Deutschland – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Que padre, que madre! http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/que-padre-que-madre/ Mon, 05 Dec 2011 23:05:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6136 Unser Messeblog lag ein paar Tage brach, unter anderem, weil das Internet brachlag. Unterdessen ist viel passiert, aber ein paar Sätze und Einsichten und Begegnungen bleiben. Ein Abschlussbericht.

Oft wurde zu lange geredet, bis der Punkt kam: So wollte ich gerne über die Buchpräsentation der jungen Journalistin Ana Lilia Pérez schreiben, die ihr Aufdeckungsbuch „Das schwarze Kartell“ über die Verbindungen der Drogenmafia zur Benzin- und Ölfirma Pemex auf der 25. Buchmesse in Guadalajara vorstellte. Aber es war wieder eine dieser hier typischen Buchpräsentationen, die damit beginnen, dass rezensionsartige Essays zu dem Buch vorgelesen werden. Was oft spannend ist, aber es dauert eben… Und ich habe nach 45 Minuten den übervollen Saal verlassen, ohne die Stimme der Autorin überhaupt vernommen zu haben. Ähnlich ging es mir bei der Diskussion mit dem Chefredakteur von El País, Javier Moreno, Philip Bennett von der „Washington Post“, Suzana Singer, „defensor de lector“, einer Art Ansprechpartner für die Rechte der Leser, bei der größten brasilianischen Zeitung „Folho“ mit einer Auflage von 400.000 pro Tag, und Alejandro Santos Rubino von der Zeitschrift „Semana“ in Kolumbien. Sie sollten uns davon erzählen, wie sich der Journalismus nach Wikileaks verändert hat, aber erstmal fasste Bennett die Geschichte von Wikileaks auf Wunsch der Moderatorin zusammen, als ob wir noch nie etwas davon gehört hätten. Javier Moreno schaffte es, sein klandestines Treffen mit Julian Assange in Zürich, auf 15 Minuten langzubügeln. Allein Suzana Singer kam zum Punkt: „Folho“ hat nach Wikileaks einen eigenen Kanal eröffnet, durch den Leserinnen und Leser anonym und sicher „denunzieren“ können, was bisher 320mal genutzt wurde und wodurch drei Zeitungsgeschichten entstanden, etwa zur Veruntreuung öffentlicher Gelder. Weitere Erkenntnis: Wikileaks enthielt bisher nicht viel relevantes Material für Lateinamerika, war sehr spezifiziert auf USA und Europa. Und: Die Plattform braucht Journalisten, die die Menge an Information filtern.

Es war also wirklich eine Fiesta vieler vieler Worte, oder, wie die Frankfurter Buchmesse in ihrer Abschlusspressemitteilung schreibt, eine Fiesta des Wortes. Sie gibt alle Zahlen und Fakten bekannt, die in eine Pressemitteilung gehören: 2.500 Menschen hörten dem Auftaktgespräch zwischen Herta Müller und Vargas Llosa zu, auf den 50 Literatur- und Fachveranstaltungen zählte die Messe rund 8.500 Besucher, am deutschen Pavillon präsentierten sich 42 Einzelaussteller, 20 deutsche Verlagsvertreter waren angereist. Die FIL selbst präsentierte mehr als 500 Bücher, darunter 25 Nachwuchsautoren aus Lateinamerika, die „25 Geheimnisse„.

Aber sind Zahlen nicht bloß leere Zeichen für Powerpoints der Marketing, Rights und Sales Manager, die nichts über die unverständlichen Wege der Literatur aussagen? Gar nicht so unverständlicherweise ging es daher in vielen Gesprächen auf den Podien, in den Salons, aber auch auf Parties um die „Macht der Sprache“ selbst, wie ein Slamgedicht von Bas Böttcher heißt, das er auch live vortrug.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=Ydhxo4DyPFc[/youtube]

Es ging um das Sich-Verstehen, das Einhören in eine neue Sprache, um Spanisch oder Englisch, um gemeinsame Lektüren, um Slang, um Schimpfworte, Alltagsverstehen: Im mexikanischen Spanisch bedeutet etwa „madre“ sowohl „Mutter“ als auch „super“, „padre“ bedeutet sowohl „Vater“ als auch… „super“. „Poco madre“ dagegen existiert nur in Kombination mit der Mutter, und das bedeutet dann eben „wenig super“… die Macht des Vaters oder der Mutter? Und wie klänge das auf Deutsch: „Wie Mutter“?

Die Ministerin Cornelia Pieper nannte Deutsch gleich bei der Eröffnung eine „Sprache der Ideen“, eine der zwei Messeleiterinnen der FIL, Consuelo Sáizar, sprach von einer „Brüderschaft des Wortes“, der wir alle angehören und für die die Messe 1987 gegründet worden war – gegen eine Zentralisierung des spanischsprachigen Buchmarkts in Spanien, denn Mexiko sei das Land mit der größten spanischsprachigen Bevölkerung.

Auf vielen Podien mit deutschsprachiger Literatur etwa mit Wladimir Kaminer, Dragica Rajcić, Adam Soboczynski und Saša Stanišić wurde allerdings nicht nur einer Sprache, sondern der Vielsprachigkeit der mehrkulturellen Autoren gehuldigt, die, so erkannte die Moderatorin Sara Lovera López, ein „modernes, eigenes Deutsch“ erfinden. Für den aus Bosnien stammenden Autoren Saša Stanišić ist Sprache wie „Spaghetti“ und „die Autoren machen die Soße“, Herkunft sei für ihn keine literarische Kategorie, genausowenig wie braune Haare, wichtig sei, dass man zwischen seiner doppelten Persönlichkeit eine Brücke schlagen könne, sie nicht als getrennte wahrnehme. Rajcić ließ wissen, dass alle ihre Metaphern im Deutschen aus dem Slawischen kämen, dass sie die „unabgeschlossene Vergangenheit“ des Slawischen nutze, denn im Deutschen gäbe es, auch im Politischen, nur eine „abgeschlossene Vergangenheit“.

Zum Abschluss erlaube ich mir, eine weitere Zahl zu nennen: Deutsch sei, informierte der Leiter der Frankfurter Buchmesse, Jürgen Boos, eine „gateway“-Sprache, denn 40-50 Prozent der Neuerscheinungen seien Übersetzungen, Deutsch sei der größte „Sprachenmarkt“ in Europa. Wenn ein Buch in deutscher Übersetzung erfolgreich sei, würden die Rechte oft auch für andere Sprachen verkauft. Und das ist doch eigentlich eine gute Meldung für die kleinen Sprachen, deren Verschwinden Dragica Rajcić fürchtet, denn mit ihnen verschwänden eigene Weltsichten. Hoffen wir also, dass der spanischsprachige Buchmarkt sich mehr und mehr der gar nicht so großen Sprache Deutsch annimmt!

Tschüss und Danke an unsere Messeblog-Unterstützerinnen und -er Natalia Guzmán, Barbara Buxbaum, Adriana Redondo von In-Kult, an Dieter Schmidt von der Frankfurter Buchmesse, an die super Guadalajara-Begleiter Paty, Vero, Erik, Sasa, Abbas, Holger, Peter Stamm, die Facebook-Agenten Amaranta und Dennis, sowie an die „Tocinos“ von Sexto Piso!

]]>
Ein Land zeigt Gesichter http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/ein-land-zeigt-gesichter/ Sun, 27 Nov 2011 17:31:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5967 Buchmessengastlandauftritte sind Werbung. Autoren werden eingeflogen (ca. 25), Verlage investieren in Präsentationen (etwa 40), eine Ministerin des Auswärtigen Amts hält Eröffnungsreden zum Lob des Kulturaustauschs, des „zivilgesellschaftlichen Dialogs“ und anderer Säulen der auswärtigen Politik (Cornelia Pieper), Broschüren werden gedruckt (Neuerscheinungen, Landeskundehefte, Veranstaltungsprogramm). Man nennt das auch cultural diplomacy, denn hinter all dem steht natürlich die Vermarktung eines Landes und seiner, in diesem Fall, Buch-Branche.

Warum aber im offiziellen Messeheft die deutschen Veranstaltungen mit zehn Fotos angekündigt werden, die 14 Männer und 10 Frauen zeigen, vor allem Bands des wirklich gut ausgewählten kostenlosen Open-Air-Musikprogramms und allesamt eher unter 40 Jahren (das Durchschnittsalter in Deutschland liegt bei 42,1 Jahren), versteht man kaum. Kein Leser, nirgends. Doch: Franka Potente liest in einem Filmstill aus Doris Dörries „Bin ich schön?“ ein Buch. Keiner der eingeladenen Autoren ist zu sehen, dafür blau gedrehte Fäden: eine moderne Interpretation der blauen Blume oder postpostmoderne Identitätsverwirrung in blauem Euro-Krisen-Gold? Rüdiger Safranski, der Philosoph der deutschen Romantik, liest am Samstag, 3. Dezember um 17.30 Uhr, dann können wir ihn fragen…

Bis dahin ist Deutschland, „Invitada de Honor“, laut Programmheft ein Land der musizierendenn oder kritisch dreinblickenden jungen Männer, die sich das Kinn reiben, und der Frauen, die in Friseursalons tanzen, eine Pistole zücken oder lasziv dahingebettet an Weihnachtsbaumschmuck lecken. Aber warum eigentlich nicht? Immer noch besser als das Brandenburger Tor im Sonnenuntergang und Lederhosen-Biertrink-Folklore.

]]>
Der Versuch, sich nicht mehr zu beschweren … http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/der-versuch-sich-nicht-mehr-zu-beschweren/ Mon, 12 Sep 2011 07:44:49 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4906 … oder ein weiterer Schritt für die Integration.

Fangen wir damit an, dass es hier dauernd regnet. Den ganzen Sommer über kalt ist. Und dass ich immerzu die Sonne vermisse. Wetterbeschwerden sind hierzulande sehr populär, und so schließe ich mich der Mehrheit an – zwecks absoluter Integration.

Es gibt noch einiges mehr, worüber ich mich beschweren könnte. Über den Gesundheits-, den Jugend-, den Leistungs-, den Arbeitswahn, den Antigenusswahn, den Dauerhaft-Schlechtes-Gewissen-Wahn, den Sparsamkeitswahn, den Coole-hype-und-dabei-so-krampfhaft-unentspannte-Eltern-Wahn, den Kinder-die-keine-Kinder-sein-dürfen-Wahn, den Integrationswahn, den Exotentumswahn, den Aus-keinen Problemen-Probleme-Machen-Wahn und… Mir könnten noch einige Wahnzustände einfallen, über die ich mich gern beklagen würde. Aber das wäre vielleicht nicht nur deutschlandspezifisch, das wäre vielleicht so eine Art Zusammenfassung des westlichen Wahnsinns, mit dem wir uns umgeben, über den wir klagen und dem wir uns doch alle am Ende zwanghaft hingeben.

Aber ich wollte eigentlich etwas Gutes schreiben. Bin ich tatsächlich allzu gut integriert, dass mir so viel Schlechtes als Erstes einfällt? Zum Beispiel: Ich war gerade dabei mein Fahrrad abzustellen, voll bepackt mit Einkaufstüten, und während ich versuchte, irgendwie mein Gleichgewicht zu halten, kippte mein Rad um und ich ließ es liegen. Eine Frau rief mir im Vorbeigehen zu: „Das nennen Sie Integration, fremde Fahrräder umkippen und liegen lassen?“ (Was mich am meisten daran verblüfft, war, woran sie meinen kulturellen, geographischen oder sonstigen Hintergrund erraten konnte. Na gut, ich sehe nicht besonders blond und blauäugig aus. Aber wie sie an meinem Äußeren meine Integrationsstufe ermessen konnt, bleibt mir ein Rätsel.)

Oder Leser, die bei den Lesungen immer wieder wissen wollen, woher ich Deutsch kann. (Ich sitze übrigens meist in der Funktion einer deutsprachigen Autorin bei solchen Lesungen.) Behörden, wo, man mir rät einen deutschen Mann zu heiraten, damit ich keine weiteren Probleme mit dem Visum habe. Zollbeamte, die mich verhaften lassen, weil ich mich am Flughafenschalter von ihnen nicht beleidigen lassen möchte. Vermieter, die mir keine Wohnung geben, weil sie das Land nicht kennen, wo ich her komme, das Wort Künstler an sich schon mit asozialem Lebensstil gleichsetzen und meinen Namen nicht richtig aussprechen können. Na ja, aber es wäre unfair. Es wäre genauso unfair, weil ich an der Stelle den gleichen Fehler machen würde, den wir, integrationswillige Ausländer, den Deutschen vorwerfen. Den Fehler des Selektierens. Denn wir Menschen selektieren gern. Wir sagen: die Deutschen, die verstehen das nicht, die Deutschen sagen, ihr wollt es nicht verstehen und so geht es immer weiter, und immer weiter gucken wir Talkshows, schreiben Berichte und lesen Bücher über unsere Globalisierungsprobleme, unsere Integrationsprobleme, über unseren Kulturchlash, die Unmöglichkeit der Zusammenführung alles Verschiedenen zu einem harmonischen Ganzen.

Irgendwann hat man seine Osteigenschaften zu Westeigenschaften gemacht, (oder andersrum, oder man kann sie nicht mehr auseinander halten oder…) irgendwann geht man auf die Fragen nach seinen Deutschkenntnissen nicht mehr ein, irgendwann ignoriert man die Fragen nach den traditionellen Gerichten seines Heimatlandes. Irgendwann fügt man auch wegen seines Nachnamens nicht mehr entschuldigend hinzu: Ja, ich buchstabiere mal lieber. Denn irgendwann hat man Menschen getroffen, die man auf ihre Ost-, West- oder vielleicht einfach auf ihre menschliche Art und Weise lieben gelernt hat. Denn Globalisierung und Kulturclash hin und her – haben wir nicht alle unsere Kontinente, Planeten, Länder und Städte? Haben wir nicht alle unsere Traditionen, Rituale und unsere Rezepte fürs Leben? Ist wirklich dieser Versuch, alles zusammenzubringen, was auch nur ansatzweise ein Konfliktpotenzial bietet, so erstrebenswert? Muss ich wirklich jemandem erklären, warum ich kein Bock habe, mein umgekipptes Fahrrad aufzuheben?

Vielleicht doch. Vielleicht hätte ich sagen müssen: „Wissen Sie, ich hatte heute einen Scheißmorgen. Vielleicht hatten Sie einen noch beschisseneren Tag, der Sie dazu veranlasst – solche Kommentare abzugeben, vielleicht geht es Ihnen trotz Therapie und Yoga nicht besonders, vielleicht sind Sie unglücklich, einsam, perspektivlos, vielleicht – sollten Sie kurz rein kommen, und ich mach Ihnen einen Kaffee oder Tee und vielleicht geht es uns beiden danach ein wenig besser…“

Vielleicht hätte ich das sagen sollen… Und vielleicht hätten wir Kaffee oder Tee getrunken und hätten uns dann nicht gegenseitig beleidigt. Vielleicht hätte sie mir einen Tipp für einen guten Yogatrainer gegeben, der mir bei meinen Rückenproblemen geholfen hätte oder einen Therapeuten empfohlen, mit dem ich dann lange über meine Integrationsversuche sprechen könnte. Vielleicht. Ich weiß es nicht, ich kann nur hoffen, dass es so wäre. Und mir vornehmen, mich weniger über das Wetter zu beschweren…

]]>
Titel (Deutsch) – Titel (Español) http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/titel/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/titel/#comments Tue, 19 Oct 2010 11:55:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2969 Es ist ja nun Zeit, Bilanz zu ziehen. Die Welt dreht sich, und nun dreht sie sich fortan fort von einem wunderbar geruhsamen Sommer zwischen Studium und Beruf, in den sich die Arbeit an diesem Blog biographisch hervorragend einpasste. Schon ist man Arbeitnehmer und Gewerkschafter, schon blickt man sorgenvoll auf das Konto und unsicher in die Zukunft, und schon findet man sich nicht mehr bereit, das reine Denken über das reine Denken zu betreiben, sondern fragt sich nur noch, welche der bestehenden Freundschaften, zu denen keine einzige interkulturelle zählt, trotz deutlich vermindertem Freizeitaufkommen fortgesetzt werden soll.

Man verblödet also und irgendwann wird man, wenn die eigenen Kinder einen als rückständigen, chauvinistischen Kleinstadt-Spießer mit null Sozialkontakten und der Weltgewandtheit eines Bielefelder Senioren enttarnen, auf diese goldene Zeit (weniger auf einzelne Texte) verweisen können und sagen: „Seht her, es gab Zeiten, da stand euer Papa mit der ganzen Welt im Austausch. Kluge Menschen aus Mexiko, Argentinien und Bolivien diskutierten mit ihm über nationale Historiographie und Fragen der Identität in einer beweglich gewordenen Welt.“

Wenn die Welt eine UNO-Vollversammlung ist und der Computer ein sensibler Dolmetscher …

Wenn die Kinder halbwegs Hirn haben, fragen sie dann, was dabei rumgekommen ist – und bringen ihren Erzeuger damit in schwere Verlegenheit: Hat er sich denn etwa jemals für die anderen internationalen Blogger oder die Leser dieses internationalen Blogs interessiert? Nicht wirklich, auch wenn manches interessant und manches bedenkenswert erschien – letztendlich war die Kommunikation zu mühsam. Denn, so würde man in der Rückschau zugeben müssen: Zwar wurden die spanischprachigen Texte im Deutschen lesbar gemacht (und umgekehrt), doch für einen wirklichen mediengemäßen Dialog fehlten Geld und Technik.

Und wer weiß, vielleicht werden die Kinder, die ihren Vater für ein Fossil halten, den schon ganz selbstverständlich finden, wird er doch genau in dem Moment möglich, in dem Echtzeitübersetzungsmaschinen Chat-Beiträge derart gut in andere Sprachen übertragen, wie es jetzige Übersetzungs-Algorhythmen nicht einmal mit fixiertem Textmaterial ansatzweise vermögen. Wenn die Welt eine UNO-Vollversammlung ist und der Computer ein Simultandolmetscher (ein guter, sensibler, einsichtsvoller mit einem Händchen für die stimmige Übertragung kultureller Codes), dann wird überhaupt so etwas Ähnliches möglich sein wie ein interkultureller Dialog. Dann irgendwann werden auch über Sprachräume hinweg Horizonte im Dialog verschmelzen können.

Manchmal möchte man verzweifelt „Argh!“ rufen.

Bis dahin plagt man sich mit Substituten wie Weltsprachen: Wenn fünf Nicht-Muttersprachler um einen Tisch sitzen und Englisch parlieren, möchte man sehr laut gähnen, und wenn 20 Blogger und ihre Leser um ein Blog sitzen und trotz allen guten Willens nicht wirklich zueinander finden können, dann möchte man verzweifelt „Argh!“ rufen. Was mache ich aus den spanischen Reaktionen zu meinen (in jeder Hinsicht sehr deutschen) Beiträgen über Schuldkultur, Auschwitz und deutsche Identität? Die Übersetzungsmaschinen können einem zwar eine Ahnung davon geben, was das verhinderte Gegenüber bewegt. Trotzdem bedeuten sie zugleich eine unsachgemäße Surrealisierung: Wenn da steht „leider, und mit allem Respekt, es gab nur einen Holocaust, der Grenze ein verdammt Jukebox, die nie aufhört, warum so blau sind unsere Ziele können wir nur beten, nach San Antonio, wenn Neal Cassady kam, hier zu sterben, um zu immigrieren“, dann mutet das zwar in höchstem Maße lyrisch an, trotzdem bleibt darüber hinaus eben nur eine Ahnung vom semantischen Inhalt und der Grenze zwischen den USA und Mexiko und das kann’s ja wohl nicht sein.

Freuen wir uns also auf eine Zeit, in der es keine Sprachen mehr gibt; in der Landessprachen nur noch gewohnheits- und neigungsmäßige Dialekte sein werden, die für alte Provinz-Spießer, wie ich dann einer sein werde, eine ansonsten gänzlich virtuell gewordene Grenze zwischen Virtualität und Realität markieren. Dass wir dann sentimental werden, steht außer Frage. Immerhin wird dann das, was hier versucht wurde, nichts Besonderes mehr sein. Die ungewohnte Zuneigung, die es speziell für einen jungen Autor deutscher Zunge bedeutet, von nichtdeutsch sozialisierten Lesern gelesen werden zu können, der faszinierte und befremdete Blick auf die Übersetzung der eigenen Texte, den wird es nicht mehr geben. Alles wird Alltag sein, die Superdemokraten waren ein Fest. Danke dafür!

]]>
http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/titel/feed/ 4
Meine deutschen Worte in einem Café in Berlin http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/meine-deutschen-worte-in-einem-cafe-in-berlin/ Thu, 07 Oct 2010 06:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2339 Ich stelle mir vor, dass jemand in einem Café in Berlin eine Zeitung (oder ist es eine Zeitschrift, verzeiht, aber ich bin zerstreut) auf einem Tisch liegen lässt. Bevor die Kellnerin sie in den Müll schmeißt, wirft sie einen mürrischen Blick auf die Zeitung. Sie ist müde: So viel Tassen sind abzuräumen, so viele Aschenbecher zu leeren. Doch auch so erweckt der Titel, in dem von schwarzen Puppen und Angosturabitter die Rede ist, ihre Aufmerksamkeit. Sie sieht meinen Namen dort stehen, sie findet, dass er komisch klingt. Ist Lara nicht ein russischer Name? – überlegt sie, bevor sie meinen Artikel liest. Sie liest schnell, eine flüchtige Lektüre, damit niemand bemerkt, dass sie liest, anstatt Tische abzuwischen. Sie lacht kurz. Am Ende wirft sie die Zeitschrift (oder ist es eine Zeitung?) weg und so enden meine in die Sprache Goethes übersetzten Worte in einem großen Mülleimer, angereichert mit Zigarettenstummeln, Brotresten, Kaffeetropfen. Naja, wahrscheinlich wird der Müll getrennt, und so finden sich meine Zeilen zwischen benutzten Servietten, Altpapier und zerrissenen Postkarten wieder. Zur selben Zeit bin ich, auf der anderen Seite des Globus, unglaublich froh, dass ich das Glück gehabt habe, an einem multikulturellen, globalen, transnationalen, Internetprojekt  teilnehmen zu dürfen, durch welches meine Worte in einer anderen als meiner Sprache gelesen werden konnten. Als ich 15, vielleicht 16 Jahre alt war, habe ich „Gruppenbild mit Dame“ von Heinrich Böll gelesen und beschlossen, dass er mein Lieblingsschriftsteller sein würde, auch wenn ich nur dieses eine Buch gelesen hatte (mit 15 Jahren sind alle Entscheidungen kategorischer Natur und so brauchte ich sie nicht lange hin und her zu wälzen). Seit diesem Moment haben sich deutsche Straßen, bestimmte deutsche Namen und ein paar Blumen wie auch eine übersetzte deutsche Syntax in meiner Vorstellungswelt eingenistet. Es war eine unglaubliche Erfahrung, mich in der Sprache von Böll zu lesen oder dies zu glauben.

Dieses globale und plurale Internetprojekt hat es möglich gemacht, dass meine Texte, auch in meiner eigenen Sprache, jenseits meiner unmittelbaren Umgebung von einem räumlich entfernten und in sich sehr unterschiedlichem Publikum gelesen werden konnten. So wie es auch ermöglicht hat, dass ich hervorragende, mir unbekannte lateinamerikanische Autoren lesen konnte. Die heitere Tilsa, die ultrapoetische Lena, die intellektuelle Lizabel, die leidenschaftliche María. Von den Jungs ganz zu schweigen! Mein Landsmann Leo Felipe Campos ist eine kleine „Perle“, ich bin sein erklärter Fan. Viele Intellektuelle, die über Migrationen, Exil, Bewegungen, Irrungen, Identitäten und sonstige Kleinigkeiten nachdenken, sagen immer wieder, dass die Heimat die Sprache ist. Und dieser Raum hat gezeigt, wie 15 so unterschiedliche Personen keinerlei Übersetzung unter einander benötigten, weil sie einer Sprache entsprangen, die sich zwar verästelt und verschiedene Farben annimmt, aber dennoch ein und dieselbe bleibt. Ich mochte es nie, über Lateinamerika als einer Einheit zu sprechen, aber es gibt gewisse Dinge, die wir, wenn wir weit von einander entfernt sind, als Einheit stiftend empfinden. Ich lese diese lateinamerikanischen Autoren und ich verstehe sie auf eine Art und Weise, die weit über das Verstehen der Wörter hinausgeht. Denn diese kosmische Sprache, die uns verbindet, reicht weiter, als es ihre eigenen Vokabeln tun. Ich, die ich Tag für Tag im sprachlichen Exil lebe, hege daran keinen Zweifel.

Ein andere wunderbare Erfahrung, die dieser Raum darbot, war die Möglichkeit deutsche Autoren meiner Generation zu lesen. Böll ist sehr gut, aber es war ein großes Vergnügen die wunderschön entrückte Sprache von René Hamann oder die Eleganz von Emma Braslavsky zu lesen. Euch alle zu lesen war, als ginge ich in diesem Moment die (gepflasterten?) Straßen einer deutschen Stadt entlang. Die Texte der fünf beteiligten deutschen Autoren zu lesen, bedeutete zeitgenössische deutsche Literatur zu lesen – eine für mich, die ich die Sprache nicht spreche und nicht über die Mittel verfüge, an Übersetzungen (sofern sie existieren) heranzukommen, so schwierige Angelegenheit. Ich spürte den Puls der Texte dieser unterschiedlichen Autoren und vermochte auch hier ein zart gestricktes Muster zu vernehmen, das es mir irgendwie ermöglichte, Zugang zu einer Generation von Deutschen zu bekommen, von der ich nichts wusste. Die Fäden dieses Strickmusters weisen Ähnlichkeiten mit meinem eigenen Strickmuster auf. Wir sind mit unsichtbaren Fäden mit einander verstrickt und nur dieser Raum hat sie spürbar werden lassen. Wir sind durch das Netz „verstrickt“, durch die Globalisierung, die Generation oder wie auch immer man das nennen mag, was mich dazu befähigt, euch zu verstehen, Übersetzer wenn man will, aber weit über den unmittelbaren Wortsinn des Übersetzers von Worten hinaus.

Ich danke Rery Maldonado und Nikola Richter für diese aus dem Wollknäuel ihrer Träume entwickelte Idee, uns alle zusammen zu bringen. Dank ihnen sind meine Worte in einem Café in Berlin. Und meine Stimme in einem Ort im Äther des Cyberspace. An einem Ort dieser Raumzeit Null – dieses Chronotopos cero – haben wir uns getroffen.

Übersetzung: Anne Becker

]]>
Democracia = Demokratie? http://superdemokraticos.com/themen/burger/democracia-demokratie/ Tue, 05 Oct 2010 07:00:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2331 Wir schreiben seit ein paar Monaten in diesem Blog mit dem Titel „Los Superdemokraticos“. Aber: Bedeutet Demokratie für die deutschen und die lateinamerikanischen Autoren überhaupt über das Gleiche? Wenn doch schon der Begriff bei einem Kolombianer und einem Argentinier völlig unterschiedliche Assoziationen auslösen kann! „Die Rückkehr zur Demokratie“ ist für einen Argentinier ein Meilenstein, ein Aufatmen. „La seguridad democrática“ in Kolumbien ist ein Sicherheitskonzept der harten Hand, entworfen unter Ex-Präsident Alvaro Uribe.

Das beste ist immer, jemanden zu fragen, der Bescheid weiß. Roberto Gargarella zum Beispiel. Er ist Anwalt und Soziologe, Master in Political Sciences, hat zu verschiedenen Aspekten der Funktionsweise demokratischer Systeme gearbeitet. Er unterrrichtet in Buenos Aires an der Universidad Di Tella, war Gastprofessor in Spanien, Norwegen und Ungarn. Im November fliegt er nach Hamburg, um dort im Rahmen eines Seminars des GIGA-Instituts über Verfassungsänderungen in Lateinamerika zu sprechen.

Meinen Argentinier und Deutsche das Gleiche, wenn sie über „Demokratie“ sprechen?

Wir sprechen oft über völlig verschiedene Dinge, wenn wir einen Begriff definieren. Es kann zum Beispiel etwas völlig anderes bedeuten, wenn man sagt: „Ich bin links“, „Ich bin rechts“, „Ich bin Liberaler.“ In Argentinien ist ein Liberaler rechten Ideologien nah, sogar der letzten Diktatur, während der Liberalismus z.B. in den USA als fortschrittlich gilt, sich auf die Linke bezieht.

Welche Rolle hat der Staatschef in den beiden Ländern?

In Argentinien haben wir ein Präsidialsystem, das zu einem Hyper-Präsidialsystem geworden ist. Die Grundlage für die meisten lateinamerikanischen Verfassungen ist das nordamerikanische Modell, aber unsere Präsidenten haben verfassungsmäßig mehr Macht als in den USA. Ein argentinischer Präsident kann in die Politik der Provinzen eingreifen, den Ausnahmezustand erklären, durch diesen die Bürgerrechte einschränken, er kann nach Gutdünken Minister ernennen und absetzen. In parlamentarischen Systemen hat ein Präsident längst nicht so viele Vollmachten.

Deshalb steht die Figur des Präsidenten im Mittelpunkt, er ist der große Entscheider. Ich kritisiere das Hyper-Präsidialsystem, weil es ein großes Risiko gibt: Das System der Gewalten und Gegengewalten, kann durch eine sehr starke Exekutive gestört werden.

Wenn man den Statistiken glaubt, funktioniert die Demokratie in Deutschland besser als in Argentinien.

Wenn wir die Demokratie als ein System von Gewalten und Gegengewalten verstehen, mit freier Meinungsäußerung, regelmäßigen Wahlen, steht Argentinien im Vergleich schlechter da.

Wenn man aber näher hinschaut und auf die Kontrollmöglichkeiten achtet, die die Bürger gegenüber ihren Volksvertretern haben, funktionieren beide Modelle, das argentinische und das deutsche, nicht gut. Ich ziehe es vor, ein Demokratie kritisch zu beurteilen.

In einem Punkt liegt Argentinien übrigens vorne, es gibt eine große Beteiligung der Bürger in der Tagespolitik. Die Leute interessieren sich, handeln politisch, gehen auf die Straße, protestieren, und zwar mehr als in europäischen Ländern. Das ist meiner Meinung nach einer der interessantesten Züge, die die lateinamerikanische Politik vorzuweisen hat: Dass die Bürger sich für etwas einsetzen und versuchen, selbst politische Kontrolle auszuüben.

Trotzdem herrscht in Argentinien Wahlpflicht.

Das ist kein Problem, sondern eine Tugend unseres Systems. Eine freiwillige Stimmabgabe ist ein Risiko, vielleicht gehen die Leute nicht wählen, weil sie denken: „Meine Stimme zählt nicht viel, was macht sie schon aus, eine von 50 Millionen.“ Die Wahlpflicht ist ein kleiner Schubs, den der Staat gibt. Es heißt, dass Nichtwähler eine Strafe zahlen müssen, aber das wird nicht durchgezogen. Die Wahlpflicht ist ein wichtiger Anreiz, schließlich steht etwas Bedeutendes auf dem Spiel: „Wie definieren wir die politische Organisation in den nächsten Jahren?“

Das Vertrauen in die Institutionen ist gering. Wie schätzen Sie deren Leistung ein?

Es gibt eine Tradition der Staatsstreiche, aber das Militär hat nicht mehr viel Einfluss auf die Politik. Ich würde mir in Argentinien, und auch in anderen Ländern, mehr Sorgen um die Rolle der Polizei machen. Sie ist nach wie vor korrupt und in Verbrechen verwickelt. Die Justiz ist besser geworden. Es war lange üblich, dass eine Regierung versuchte, eine Mehrheit im Obersten Gericht zu erreichen. Deshalb variierte die Qualität und die Rechssprechung wechselte oft. Wir hatten liberale Gerichte, konservative, korrupte, und in diesem Moment ist das Oberste Gericht respektabel, mit guter akademischer Bildung, unabhängig.

Wieviel Einfluss hat die so genannte „fünfte Macht“?

Der Einfluss großer Unternehmen ist ein großes Defizit der Demokratie in Deutschland und in Argentinien. Bei uns kommt ein wirtschaftliches Ungleichgewicht dazu, das dafür sorgt, dass die Mächtigen noch mächtiger sind. Bis in die 70er und 80er Jahre war Argentinien sehr egalitär, mit der letzten Diktatur änderten sich diese Strukturen. Die Ungleichheit ist ein Problem, für das wir noch lange keine Lösung haben.

Wie frei ist die Presse?

Journalisten werden in Argentinien nicht verfolgt, es gibt oppositionelle Medien und keine direkte Zensur. Es gibt indirekte Zensur, vor allem in der Art und Weise, wie die Regierung Anzeigen von Staatsseite verteilt. Das sind enorme Summen, die nach Gutdünken vergeben werden. Abgesehen davon haben wir das gleiche Problem wie alle Länder mit ungleichen Stukturen: Es gibt Stimmen, die nicht gehört werden, weil sie nicht genug Macht oder Geld haben, an die Öffentlichkeit zu kommen. Das kann auch in Deutschland passieren, zum Beispiel müsste man überprüfen, ob die verschiedenen Einwanderergruppen Zugang zur öffentlichen Meinungsbildung haben.

Woher kommt die große Apathie in einigen Ländern?

In Europa hat die wachsende Apathie damit zu tun, dass die Leute merken, dass die Entscheider von Lobbygruppen beeinflusst sind. Die großen Unternehmen haben leichter Zugang zur Macht als die Bürger, der Einfluss der Interessensgruppen ist größer als der von hunderttausenden von Bürgern. Die Türen des Systems sind verschlossen, wenn die Menschen Druck machen. Aber die Systeme sind sensibel für den Druck von Machtgruppen, von Lobbyisten.

]]>
Das Land der Weicheier http://superdemokraticos.com/themen/burger/das-land-der-weicheier/ Wed, 15 Sep 2010 13:11:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1952 Ich schreibe aus einem Land heraus, das mich, das Bürgerkind aus der linken Mitte, (noch) watteweich umschließt und mich weltweit vor schlechten Erfahrungen schützt. Ich bin noch nie diskriminiert worden, zumindest nicht wissentlich, und schon gar nicht aufgrund von Rasse, Kultur oder nationaler Herkunft. Groß, schlank, weiß und gut gekleidet komme ich eigentlich überall auf der Welt locker durch – das ist zumindest meine bisherige Erfahrung. Noch nie bin ich vor Clubs an einem Türsteher gescheitert, noch nie wurde mir eine Mitgliedschaft verwehrt und selbst die Homeland Security der Vereinigten Staaten winkt gelangweilt ab. Der Gipfel an Diskriminierung in meinem Leben waren einige anti-deutsche Spitzen eines norwegischen Austauschschülers. Im wahrsten Wortsinn: ein Witz!

Was ich sonst eigentlich sehr begrüße und an diesem Land so schätze, erscheint mir in Fragen der Sensibilisierung für Diskriminierung wie ein Fluch: Es scheint uns, den deutschen Deutschen (also den porentief weißen Kindern deutscher Eltern und Enkeln deutscher Großeltern), unmöglich, nicht auf der Sonnenseite der Welt zu stehen – es sei denn, wir begäben uns willentlich und wissentlich in Armut und Gesetzlosigkeit, aber das hat dann nichts mit Diskriminierung zu tun, sondern allein mit Dummheit und Erfahrungssucht.

Ist es nun Sophisterei zu sagen, dass ich durch offensichtliche Undiskriminierbarkeit gleich doppelt diskriminiert bin? Der Satz „Auch ich möchte mich irgendwann mal diskriminiert fühlen“, mit dem die erste Fassung dieses Eintrags begann, geht zwar gewiss zu weit, er beinhaltet jedoch einen Kern, der mir gerade angesichts der zurzeit in Deutschland tobenden Debatte über die Integration muslimischer Einwanderer entscheidend erscheint: Wie soll der durchschnittliche „Herkunftsdeutsche“, wie das jetzt schon von einigen genannt wird, ermessen, was es bedeutet, aufgrund von Herkunft, Kultur und Hautfarbe diskriminiert zu werden? Wie soll derjenige, der einer Leitkultur und einer Rasse angehört, die ihn weltweit vor Diskriminierung zu schützen scheint, die Situation derer ermessen, die zu eben dieser Kultur keinen Zugang finden oder schlimmer noch: denen der Zugang verwehrt wird?

Ohne die Erfahrung einer alltäglichen Diskriminierung kann ich nur ahnen, wie unverschämt es sich aus Sicht der Betroffenen anfühlen muss, wenn jetzt jene, die in diesem Land die Gruppe der muslimischen Migranten kollektiv diskriminieren, auf einmal selbst von „Diskriminierung“ sprechen, wenn sie – nicht zuletzt aus den Reihen dieser Migrantinnen und Migranten – scharfe Gegenrede erfahren. Die Erfahrung einer wirklichen Diskriminierung aufgrund von Religion, Kultur und Hautfarbe, von allen Bewohnern des Landes geteilt, würde die Kultur der Zuspitzung, des Tabubruchs, des „Man wird ja nochmal sagen dürfen …“ im Keim ersticken.

Bis es so weit ist (und es kann nie dazu kommen, das wäre ja paradox), wird man ja wohl nochmal sagen dürfen, dass die bürgerlichen „Herkunftsdeutschen“ nichtsahnende Weicheier sind, denen es nur gut täte, selbst mal irgendwo eine diskriminierte und – und das wären diese Leute (wir) bei ihrer ganzen kulturellen Hybris gewiss – eine schwer zu integrierende Minderheit zu sein.

]]>
Nicht-Orte und Neues aus Deutschland http://superdemokraticos.com/themen/burger/nicht-orte-und-neues-aus-deutschland/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/nicht-orte-und-neues-aus-deutschland/#comments Mon, 23 Aug 2010 15:34:08 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=901 Zum ersten Mal seit überhaupt haben mich Freunde in Argentinien in letzter Zeit darauf angesprochen, was in Deutschland los sei und dabei gelächelt: „Na, werdet ihr jetzt Bananenrepublik?“

In den letzten Jahren hatte sich hier niemand so richtig für innerdeutsche Probleme interessiert, warum auch. Wenn etwa Berichte über die Wirtschaftskrise in Deutschland kamen, wurden sie A) nicht ernst genommen oder B) belächelt („na, seht ihr, so fühlt sich das an!“). Auch ich selbst nehme mich da nicht aus. Zu oft musste ich mir arrogante Bemerkungen anhören, wenn ich aus Südamerika berichtete: „Tststs, was da nicht alles los ist, in diesen Ländern, da unten im Süden.“ Immer mit dem Unterton: „UNS könnte so was ja nicht passieren.“

Jetzt sammeln meine Freunde plötzlich Zeitungssausschnitte und bringen sie mir mit: Ein Präsident tritt beleidigt zurück. Ein Tintenfisch als Zukunftsorakel. Der Euro in Gefahr. Korruptionsskandale um Ferrostaal und Siemens. Man kann Demonstranten mieten und Führerscheine kaufen. Das Unglück in Duisburg bei der Loveparade – Veranstalter verkalkulieren sich um ein paar Hunderttausend Gäste, Menschen werden tot getrampelt. Deutschland klaute einst die Nofretete und will sie behalten. Über 30 Jahre alte Atom-Reaktoren dürfen weiter laufen (obwohl sich vermutlich 98% der Deutschen weigern würden, ein 30 Jahre altes Auto zu fahren, weil es keinen Airbag hat).

„Na, was ist das los in Deutschland?“ fragen meine Freunde amüsiert. Ich muss sie enttäuschen. Deutschland wird niemals eine Bananenrepublik. Eine Bananenrepublik liegt im Süden, ist voll von exotischer Schönheit, ein bisschen korrupt und wenig ernsthaft. Deutschland wird nie im Süden liegen und das mit der Exotik, das kriegen wir nicht hin.

Welcher Aspekt dominiert mein Leben? Mir fallen viele Antworten ein, doch ein Aspekt ist allen gemein: Die Abwesenheit. Wie ein Pop-up, das man dann wieder wegklickt, tauche ich im Leben meiner Freunde in Deutschland und auch in Argentinien auf. Wann bin ich schonmal länger als drei Wochen am gleichen Ort? Wenn ich nach Buenos Aires zurückkehre von einer Recherche, bin ich oft da und nicht da. Ich sperre mich dort ein, zum Arbeiten, gehe nicht ans Telefon. Ich bin so frei wie ich es mir nie hätte träumen lassen. Und doch gefangen von der ständigen Abwesenheit die das unmöglich macht, was das Leben ausmacht: Momente mit anderen zu teilen. Gute und schlechte. Die Abwesenheit hat Freundschaften zerstört, eine Liebe. Es ist eine Klage, die viele nicht verstehen, denn ich führe ein Leben, das sie gerne hätten (ich wollte es auch und manchmal kann ich gar nicht glauben, dass dieses Leben meins ist). Aber sie vergessen, dass es ein Lebensentwurf ist, der nur ein unzertrennliches Paar zulässt: einen Mensch und seinen Laptop.

Die Abwesenheit hat mich fest im Griff, das Hub des fehlenden Alltags sind Nicht-Orte wie Flughäfen. Dort schalte ich auf Stand-by und lasse beide Gefühle zu, die ein unstetes Leben auslöst: Hochgefühl und Melancholie.

]]>
http://superdemokraticos.com/themen/burger/nicht-orte-und-neues-aus-deutschland/feed/ 2
Wie Wolf Biermann neulich meine Intimsphäre tangierte http://superdemokraticos.com/themen/koerper/wie-wolf-biermann-neulich-meine-intimsphare-tangierte/ Mon, 02 Aug 2010 13:39:58 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=563 Bei Begriffen und Fragen, die einfach klingen, es aber nicht sind, empfiehlt es sich, Gegensatzpaare zu bilden, dachte ich neulich, nach dem zweiten schlechten Text über die Geschichte meines Landes. Man könnte die Frage „Was ist für dich Intimität?“ also am besten erst einmal durch die Beantwortung der Frage „Was ist für dich nicht Intimität?“ beantworten. Bei so was fallen einem ja immer reichlich Dinge ein, nicht-intim ist ja quasi alles, was groß, öffentlich und unvertraut ist: Das Unintimste, was mir in meinem Leben untergekommen ist, war im Alter von neun Jahren der Fährhafen von Calais, nachts, im April. Jeder, der in diesem Alter und zu dieser Tages- und Jahreszeit – übermüdet und mit einem vergleichbar empfindsamen deutschen Bürgerkindergemüt – schon einmal dort war und im harten Licht gelber Dampflampen die ersten schlafenden Obdachlosen seines Lebens gesehen hat, kann sich jetzt meinen Begriff von Nicht-Intimität vorstellen. Für alle anderen rede ich noch ein bisschen weiter.

Also, abgesehen davon, dass große Menschenmassen, Institutionsgebäude, Warenhausketten und dergleichen mehr bestimmt nicht intim sind, würde ich so weit gehen, zu sagen, dass Intimität für mich nicht ohne ein gewisses Maß an gewachsener Vertrautheit möglich ist. Es mag Menschen geben, die Intimität überall verspüren können, wo sie wohlig mit einem kleinen Personenkreis oder einer einzelnen Person oder nur sich selbst zusammen sind. Ich würde in Anspruch nehmen, dass ich die umgebenden Personen, zumindest die Schlüsselpersonen, schon seit geraumer Zeit kennen muss, der Ort mir bis weit über die nächste Wegkreuzung hinaus vertraut ist und das Beisammensein eine Form hat, die ich ebenfalls seit geraumer Zeit praktiziere. Intimität setzt für mich ein hohes Maß an Sich-Auskennen an einem Ort, mit einer Gruppe Menschen und mir selbst voraus.

So weit, Intimität und Interkulturalität ein Gegensatzpaar zu nennen, würde ich zwar nach einigem Nachdenken nicht gehen (zumindest nicht nüchtern und öffentlich), aber dass zum Beispiel dieses Blog hier für mich das Gegenteil von Intimität ist, das kommt mir eigentlich – angesichts meines bis an die Grenzen des Wahnsinns engen Intimitätsbegriffs – nur folgerichtig vor. Man spricht in einen Raum und weiß noch weniger als anderswo im Netz (wo die eigenen Texte nicht gleich übersetzt werden und man es nur mit Lesern des eigenen Sprach- und Kulturraums zu tun bekommt), was aus dem Gesprochenen in diesem Raum wird. Immerhin kennen nur die wenigsten der hier Anwesenden die Haltung, aus der gesprochen wird, die zugrunde liegende (Pop-)Kultur, das Trauma, die Gesellschaft, die Schicht, die Landschaft (momentan deutsche Ostseeküste, zum Sterben schön, für mich). Damit wir uns nicht missverstehen: Das hier ist alles unsagbar aufregend, gut und richtig, aber eben nicht intim (wie auch, im Netz?).

Intimität braucht also eine kulturelle Vertrautheit, darüber hinaus eine gewisse Routine, einen Ritualcharakter. Bevor eine Situation wirklich intim sein kann, muss sie es für mich zuvor über Jahre nicht gewesen sein, beziehungsweise auf eine Art intim, die andere Leute vielleicht „intim“ nennen würden, die für mich aber nur unter „potentiell intim“ fällt. Potentiell intim sind Situationen, in denen man plötzliche Glücksgefühle empfindet, in denen das Herz hüpft vor Vertrauen und beginnender Vertrautheit und man denkt: „Wow, mit diesen Menschen, jetzt und hier, da könnte ich ja beinahe intim werden!“ Junge Freundschaft ist immer potentiell intim – speziell der Moment, in dem man aufgeregt ist, weil man merkt, dass es auch ohne die Aufgeregtheit funktionieren würde.

In wahrhaft intimen Situationen ist keiner aufgeregt. Da hüpft kein Herz, wir fühlen uns nicht federleicht und von allen Sorgen befreit, sondern relativ normal. Wie man sich eben fühlt, wenn man mit vertrauten Menschen Vertrautes tut: wie ein vertrautes Möbelstück in vertrauter Umgebung. Die Skala von „Fährhafen Calais, nachts“ bis „absolut intim“ abschreitend gelange ich in unmittelbarer Nähe zu „absolut intim“ zum „Gasthaus Gintoft“, einem Landgasthof an der westdeutschen Ostseeküste, wo ich seit 20 Jahren mit meinen Eltern, Freunden meiner Eltern und Kindern von Freunden meiner Eltern Sommerurlaub mache. Bei den annähernd uralten Wirtsleuten Erika und Uwe Jessen bin ich unaufgeregt vertraut in meinen Ritualen, gewöhnt an die Umsitzenden und das Geschehen im Schankraum, „eingesessen“, wie man zu sagen pflegt.

Gestern Abend prallte ich nun just an diesem magischen Ort auf dem Weg zur Toilette mit Wolf Biermann zusammen, jenem in Deutschland weltberühmten DDR-Dissidenten und Liedermacher, der 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde – aber das ist eine andere Geschichte, ebenso, dass er schon seit einigen Jahren ein Haus in der Gegend besitzt, wie im Anschluss schnell herauszufinden war. Worauf ich hier nur hinaus will und warum ich angesichts der jüngsten Ereignisse über das Gasthaus schreibe und nicht etwa über den Mutterleib oder die Segnungen einer Zweierbeziehung – allesamt ebenfalls gewiss gute Intimitätsmetaphern: Intimität ist nicht Zeitgeschichte! Intimität ist zeitlos, aus der Welt gefallen, utopisch. Im Gegensatz zum Zeitgeschehen ist Intimität gnadenlos privat, völlig unspektakulär und – vor allem anderen – nicht der Rede wert. Von und in intimen Situationen kann man schweigen, sie gehen keinen was an.

Deshalb ist der Einbruch von Ereignissen in die Intimität – und sei es auch nur durch die überraschende körperliche Präsenz gealterter Protagonisten einer über 30 Jahre vergangenen Zeitgeschichte – eine Monstrosität.

]]>
Die Internationalmannschaft http://superdemokraticos.com/editorial/die-internationalmannschaft/ http://superdemokraticos.com/editorial/die-internationalmannschaft/#comments Sun, 11 Jul 2010 22:31:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=449 Sorry, Jungs, sorry, Mädels, ich muss, solange es noch geht, ein bisschen über Fußball schreiben. Seit der letzten WM 2006, die in Deutschland stattfand und mit dem Slogan „Zu Gast bei Freunden“ beworben wurde, wundert sich nämlich bei uns niemand mehr über öffentlich zur Schau gestellte Deutschlandflaggen. Was 2006 noch überraschte, ist bei der WM 2010 Normalität geworden. Die überpräsente National-Beschmückung führt dazu, dass ich mich täglich mit Deutschland und mit meiner Rolle als so genannte Deutsche (Pass) beschäftige. Beschäftigen muss. Und das ist mir immer etwas unangenehm. Denn wie deutsch bin ich, wenn ich meine erste eigene Wohnung als Aupairmädchen in Frankreich bezog, meine erste totale Sonnenfinsternis in London sah, meine erste Vollnarkose in Ungarn erlebte, zum ersten Mal in Bolivien in einem glasklaren Fluss schwamm?

Als ich zur Schule ging und studierte, in den 80ern und 90ern, konnte ich die Fahnen, die ich in meinem Leben gesehen hatte, an einer Hand abzählen. Es gab sie einfach nicht. Es gab im Lexikon den Eintrag „Flagge“, neben allen Flaggen der Welt, aber sie wurde nicht aus ihrer Kiste geholt. Sie war ein abstraktes Staatssymbol. Manchmal hing sie an öffentlichen Gebäuden, auf Halbmast, bei Todesfällen internationalen Ausmaßes, oder am Masttop in EU-Kontexten. Wenn wir mit der Familie Urlaub in Dänemark machten, flatterte dort vor allen Holzhäuschen die dänische Flagge. Ich dachte: Unsere Flagge ist einfach hässlich, die dänische ist viel schöner. Bin ich also Dänin?

Und nun: Autos, Fenster, Balkons, Vorgärten, Vuvuzelas, ja sogar Körperteile (Arme, Beine, Wangen) sind beflaggt. Neulich sah ich, wie eine dicke Frau im Tigerprint-Kleid auf die solariumsbraune Glatze ihres Mannes ein Flaggentattoo auftupfte. Eine Glatze in Schwarz-Rot-Gold… Ich bin verwirrt: Woher kommt diese neue Flaggenliebe der Deutschen? Warum ist die ehemalige Verdruckstheit weg („Ich kann nicht stolz auf mein Land sein, nach all dem, was passiert ist“, das 6-Millionen-Argument, von dem auch Jo Schneider in seinem Essay spricht; die historische Verantwortung, die man als Deutsche/r mit sich trägt)? Warum male sogar ich mir eine Flagge auf den Arm? Sind wir alle geschichtsvergessen geworden?

[See image gallery at superdemokraticos.com]

Die neue deutsche Fankultur hat vielleicht mit einer gemeinsamen, kollektiven Freude zu tun, weil Sommer ist, weil wir draußen auf der Straße zusammen herumschreien und -tröten, weil es Spaß macht, sich mit etwas zu identifizieren, weniger mit einem Nationalgefühl als mit Sportsmanship und mit flotten Männern (Yes, Ladies!). Weil die Nationalmannschaft zu einer Internationalmannschaft geworden ist, mit Spielern wie Mesut Özil, Boateng und Piotr Trochowski mit migrantischen Wurzeln, die jung sind, nach anderen Regeln spielen, nicht mehr hierarchisch aufgestellt sind, irgendwie nicht-deutsch wirken (wenn Biertrinken, Schwermut, Autoritätsgehorsam als „deutsch“ gelten). Weil sie jetzt niederländisch spielen – das sagen zumindest die Zeitungen.

Gleichzeitig werde ich wohl nie davon wegkommen, das Flaggen-Meer als irgendwie gefährlich einzuschätzen. Nationale Symbole tragen diese Ambivalenz in sich, diese Drohung, von der auch Gabriel Calderón spricht: „Die Geschichte / Immer zur Stelle, um in jedem Moment wieder aufzutauchen / Um mit aller Wucht in der Gegenwart einzuschlagen.“ Leider mischen sich nämlich vermehrt auch Neonazis unter die johlenden Fußballmassen.

Noch ambivalenter ist im Übrigen die deutsche Nationalhymne, die neuerdings auch wieder deutlich und öffentlich mitgesungen wird: Die Melodie stammt aus der Feder des österreichischen Komponisten Joseph Haydn. Er komponierte sie in Wien als Grundlage für die habsburgerische Kaiserhymne, basierend auf einem kroatischen Volkslied. Den Text hat der deutsche Dichter Heinrich von Fallersleben 1841 als „Deutschlandlied“ auf der damals britischen Insel Helgoland verfasst, und er handelt unter anderem von den Außengrenzen des im 19. Jahrhundert sehr uneinheitlichen deutschen Reiches, um die innere Zerrissenheit zu überspielen. Diese Insel in der Nordsee, die Deutschland nach dem ersten Weltkrieg gegen die Kolonie Sansibar tauschte, diente im Zweiten Weltkrieg als nördlichster U-Boothafen der Nationalsozialisten. Die Militärs durchlöcherten die Insel wie einen Schweizer Käse mit unterirdischen Bunkergängen, welche am Ende des Krieges in die Luft gesprengt wurden. Eine Hälfte der Insel brach ab und versank im Meer. Heute ist Helgoland ein Mekka für Birdwatcher (Trottellummen). Und gesungen wird nur noch die dritte Strophe – in der keine Grenzen vorkommen.

Ja, es geht um Details, wenn wir über Geschichte sprechen, allgemeingültige Symbole (Flaggen, Monumente) kann es eigentlich nicht geben. Ich glaube immer mehr, das wir nur Vorübergehende in der Gegenwart sind weniger als von der Vergangenheit bestimmte Existenzen; wir sind Passanten der Geschichte, Passanten in der Geschichte, mikroskopisch klein (wie Lena Zuñiga sagt), aber jeder an seinem Ort wichtig. Wo wir morgen sein werden, in welcher Geschichte, hängt von uns ab. Nicht von einer Flagge.

]]>
http://superdemokraticos.com/editorial/die-internationalmannschaft/feed/ 3