarische Zuckungen und weibliche Flüche unterzubringen.

Unter dem Einfluss des unsichtbaren Inhaltsstoffs, den die Zwiebel beim Schneiden ausdünstet, brach ich in bitterliches, ignoriertes Schluchzen aus, wenn mir meine Großmutter, als ich klein war, ihre Geschichte erzählte. Die Wärme ihres Atems wurde vielleicht vom Knoblauchkauen verursacht oder vom Geschmack einer Vergangenheit, die mit unwirschen Schritten der Gegenwart auf der Spur war. Wenn ihr ein Adjektiv fehlte, suchte sie nicht im abstrakten Wortschatz der Politiker oder Literaturdozenten, sondern schöpfte aus ihrer eigenen Alltagserfahrung mit ihren Lebensmitteln und Haushaltsgeräten. Großmutter sagte nicht solche Sätze wie „niederträchtiger Präsident“ und „unsere Nation verteidigen“. Sie sagte „jener, der Koch war und dann Chefkoch wurde“ und „diese, die immer danach gucken, welchen Kuchen sie in den Ofen schieben“.

Eines Tages starb sie. Die Lust, weiter die Vergangenheit anzurufen, war ihr entgangen, weil sie spürte, dass sich die Zukunft verdunkelte und die Gegenwart sich in ihrer Kehle zuschnürte, so dass die Zeit schmerzhafte Fratzen schnitt. Als es passierte, war ich nicht darauf vorbereitet, sie gehen zu lassen. Aber ihre kleinen Geschichten, hartnäckige Schattierungen der hegemonialen Geschichte, sind mir geblieben.

Ich denke, dass die Geschichte diese bleibende Beständigkeit ist. Der emotionale Zustand, der von einer Erinnerung ausgelöst wird; das Gedächtnis, das in der Lage ist, die Gegenwart zu durchdringen.

Übersetzung: Anne Becker

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Geschichte und Geschichten http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-und-geschichten/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-und-geschichten/#comments Wed, 07 Jul 2010 14:03:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=431 Augenscheinlich sind mir Geschichten wichtiger als Geschichte, sonst wäre ich ja Historikerin und nicht Schriftstellerin geworden – doch Geschichte spielt immer eine entscheidende Rolle. Ob man es möchte oder nicht. Auch beim Schreiben.

Literatur würde ohne althergebrachte Sprache und Alphabet, die beide schon allein Beweis dafür sind, wie wir aus und mit der Vergangenheit leben, gar nicht existieren. Auch das Geschichtenerzählen selbst ist dem Betrachten historischer Zusammenhänge nicht unähnlich, schließlich muss der Autor herausfinden, was der Kern des Geschehens ist, was die Figuren getrieben hat, warum sie so handeln wie sie handeln, um am Ende aus diesen Einzelfäden das Handlungsnetz zu weben.

Doch das einfachste und offensichtlichste ist natürlich der Umstand, dass Geschichte die Menschen formt. Lange bevor wir geboren werden. Ich bin nur deshalb die Person, also die Autorin, die ich bin, weil die Geschichte meines Landes einen so massiven Einfluss auf das Geschick meiner Familie genommen hat – und damit auf mein Leben. Meine Großmutter verlor als junge Frau durch den II. Weltkrieg alles, was ihr bis dahin selbstverständlich erschien: ihre Heimat, ihr Elternhaus, fast alle Verwandten, die Freunde, die Orte ihrer Kindheit, ihren Dialekt. Mein Großvater, der in seinem vom Krieg völlig unberührt gebliebenen Heimatdorf einen kleinen Skandal verursachte, als er ein Flüchtlingsmädchen und keine Einheimische heiratete, starb 1967 im Alter von 42 Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen in einem Stasi-Knast. Weder meine Mutter, die damals noch ein Kind war, noch meine Großmutter haben diesen Verlust jemals verarbeitet. Meine eigene Kindheit war vor diesem Hintergrund im Wesentlichen geprägt von Bewachung und dem Wunsch nach Freiheit. Dass ich eine höhere Schule besuchen durfte, verdanke ich ausschließlich dem Engagement einer mutigen Frau.

Selbstverständlich haben diese Dinge mich geprägt. Und mit mir prägen sie auch meine Geschichten. Niemand von uns fällt einfach so aus der Welt. Oder in sie hinein. Die unauflösliche Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit bildet den einen Raum unseres Daseins, in dessen Inneren wir uns ein Leben lang bewegen – und dem wir nicht entweichen können. Man versteht das Heute nur, wenn man es zusammen mit dem Gestern betrachtet. Das ist keine Frage von Interesse.

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