Demokratie – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Eine Clownsdemokratie … http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/eine-clownsdemokratie/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/eine-clownsdemokratie/#comments Wed, 29 Dec 2010 13:40:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3466

Privates Familienfoto, während des Chaco-Krieges, Bolivien.

„Ich respektiere ihn wohl, es ist schade, dass ich ihn nicht auch gern haben kann.“

– denken sicherlich viele Vertreter der sogenannten lateinamerikanischen Boom-Literatur über Jorge Luis Borges.

Ich war in Bolivien, als Mario Vargas Llosa der Nobelpreis verliehen wurde. Am selben Tag begann ich mit diesem Artikel für die Superdemokraticos. Ich wollte schildern, wie ich mein Land sah und erlebte, nachdem ich fast zwei Jahre nicht mehr seine Straßen entlang gelaufen war. Es ist mir schon immer schwer gefallen, den Fokus eines Textes zu verlagern und eigentlich wollte ich über meine Großmutter schreiben. Ich reagiere langsam; was soll ich machen, die Welt überrascht mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich erleben würde, dass Vargas Llosa den Nobelpreis erhält – Borges hat ihn wegen ähnlicher Ideen nicht bekommen. Außerdem sind 20 Jahre vergangen, seitdem ein Lateinamerikaner diese Auszeichnung gewonnen hat, und es ist sicherlich das erste Mal, dass Bolivien in einem solchen Festakt Erwähnung findet. Und obwohl dieser Text schon seit mehreren Tagen fertig sein sollte, bin ich sicher, dass sich diese Denkpause gelohnt hat. Auch ich trage Bolivien tief in meinem Herzen, und es fällt mir schwer, es heraus zu kehren und zur Schau zur stellen.

In den letzten Jahren, und vor allem zu Beginn des Wandels – wie die Amtszeit von Boliviens Präsident Evo Morales genannt werden wird – habe ich wie viele andere auch den revolutionären Prozess, der in meinem Land statt findet, offen unterstützt. Viele der Vorschläge und Slogans von Morales waren richtig, sind richtig, die Anerkennung unserer indigenen Völker und der Pluralität unserer Bevölkerung im Parlament sind fundamental, und ich empfand es als Zeichen der Reife des Wahlvolkes, dass dieser Wandel durch eine Wahl ermöglicht wurde. So wie Vargas Llosa denke ich, dass die Demokratie die beste Form des Zusammenlebens ist, weil sie auf dem freien Spiel der Bürger, der Individuen fußt und nicht auf hohlen nationalistischen Diskursen. In Bolivien laufen die Dinge nicht gut.

Damit eine Regierung demokratisch genannt werden kann, muss sie jenseits wohlmeinender Absichtserklärungen nicht nur die Stimme der Wähler respektieren, sondern auch die Gesetze, die das Zusammenleben ermöglichen. Durch das Machtvakuum in der Gerichtsbarkeit des „Plurinationalen Staates Bolivien“ – wie wir heute heißen – entstand ein Chaos, und der Machtmissbrauch der Exekutive ist so augenscheinlich, dass wir wahrlich von Angst innerhalb der Bevölkerung reden können. Unser Parlament – praktisch ohne Oppositionspartei in seinen Reihen – erlässt Tag für Tag Gesetze, als wären diese churros (heißes Spritzgebäck, Anm.d.Ü.) Es sind ambivalente Gesetze, die in vieler Hinsicht gegen unsere bestehenden Gesetzbücher verstoßen und gegen die kein Widerspruch eingelegt werden kann, da wir kein Verfassungsgericht haben, das diesen Namen verdienen würde.

Es gibt auch die scheinheiligen Gesetze. Das vom bolivianischen Präsidenten auf dem Klimagipfel in Cancún vorgestellte Gesetzespaket, welches angeblich die Pachamama und die indigenen Völkern schützen und verteidigen soll, ist nicht mit dem weiterhin von den Menschen in meinem Land geteilten Fortschrittsdenken vereinbar. Eine Idee des Fortschritts, die die Pluralität von Weltsichten nicht respektiert, ist noch in der kolonialen Logik verhaftet. Auch ist mir klar, dass das Prinzip der Plurinationalität, mit dem der Präsident all seine Amtshandlungen rechtfertigt, vielleicht die nicht andine, indigene Bevölkerung weitaus schutzloser zurück lässt, als sie es in den letzten 20 Jahren der demokratischen Herrschaft gewesen ist. Vielleicht ist dafür das neu gebaute Wasserkraftwerk in Argentinien das eindringlichste Beispiel. Durch dieses verlieren ganze Dörfer im bolivianischen Chaco-Gebiet ihre Existenzgrundlage, ohne dass sie dagegen juristisch vorgehen könnten. Die bolivianische Regierung plant ein ähnliches Kraftwerk im Amazonasbecken, von unseren Atomenergieplänen in Zusammenarbeit mit dem Iran ganz zu schweigen.

Die Opposition wird verfolgt. 2010 hat Evo Morales die „Verrechtlichung der Politik“ auf die Spitze getrieben, sowohl in seiner Gangart gegen die „korrupten Oppositionellen“ als auch gegen neue Führungspersönlichkeiten und mögliche Anwärter auf das Präsidentenamt bei den Wahlen 2014. Der Prozess gegen Luis Revilla, der junge Bürgermeister von La Paz und einer der anerkanntesten Köpfe der Partei Movimiento sin Miedo (Bewegung ohne Angst) – derzeit die einzige linke und demokratische Partei, die diesen Adjektiven würdig ist – ist schlicht und ergreifend beschämend. Von dem institutionalisierten Machismo, dem Drogenhandel und Schwarzmarktgeschäften ganz zu schweigen. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, so wie ihn Präsident Morales interpretiert, wirft mein Land, was die bürgerlichen Rechte der Gesamtbevölkerung angeht, zurück ins 19. Jahrhundert.

Ich stimme mit Vargas Llosa überein, dass die Demokratie in meinem Land genauso oder mehr noch eine Farce ist wie ihre Vorgängerinnen, mit dem Unterschied, dass die amtierende Regierung mit allen Mitteln die Meinungsfreiheit zu unterbinden versucht. Das neue Antidiskriminierungsgesetz ist, abgesehen von seinem politisch korrekten Namen, ist ein infamer Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die Antworten der Regierungsmitglieder auf Vargas Llosas Rede sind meines Erachtens ein klares Beispiel für den Zustand der Regierung. Sie zeigen, dass Evo Morales weder der Presse zuhört noch Zeitungen liest, sondern allein auf die Kritiken seiner Person reagiert. Seine tendenziösen Aussagen über den angeblichen Rassismus gegen die indigene Bevölkerung der Region sind lachhaft. Um so mehr, wenn man bedenkt, dass zum erste Mal ein kreolischer lateinamerikanischer Schriftsteller im Namen derjenigen, die wir so sind wie er, die Verantwortung für 200 Jahre Zurücksetzung und, in vielen Ländern, für die Ausrottung ganzer indigener Völker übernimmt. Die Verantwortlichen für das Geschehene sind unsere Großeltern – ich benutze die erste Person Plural, weil auch ich eine Kreolin und das heißt, schuldig bin, auch wenn ich es bevorzugen würde mich als andine Westlerin zu definieren, um so mit unserer despotischen Tradition zu brechen, ohne meinen kulturellen Wurzeln abzuschwören.

Ich bin sicher, dass der Plurinationale Staat Bolivien auch das Resultat der Arbeit von vielen Großeltern ist, die an die westlichen Werte der Aufklärung glaubten, und so wie Vargas Llosa denke ich, dass die Literatur eine viel wichtigere Funktion in unseren Gesellschaften hat, als die der Erziehung und der Unterhaltung. Ohne den Glauben daran, dass die Literatur für die Schaffung von individuellen Utopien und damit für die Ideenvielfalt auf innige Weise mit verantwortlich ist, gäbe es zunächst einmal weder Schriftsteller noch amerikanische Staaten. Auch das nehme ich aus Vargas Llosas Rede mit. Seine bequeme Haltung gegenüber dem neoliberalen Wirtschaftsmodell hätte ich stärker und besser kritisiert als Evo. Die Konsumfreiheit darf nicht die wichtigste Freiheit im Westen bleiben. Und es ist unehrlich, nur die aus dem Boden schießende Fanatiker zu kritisieren, ohne auch nur eine Sekunde bei den Berlusconis, Sarkozys und den anderen Clowns zu verweilen. Denn sie sind die wahrhaftigen Zirkusdompteure. Die ganze Barbarei unserer Kultur.

Übersetzung: Anne Becker

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Wenn ich glaube, dass ich gehe, komme ich gerade immer woanders an http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/wenn-ich-glaube-dass-ich-gehe-komme-ich-gerade-immer-woanders-an/ Tue, 12 Oct 2010 07:15:47 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2630 Dieser Text sollte ein Abschied sein. Aber viel mehr als an einen Abschied würde ich mir lieber vorstellen, dass das hier eine Türe ist, die sich öffnet, ein Anfang und eine glückliche Ankunft. Weil jede Abfahrt immer auch eine Rückkehr ist, und jede Erfahrung neue Möglichkeiten eröffnet. Ich denke, dass diese hier, die superdemokratische, sich nicht verabschieden muss. Sie muss sich entfalten, über ihre Grenzen hinauswachsen.

Von Anfang an gefiel mir der Vorschlag. Ich mag kollektive Arbeitsformen und vor allen Dingen die Schöpfung neuer Räume, die es vorher nicht gab, um kreative Äußerungen über die verschiedenen Auffassungen oder Formen, die die Demokratie annimmt, denken zu können. Es gefiel mir, tagtäglich Themen zu überdenken, es war eine Schreibübung, die nicht nur unterhaltsam war, sondern die mich auch über Dinge aus verschiedenen Perspektiven nachdenken ließ. Vorschläge und Erfahrungen zu lesen, die den meinen so verschieden sind, was immer eine Bereicherung ist.

Ich denke auch, dass es mir gefallen hätte, viel aktiver daran teil zu haben und möglicherweise möchte ich deshalb nicht, dass es aufhört. Ich fände es schön, wenn wir es als eine erste Etappe denken könnten und dass nun die nächste erbaut werden muss.

Ich erinnere mich, dass es vor ungefähr einem Monat die Möglichkeit gab, das Blog hier in Buenos Aires zu präsentieren. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich in einer schwierigen Situation und konnte mich nicht mit meinen Co-Bloggern vereinigen, aber ich glaube, jetzt wäre es eine schöne gemeinsame Zeit… Es ist Frühling! Die Bäume blühen, das Grün des Grases bricht zwischen dem Grau des Asphalts hervor. Die Menschen sind fröhlich und die Vögelchen singen.

Und dann frage ich: Tun wir es? Vielleicht mit Agustín, meinem argentinischen Kollegen, und vielleicht hat auch irgendwer anderes darüber nachgedacht, Buenos Aires zu besuchen, hat Lust, sich zu uns zu gesellen… Was sagen Rery und Nikola dazu?

Und eine zweite Möglichkeit, um alle miteinander zu plaudern… wir könnten die Präsentationen reihum durch jedes der Länder rotieren lassen, in denen wir Autoren, die teilnehmen, leben… und wenn nicht… Freunde, Gefährten, wie Gustavo Adolfo Bécquer sagte… Möchtet ihr, dass wir eine süße Erinnerung dieser Liebe bewahren? Dann lieben wir uns heute und morgen sehr. Sagen wir uns Lebewohl!

Aber nein, ich werde mich von niemandem verabschieden, ich werde euch nur sagen, dass es mir ein Vergnügen war, mit euch zu arbeiten, mit euch allen, Autoren, Rery, Nikola, Marcela und all den Menschen, die dazu beigetragen haben, dass das hier hinaus ins Netz geht, danke an alle.

Und bevor ich gehe, schicke ich euch einige Links, die ich schon vor längerer Zeit mit den Superdemokraten teilen wollte, einige Dinge, die hier vor sich gehen… hört den Bands zu, es ist beeindruckend, sie live zu sehen!

Paula Maffia / Lucy Patané und Kompanie
http://www.myspace.com/paulamaffiaylacosamostra
http://www.myspace.com/lastaradas

Hier noch die Fotografien von Natacha Ebers, die mit einer Lochkamera fotografiert und außerdem über eine eindrucksvolle Bilddatenbank verfügt, die das geschäftige Treiben der neuen Bands und Musikgruppen, die durch diese Stadt wandern, aufzeichnet: http://www.flickr.com/photos/natachaebers/

Und ich verabschiede mich nicht, weil immer, wenn ich glaube, dass ich gehe, ich gerade immer woanders ankomme.

noch ist nicht jetzt
jetzt ist niemals

noch ist nicht jetzt
jetzt und immer
ist niemals

A. Pizarnik

Übersetzung: Marcela Knapp

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Ich habe mir die Haare nicht entfernt http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/ich-habe-mir-die-haare-nicht-entfernt/ Mon, 11 Oct 2010 21:25:43 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2887

Pedro Mairal wurde 1970 in Buenos Aires geboren, seine Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt und in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland herausgegeben worden. 2007 wurde er von der Jury der Bogota39 zu einem der besten, jungen Schriftsteller Lateinamerikas erklärt. Er sprach über Argentinien, die Buchmesse und politisches Positionieren:

Wie Borges schon sagte: Man ist leider unvermeidlich Argentinier. Man kann es nicht vermeiden, Argentinier zu sein, man kann es nicht vermeiden, Lateinamerikaner zu sein. Man kann es nicht vermeiden, für die Europäer exotisch zu wirken. Man kann weder versuchen, noch kann man vermeiden, es zu sein. Mich interessiert sehr, wie die Politik und die Geschichte in der Intimität widerhallen, wie sie im Bewusstsein, im Körper widerhallen.

Mich interessiert Politik, wenn die gefällten Entscheidungen schlussendlich im Körper von irgendjemand Wirkung zeigen. Es gibt beispielsweise eine Erzählung über eine Frau, die gefoltert wurde. Sie wurde in den Keller gebracht, in einen Kerker geworfen und angewiesen, sich nackt auszuziehen. Sie wusste, dass sie gefoltert werden würde, aber das erste, an das sie dachte, als zu ihr gesagt wurde, sie solle sich ausziehen, war: Ich hab mir die Haare nicht entfernt. Diese kleine Windung des Gedankens, dieser Moment der Intimität, in dem der Scham größer ist, als alles andere, das ist der Moment, in dem für mich die Prosa eintreten soll. Nicht in der Makro-, sondern in der Mikro-Politik. In jener Intimität, da, wo die politischen Entscheidungen schlussendlich im Bewusstsein, im Körper widerhallen, und eine persönliche Verzweiflung hervorrufen. Ich versuche immer zu vermeiden, mich politisch zu positionieren. Das passt am besten zu meinem Wesen. Ich habe keine klare politische Einstellung. Das hängt ziemlich von der Laune ab, mit der ich morgens aufstehe, außerdem fühle ich mich durch keine der derzeitig in Argentinien existierenden politischen Parteien tatsächlich vertreten. Demnach fühle ich mich politisch ziemlich frustriert.

Ich bin mit der persönlichen Freiheit der Demokratie aufgewachsen, das ist die Kultur, die mich prägte. Die Gefahr, in der unsere Generation sich befindet, ist, dass wir sie als selbstverständlich ansehen. Aber wir sollen nicht vergessen, dass es etwas ist, das man erreicht hat, etwas, zu dessen Erhaltung man beigetragen hat, und in diesem Punkt glaube ich schon, dass ich eine persönliche Verantwortung habe, die darin besteht, für das Thema zu sensibilisieren.

Ich habe nur zwei Hallen von der Messe gesehen. Mir kommt es vor, als wären es mehrere Messen zusammen, es ist monströs, riesig, unüberschaubar. Ich war noch nie auf einer so großen Buchmesse. Ich versuche, alles zu sehen, was ich schaffe, aber ich weiß, dass es unmöglich ist, alles zu sehen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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„Weder bin ich ein Star, noch seid ihr nur das Publikum“: Interviews mit Fabián Casas http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/espanol-ni-soy-una-estrella-ni-vos-sos-solo-el-publico-entrevista-con-fabian-casas/ Mon, 11 Oct 2010 12:54:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2835

Fabián Casas wurde 1965 in Buenos Aires geboren. Er avancierte zu einem Vorbild der neuen Schriftstellergeneration für sein Land und für ganz Lateinamerika. 2007 wurde er in Deutschland mit dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Auf der Frankfurter Buchmesse stellte Casas seinen Gedichtband Mitten in der Nacht und seine zwei Erzählungen Lob der Trägheit gefolgt von Die Panikveteranen vor. Zwei Interviews.

Wie definierst du einen Intellektuellen?

Jeder Mensch, der mit Ideen arbeitet, ist ein Intellektueller. Mir gefällt es, wenn es Überschneidungen zwischen den Dingen gibt, dass die Menschen, die mit Ideen arbeiten, mit dem Leben verbunden sind. In diesem Sinne sind die Intellektuellen, für die ich mich interessiere, Menschen, die mit dem Leben arbeiten. Schopenhauer sagte einmal, dass man einer Philosophie, bei der man nicht das Zähneknirschen zwischen den Seiten hört, nicht vertrauen kann. Und ich denke, er hat recht. Hegel, um bei den Deutschen zu bleiben, erscheint mir dagegen viel verkopfter und wenig lebhaft. In der Zeit, in der sie unterrichtet haben, war der Hörsaal von Hegel voll, der von Schopenhauer hingegen leer. Ich glaube, das lag daran, dass Schopenhauer die Dinge sagte, die niemand hören wollte.

Ein Rat für junge Intellektuelle?

Ich denke, wenn eine Person aus Lateinamerika ihre Ideen verbreiten, schreiben will oder ihre Fähigkeit der Wahrnehmung ausdrücken will, muss sie diese Dinge schnell machen. Man muss Liebe für sein Schicksal empfinden, darf nicht denken, dass das Leben einem etwas schuldet, sondern den Stier bei den Hörnern packen und etwas machen, die technischen Hilfsmittel schaffen, mit denen man sich Gehör verschaffen kann. Man muss begreifen, dass die Literatur nicht etwas Individuelles, sondern etwas Kollektives ist, du muss dich mit anderen Menschen zusammentun, damit deine Botschaft ankommt. Denn genau diese Zusammenarbeit mit anderen führt dazu, dass man sich von seiner eigenen Botschaft, von seinem Ego entfernt, und das macht alles viel interessanter, weil es wie eine fremde Stimme zurückkommt.

Du schreibst Lyrik und Prosa, aber auch Essays. Was ist für dich das Besondere an diesem Format?

In meinem Fall sind die Essays eine Möglichkeit für Experimente. Der Versuch, bestimmte Gedankengänge auszugrenzen und die Möglichkeit zu akzeptieren, dass in einem Essay antagonistische Ideen nebeneinander existieren können, eine Idee in parallelen Gedankengängen zu suchen, die gleichzeitig gegenteilige Dinge aussagen können. Das ist eine Art anzuerkennen, dass man Fehler macht, dass man sich irrt und dass man es erneut versuchen kann, eine Idee, einen Satz herumschweifen zu lassen, ohne den Druck, einen abschließenden Punkt setzen zu müssen. Man muss diese Idee, Endpunkte an Dinge zu setzen, sie abzuschließen, aufgeben. Denn wenn man aufhört zu lernen, ist man tot.

Ich denke dabei nicht an „Denker“. Cesar Vallejo ist für mich ein außergewöhnlicher Poet. In vielen seiner Gedichte finden sich Reflektionen über die Gesellschaft, in der wir gerade leben und über die, in der er leben musste. Wenn ich lese, konzentriere ich mich nicht auf Essayisten, ich lese alles, verschiedenen Schriftsteller aus ihren entsprechenden Genren, die für mich ebenfalls Essayisten sind, sogar einige Musiker kommen mir wie Essayisten vor. In meinem Land gibt es eine echt interessante Bewegung von neuen Rockbands, an denen mir besonders gefällt, dass sie sich nicht ernst nehmen. Sie sind sehr cool und entspannt, und sie brachen mit dieser vorherrschenden Einstellung, die ich schrecklich finde, mit diesem: „Ich bin der Star und ihr seid das Publikum.“ Das sind Leute, die wissen, das sie es sind, die spielen, aber dass man auch von einem Moment auf den anderen auf der anderen Seite stehen kann. Sie geben sich gegenseitig etwas, Publikum und Band, ein komplettes Feedback. Das Label heißt Laptra und kommt aus La Plata, die haben mich animiert Musik zu hören, die haben mir gute Laune gemacht, die sind erfrischend.

Was bedeutet dir Demokratie?

Unter all den Systemen, die es geben könnte, interessiert mich am meisten die Demokratie. Es scheint mir das System zu sein, in dem man am besten leben kann. Betrachtet man seine Idealform, müsste es wohl ein Raum sein, in dem alle Menschen alle Möglichkeiten hätten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, man müsste nicht aufgrund von Unterdrückung und ähnlichen Dingen Entscheidungen treffen. Ich würde gern Demokratie wie einen idealen Raum denken, in dem es allen möglich ist, zu denken, eine Stimme zu haben und eine Stimme abgeben zu können, mit der man etwas bewirken kann.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Democracia = Demokratie? http://superdemokraticos.com/themen/burger/democracia-demokratie/ Tue, 05 Oct 2010 07:00:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2331 Wir schreiben seit ein paar Monaten in diesem Blog mit dem Titel „Los Superdemokraticos“. Aber: Bedeutet Demokratie für die deutschen und die lateinamerikanischen Autoren überhaupt über das Gleiche? Wenn doch schon der Begriff bei einem Kolombianer und einem Argentinier völlig unterschiedliche Assoziationen auslösen kann! „Die Rückkehr zur Demokratie“ ist für einen Argentinier ein Meilenstein, ein Aufatmen. „La seguridad democrática“ in Kolumbien ist ein Sicherheitskonzept der harten Hand, entworfen unter Ex-Präsident Alvaro Uribe.

Das beste ist immer, jemanden zu fragen, der Bescheid weiß. Roberto Gargarella zum Beispiel. Er ist Anwalt und Soziologe, Master in Political Sciences, hat zu verschiedenen Aspekten der Funktionsweise demokratischer Systeme gearbeitet. Er unterrrichtet in Buenos Aires an der Universidad Di Tella, war Gastprofessor in Spanien, Norwegen und Ungarn. Im November fliegt er nach Hamburg, um dort im Rahmen eines Seminars des GIGA-Instituts über Verfassungsänderungen in Lateinamerika zu sprechen.

Meinen Argentinier und Deutsche das Gleiche, wenn sie über „Demokratie“ sprechen?

Wir sprechen oft über völlig verschiedene Dinge, wenn wir einen Begriff definieren. Es kann zum Beispiel etwas völlig anderes bedeuten, wenn man sagt: „Ich bin links“, „Ich bin rechts“, „Ich bin Liberaler.“ In Argentinien ist ein Liberaler rechten Ideologien nah, sogar der letzten Diktatur, während der Liberalismus z.B. in den USA als fortschrittlich gilt, sich auf die Linke bezieht.

Welche Rolle hat der Staatschef in den beiden Ländern?

In Argentinien haben wir ein Präsidialsystem, das zu einem Hyper-Präsidialsystem geworden ist. Die Grundlage für die meisten lateinamerikanischen Verfassungen ist das nordamerikanische Modell, aber unsere Präsidenten haben verfassungsmäßig mehr Macht als in den USA. Ein argentinischer Präsident kann in die Politik der Provinzen eingreifen, den Ausnahmezustand erklären, durch diesen die Bürgerrechte einschränken, er kann nach Gutdünken Minister ernennen und absetzen. In parlamentarischen Systemen hat ein Präsident längst nicht so viele Vollmachten.

Deshalb steht die Figur des Präsidenten im Mittelpunkt, er ist der große Entscheider. Ich kritisiere das Hyper-Präsidialsystem, weil es ein großes Risiko gibt: Das System der Gewalten und Gegengewalten, kann durch eine sehr starke Exekutive gestört werden.

Wenn man den Statistiken glaubt, funktioniert die Demokratie in Deutschland besser als in Argentinien.

Wenn wir die Demokratie als ein System von Gewalten und Gegengewalten verstehen, mit freier Meinungsäußerung, regelmäßigen Wahlen, steht Argentinien im Vergleich schlechter da.

Wenn man aber näher hinschaut und auf die Kontrollmöglichkeiten achtet, die die Bürger gegenüber ihren Volksvertretern haben, funktionieren beide Modelle, das argentinische und das deutsche, nicht gut. Ich ziehe es vor, ein Demokratie kritisch zu beurteilen.

In einem Punkt liegt Argentinien übrigens vorne, es gibt eine große Beteiligung der Bürger in der Tagespolitik. Die Leute interessieren sich, handeln politisch, gehen auf die Straße, protestieren, und zwar mehr als in europäischen Ländern. Das ist meiner Meinung nach einer der interessantesten Züge, die die lateinamerikanische Politik vorzuweisen hat: Dass die Bürger sich für etwas einsetzen und versuchen, selbst politische Kontrolle auszuüben.

Trotzdem herrscht in Argentinien Wahlpflicht.

Das ist kein Problem, sondern eine Tugend unseres Systems. Eine freiwillige Stimmabgabe ist ein Risiko, vielleicht gehen die Leute nicht wählen, weil sie denken: „Meine Stimme zählt nicht viel, was macht sie schon aus, eine von 50 Millionen.“ Die Wahlpflicht ist ein kleiner Schubs, den der Staat gibt. Es heißt, dass Nichtwähler eine Strafe zahlen müssen, aber das wird nicht durchgezogen. Die Wahlpflicht ist ein wichtiger Anreiz, schließlich steht etwas Bedeutendes auf dem Spiel: „Wie definieren wir die politische Organisation in den nächsten Jahren?“

Das Vertrauen in die Institutionen ist gering. Wie schätzen Sie deren Leistung ein?

Es gibt eine Tradition der Staatsstreiche, aber das Militär hat nicht mehr viel Einfluss auf die Politik. Ich würde mir in Argentinien, und auch in anderen Ländern, mehr Sorgen um die Rolle der Polizei machen. Sie ist nach wie vor korrupt und in Verbrechen verwickelt. Die Justiz ist besser geworden. Es war lange üblich, dass eine Regierung versuchte, eine Mehrheit im Obersten Gericht zu erreichen. Deshalb variierte die Qualität und die Rechssprechung wechselte oft. Wir hatten liberale Gerichte, konservative, korrupte, und in diesem Moment ist das Oberste Gericht respektabel, mit guter akademischer Bildung, unabhängig.

Wieviel Einfluss hat die so genannte „fünfte Macht“?

Der Einfluss großer Unternehmen ist ein großes Defizit der Demokratie in Deutschland und in Argentinien. Bei uns kommt ein wirtschaftliches Ungleichgewicht dazu, das dafür sorgt, dass die Mächtigen noch mächtiger sind. Bis in die 70er und 80er Jahre war Argentinien sehr egalitär, mit der letzten Diktatur änderten sich diese Strukturen. Die Ungleichheit ist ein Problem, für das wir noch lange keine Lösung haben.

Wie frei ist die Presse?

Journalisten werden in Argentinien nicht verfolgt, es gibt oppositionelle Medien und keine direkte Zensur. Es gibt indirekte Zensur, vor allem in der Art und Weise, wie die Regierung Anzeigen von Staatsseite verteilt. Das sind enorme Summen, die nach Gutdünken vergeben werden. Abgesehen davon haben wir das gleiche Problem wie alle Länder mit ungleichen Stukturen: Es gibt Stimmen, die nicht gehört werden, weil sie nicht genug Macht oder Geld haben, an die Öffentlichkeit zu kommen. Das kann auch in Deutschland passieren, zum Beispiel müsste man überprüfen, ob die verschiedenen Einwanderergruppen Zugang zur öffentlichen Meinungsbildung haben.

Woher kommt die große Apathie in einigen Ländern?

In Europa hat die wachsende Apathie damit zu tun, dass die Leute merken, dass die Entscheider von Lobbygruppen beeinflusst sind. Die großen Unternehmen haben leichter Zugang zur Macht als die Bürger, der Einfluss der Interessensgruppen ist größer als der von hunderttausenden von Bürgern. Die Türen des Systems sind verschlossen, wenn die Menschen Druck machen. Aber die Systeme sind sensibel für den Druck von Machtgruppen, von Lobbyisten.

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Eine Finanzspritze http://superdemokraticos.com/editorial/eine-finanzspritze/ Sun, 03 Oct 2010 13:50:41 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2500

Oscar Seco, Apocalipse & Alternative Worlds, 2001

„Unsere Probleme sind die gleichen, wie man sie auf den Straßen von Mailand, Berlin oder New York einatmen kann.“ So lautet ein Satz im letzten Artikel von Javier Badani aus La Paz. Er passt sehr gut zum heutigen Tag, dem 3. Oktober. Heute wird in Deutschland die Wiedervereinigung gefeiert. Ich muss zugeben, dass es mich etwas beschämt, dieses Thema anzuschneiden. Ich bin Ausländerin, und meine Beziehung zur Wiedervereinigung hat sich mit den Jahren entwickelt, daher spreche ich in der ersten Person. Ich lebe seit 13 Jahren in Berlin oder in seiner Umgebung, und als ich 1997 in Potsdam ankam, war der Wiedervereinigungsprozess noch in vollem Gange. Wenn er jetzt vielleicht eines Tages vollendet ist: Was ist denn eigentlich eine Nation?

Die Rückgewinnung des historischen Gedächtnisse ist vielleicht eine der Gemeinsamkeiten unserer Generation, und diesbezüglich gibt es keine bessere Stadt: Berlin ist die Hauptstadt für die westlichen Wendekinder. Für die verwöhnten Kinder der existierenden Leere, nachdem physisch mit dem binären Denken gebrochen wurde. Seitdem ist der Kalte Krieg beendet. Diese Stadt ist voller autorefenzieller Denkmäler. Als ob der allegorische Sinn des Mauerfalls nicht vom „Marcha por la Vida“ (Marsch für das Leben) der bolivianischen Minenarbeiter, vom Sturz des letzten Dinosauriers Pinochet, vom Triumphzug des freien Marktes begleitet worden wäre. In Tarija, in Potsdam, in Buenos Aires und in München, auf der gesamten Welt. Mit den Jahren habe ich bemerkt, dass – jenseits der Toten, die in keinster Weise Diktaturen rechtfertigen – es genau das ist, was unsere Leben verändert hat (hier beziehe ich mich auf den Text von Agustín Calcagno). Die Finanzspritzen führten dazu, dass unsere Eltern ihre Richtung verloren haben, es hinderte sie daran, darüber nachzudenken, und vor allem hat sie der Glaube verlassen, dass sie auf eine andere Art und Weise den amerikanischen Traum erreichen könnten, diesen konsumistischen Traum, vom Tellerwäscher zum Millionär, der dann wahr wird, wenn man alles dafür tut. Auch das lässt sich daran wiedererkennen, wie die deutsche Wiedervereinigung ablief. Ein konkretes Beispiel ist, dass hier niemand mehr sicher weiß, was es eigentlich bedeutet, Sozialdemokrat oder Christdemokrat oder Grüner oder Liberaler zu sein. Berlin und alle anderen Städte vor den Wahlen sehen aus wie Las Vegas. Die wichtigen Entscheidungen sind ökonomischer Art, globalisiert, werden auf Kauderwelsch-Englisch getroffen und benötigen jetzt einen anderen Feind.

Wenn ich mit schlechter Laune aufwache, denke ich dasselbe wie Jo Schneider in seinem letzten Artikel, außer, dass mein Zuhause weit weg ist und ich mich damit tröste, dass ich glaube, dass dies die wiederkehrenden Gedanken der Mittelschicht sind, überall auf der Welt. Besonders das Auf- und Abflauen eines nationalen Pulses, das gilt jetzt für Deutschland, seit 1997, hat mich in einen Status versetzt, der „Nicht-EU-Bürger“ genannt wird. Wie fast alle meiner Mitbürger, egal, welchen legalen Status sie haben, habe ich viele Bürgerrechte in den vergangenen Jahren verloren. Und meine Frage lautet: Welche Rolle spielte dabei die Wiedervereinigung?

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Im Abschiednehmen war ich nie gut http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/im-abschiednehmen-war-ich-nie-gut/ Wed, 29 Sep 2010 15:00:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2325 Im Abschiednehmen war ich nie gut. Es ist nicht so, dass ich Abschiede nicht mögen würde, ich würde fast behaupten, dass sie mir egal sind. Ich werde mir einfach nie des Endes von etwas bewusst. Und nicht etwa, weil ich zu denjenigen Personen gehören würde, die sagen „man weiß nicht, was man hat, bis man es verliert“. Wenn ich mir dem Wert von etwas währenddessen nicht bewusst bin, würde ich wahrscheinlich den Moment des Verlustes nicht bemerken. Das ist kein Mangel an Zuneigung oder an Gefühlen. Es ist nur so, dass ich nicht an das Ende glaube. Die Welt von heute erlaubt keine Enden, noch nicht einmal der Tod ist ein Ende. Manchmal denke ich, dass ich zu der letzten Generation auf dieser Erde gehöre, dass wir geboren wurden, um das Ende dieser Welt zu erleben. Aber ich bezweifle auch, dass das dann das Ende wäre. Doch ich will nicht abschweifen, ich möchte hier von dem Abschluss dieses kostbaren gemeinsamen Schreibprozesses sprechen. Mich hat diese Übung des gemeinsamen Schreibens, in der man sich fremde Themen zu eigen macht, um sie interessant werden zu lassen, überzeugt, und sie hat mir viel Spaß bereitet. Mehr noch, es hat mir sehr gefallen zu sehen wie verschiedene Charaktere, Nationalitäten, Erlebnisweisen die selben Themen ihren Körpern-Herzen-Köpfen zuführten, wie ich sie gewissermaßen verdaute. Wir sollten uns ein Beispiel an dieser Erfahrung nehmen und sie in Tausenden von Formaten wiederholen. Schon kommen mir Projekte in den Kopf wie: Supereskritores (Superschriftsteller) –Superdeskonocidos (Superunbekannte) – Superfacebookeros (Superfacebookers) –Superkiudadanos (Superbürger) –Superkalifragilisticoespialidosos (Superkalifragilistikexpialigeten) und die Liste würde ewig weiter gehen. Tschüss, bis dann, man sieht sich, bis zum nächsten Mal, mach es gut, es gibt hunderte Art und Weisen sich zu verabschieden; die schönsten sind die, die bekräftigen, dass man sich wieder sehen, wieder treffen, lesen wird. Das sind ausführliche Abschiedszeilen, ein langer Abschiedszettel. Ich habe einen spanischen Freund, der sich immer sehr über eine Eigenschaft, von der er sagt, dass sie typisch für uns Uruguayer sei, wundert. Wir würden immer so lang für den Abschied brauchen, dass man denke, wir würden eigentlich gar nicht mehr gehen. Immer wenn jemand ankündigt aufzubrechen, wird dies etwa eine halbe Stunde vorher mit einem lakonischen „also gut, wir ziehen mal los“ angekündigt und dann verlängert sich das Abschiednehmen, das niemals konkret zu werden scheint, über etliche Minuten, bis die Person schließlich, nicht ohne sich mehrfach zu küssen und tschüss zu sagen, geht. Diese Zeilen sind ein langer Abschied mit mehreren Küssen und mehrfachem Tschüssrufen. Und ich betone noch einmal, dass ich tschüss sage, wie man hallo sagt, als würde ich mir selbst nicht ganz glauben, wie von etwas, das nicht zu Ende geht, dessen Ende nicht wahr ist, es wird nicht geschehen. Vielleicht gibt es ein wenig dieses Gefühls in der Demokratie, so als wäre die Demokratie nicht aus Schlusspunkten errichtet. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erscheinen mir die Enden eher faschistisch, nach Geschichten ohne Interpretationsspielraum, abschließend, endgültig, geschlossen. Die Demokratie hingegen, perfektionierbar, lang, komplex, divers, ist nichts als ein Prozess, ein langer Prozess, der vorher begann und danach enden wird, lange nachdem wir beschlossen haben, einen Schlussstrich unter sie zu setzen. Die Demokratie ist reinster Beginn. Ich muss an einige Passagen in diesem wunderbaren Buch „Der Tag eines Wahlhelfers“ von Italo Calvino denken, das ich jedem Liebhaber der Demokratie empfehle:

„Amerigo hatte begriffen, dass Veränderungen in der Politik ein langer und komplizierter Prozess waren, und nicht eine Sache, die von der man erwarten konnte, dass sie von heute auf morgen geschahen, wie eine Wendung des Glücks.“

„Ist es also so, dass allein der Moment zählt, in dem Dinge beginnen, in dem alle Energien in Spannung geraten und in dem nichts existiert außer der Zukunft? (…) was zählt, sind nicht die Institutionen, die veraltern, sondern die menschlichen Willenskräfte und Bedürfnisse, die sich weiterhin erneuern und den Instrumenten, von denen sie Gebrauch machen, Authentizität verleihen?“

Ich lade euch also alle zu einem neuen Anfang ein, dem Beginn davon, die Seite umblättern, den Computer ausschalten oder einen neuen zu starten, ein Superbürger, Superdemokrat, Superengagierter und Superoptimist zu sein. Ich lade euch dazu ein, heute viel Male tschüss zu sagen, viele Geschichten zu beenden, mehrere Freunde zum letzten Mal zu sehen und dass all diese Enden nichts als eine große Lüge sein werden, ein Wort, das bleibt, eine Absicht, die sich nicht konkretisiert, weil uns später die Zeit, das Leben, die Welt an dem wahrhaften Ort unserer Fabel einrichten wird.

Welchen Part unserer Erzählung werden wir verkörpern? Vorwort, Schluss, Epilog, Dyslalie, Randbemerkung, Titel, Fußnote? Welche Figur sind wir und welches ist unsere traurige oder schöne Rolle? Es geht zu Ende, da kommt es, beginnt.

Küsse
Tschüss
Auf Wiedersehen
Man sieht sich
Bis bald
Dicker Kuss
Fühl dich umarmt
Grüße
Ende….

Übersetzung: Anne Becker

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Globalisierung: Für Kuba zutreffend? http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/globalisierung-fur-kuba-zutreffend/ Wed, 22 Sep 2010 15:14:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2057 Das Wort Globalisierung ist auf Kuba doppeldeutig. Wir haben sicherlich nicht diese in vielen Ländern vorzufindende hybride Wirtschaftsform, die ein allgemein anerkanntes Kennzeichen der Globalisierung ist. Eigentlich haben wir gar keine Wirtschaft. Auf Kuba war das lange ein verbotenes Wort. Zunächst einmal deshalb, weil in der von der Kubanischen Revolution geschaffenen Staatsform der Staat die Verantwortung für die Wirtschaft übernahm. Es ging darum, ein Modell für ein zukünftiges Land aufzubauen, oder besser gesagt, für eine zukünftige Welt. In diesem Modell war, wie in jedem Modell, die Wirtschaft grundlegend.

Die Konsequenz? Heute haben wir einen Expräsidenten, einen historischen Mythos und einen halbwegs linksradikalen Dinosaurier – Fidel Castro, jawohl – der in einem Interview zugibt, dass das Modell des kubanischen Sozialismus nicht sonderlich gut funktioniert. Auch wenn er später die Aussage zurücknahm, steht diese Erklärung doch sehr offensichtlich im Zusammenhang mit den neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen von Präsident Raúl, seinem Bruder, in denen zum ersten Mal seit 50 Jahren nicht nur das Privateigentum wertgeschätzt wird, sondern auch über Massenentlassungen Anreize für die private Akkumulation geschaffen werden. Wie spiegelt sich das im Alltag wider? Sagen wir mal so, dass die Globalisierung der Wirtschaft eine Legende ist, über die ich so viel gehört habe, dass ihr Einfluss auf die Wirklichkeit dem Einfluss der Legende vom Weihnachtsmann gleicht…

Ein weiteres Kennzeichen der Globalisierung: die Zunahme der Migrationsbewegungen. Im Fall von Kuba hat auch hier der nationalistische-kommunistische-sozialistische Staat (das waren die verschiedenen Bezeichnungen des revolutionären Prozesses) unter je unterschiedlichem Vorzeichen, in verschiedenen Kontexten und zu sehr umstrittenen Bedingungen massive Auswanderungswellen angestoßen. Zugleich wurden dem normalen kubanischen Staatsbürger Auslandsreisen verboten. Die Ausreiseerlaubnis – und die Einreiseerlaubnis für den emigrierten Kubaner – machten die Insel zu einem gigantischen Gefängnis, dessen Außenmauer das Meer war. Also, … das mit der Migration ist ein delikates Thema für jeden Kubaner und weit vom modus vivendi eines privilegierten Bürgers der Ersten Welt entfernt.

Zu guter Letzt betet die Propaganda der neuen, vom Norden gehätschelten Ideologie der – Globalisierung (welche andere hätte es sein können? ) – vor, dass jeder von uns ein Mosaik sei. Nun gut, von Lateinamerika aus betrachtet würde die Sache anders aussehen oder sieht sie anders aus… Die Befreiung unserer Länder von der Kolonialherrschaft wurde auf der Basis des Ausschlusses vieler Teile des kontinentalen Mosaiks errungen. Die Ureinwohner, Schwarzen und Chinesen und andere mehr wurden innerhalb jedes Landes an die Ränder einer kreolischen Gesellschaft gedrängt, die sich als weiß und europäisch verstand.

Gegen Ende dieses Prozesses fingen viele „Ethnologen“ an – auf Kuba haben wir Fernando Ortiz –, über Synkretismus, Transkulturalisierung, letztlich über kreuz und quere Mischungen zu sprechen. Jedoch hat dieses Bestreben, alle Teile des Mosaiks als Zutaten ein und der selben Suppe zu verstehen, etwas sehr Trügerisches und Vorgegaukeltes. Es handelt sich um eine Form des Einschluss ohne einzuschließen: Was schließen wir ein, wenn alles schon da ist? Die Entwicklungslinie dieses Denkens – welches positivistische Züge trug – reicht bis ins 20. Jahrhundert und fand Eingang in die Kubanische Revolution. Und zwar in dem Moment, als diese auf einzigartige Weise erklärte, alle Minderheitenorganisationen des Landes auflösen zu wollen und jede Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe zu verbieten, indem sie einerseits eine Politik der positiven Diskriminierung ins Leben rief und anderseits verlautete, dass ein Revolutionär nicht rassistisch sein könne. Es würde eine gute Lektion in Politik abgeben, würde man analysieren, wie die Kubanische Revolution die Differenz zwischen dem „Sollen“ und dem „Sein“ ideologisch gehandhabt hat: leider aber eine Lektion in Politik, die dazu führen würde, über den „Multikulturalismus“ zu sprechen, diese globalisierte Etikette.

Übersetzung: Anne Becker

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Erschießen wir sie? http://superdemokraticos.com/themen/burger/erschiesen-wir-sie/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/erschiesen-wir-sie/#comments Mon, 06 Sep 2010 15:02:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1615 Melquiades Suxo war der letzte Bolivianer, der zur Todesstrafe verurteilt wurde. Eine zehnköpfige Polizeieinheit beendete sein Leben in den frühen Morgenstunden des 31. August 1973. Er starb, ohne das Warum jener richterlichen Entscheidung tatsächlich richtig verstanden zu haben.

Sein Opfer war María Cristina Mamani, die nur vier Jahre alt geworden war. Die Minderjährige war entführt und wiederholt von Suxo und seinem Sohn Nazario (14) vergewaltigt worden. Die Autopsie bewies außerdem, dass das Mädchen mindestens zwei Tage lang – auf bestialische Art und Weise – körperlich misshandelt worden war. Auf dem toten Körper des Mädchens wurden Spuren von Gürtelschnallen an den Beinen und Bisswunden auf dem Rücken gefunden. Wenn es nach dir gegangen wäre, lieber Leser, hättest du Melquiades zur Todesstrafe verurteilt? Nein?

Und wenn ich dir sagen würde, dass dieser Mann, bevor er sich an Maria verging, seine sexuellen Bedürfnisse jahrelang auf der Haut seiner Tochter Dionisia (12) befriedigt hatte? Würdest du deine Meinung ändern? Immer noch nicht?

Und wenn ich dir außerdem erzählen würde, dass Melquiades seinen Sohn gezwungen hatte, seine eigene Schwester vor der Augen des Vaters immer und immer wieder zu belästigen? Was würdest du dazu sagen? Erschießen wir ihn standesrechtlich?

Einige Bürgerinitiativen versuchen, die Todesstrafe wieder in der nationale Gesetzgebung zu verfestigen. Und tatsächlich wird die Todesstrafe de facto umgesetzt. Die Nachrichten über Lynchjustiz (außergerichtliche Hinrichtungen, die von der Bevölkerung selbst durchgeführt werden) sind das tägliche Brot, vor allem in den urbanen und ruralen Gegenden mit knappen wirtschaftlichen Mitteln. Weil wegen eines simplen Handydiebstahls und in Abwesenheit der staatlichen Ordnungshüter ihre Töchter vergewaltigt und Familienmitglieder ermordet werden, entschlossen sich einige Nachbarschaften dazu, die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen.

Der aktuellste Fall hat das Land erschüttert. Vier Polizisten wurden von der Gemeinde Saca Saca (Potosí) entführt und mit Prügeln und Steinen totgeschlagen. Alles deutet darauf hin, dass die Uniformierten es gewohnt waren, die dortigen Dorfbewohner zu erpressen. Der Tod eines jungen Bauern aus der Gemeinde durch die Hand dieser staatlichen Mächte brachte das Fass zum Überlaufen.

Natürlich, Unschuldige sind durch die menschliche Wut gestorben. In einem Randviertel von Cochabamba wurde 2008 ein 16jähriger Student für einen Kriminellen gehalten. Ohne irgendwelche Erklärungen zuzulassen – er kam zum ersten Mal in dieses Viertel, um seiner Klassenkameradin seine Liebe zu gestehen – fesselte ihn die Menge an einen Pfahl, folterte ihn und verbrannte ihn schlussendlich bei lebendigem Leibe. Diese Reaktion der Leute beruhte darauf, dass die Polizei zwei Jahre zuvor einen anderen Mann freiließ, der in dem Viertel mehrere Mädchen vergewaltigt hatte. Der sexuell Kranke veränderte, nachdem er aus dem Gefängnis freikam, seinen Wohnort, beging dort weitere sexuellen Übergriffe und wurde schlussendlich in dieser anderen Gegend gesteinigt.

Was soll man tun?

Eine Gesellschaft sollte ihre Straftäter bekämpfen. Heute ist man sich darüber einig, Kriminelle ihrer Freiheit zu berauben. Die Idee dahinter ist, dass man durch die Strafe die geläuterten Bürger wieder in die Gesellschaft integrieren kann. Aber ich frage: Kann man einen Vergewaltiger und Mörder einer Minderjährigen tatsächlich umerziehen? Ich bezweifle das, und berufe mich auf spezifische Fälle. Meiner Meinung nach ist bei Extremfällen wie dem des Melquiades Suxo – bei dem Vergewaltigung, Folter und der Tod von Kindern vorkommen – die Anwendung der Todesstrafe voll und ganz gerechtfertigt. Was für eine andere Lösung könnte es geben? Den Aggressor in eine psychiatrische Anstalt zu sperren, um von der Gesellschaft, die er belästigt hat, versorgt zu werden?

Erlaubt mir die Diskussion mit diesem Artikel zu eröffnen.

Foto del último boliviano ejecutado. Foto de El Diario, de agosto de 1973

Foto del último boliviano ejecutado. Foto de El Diario, de agosto de 1973

Übersetzung:
Barbara Buxbaum

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Formular http://superdemokraticos.com/themen/burger/formular/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/formular/#comments Wed, 01 Sep 2010 07:00:28 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1345 Heute erhielt ich von meiner Anwältin die Nachricht, dass der Moment gekommen ist: Wenn ich möchte, kann ich mich nun, wann immer es mir beliebt, um die US-amerikanische Staatsbürgerschaft bewerben. Ich lud mir sofort das Formular aus dem Internet herunter, als ob es sich um Leben und Tod handelte, und fing an, es mit größter Geschwindigkeit auszufüllen.Vor einigen Jahren hätte mein linker Vater einen Kreislaufkollaps bekommen, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich der US-amerikanischen Flagge die Treue schwören und all die schrecklichen Zeremonien über mich ergehen lassen würde. Bestimmt wäre auch mein Kreislauf kollabiert. Ich habe gegen den Krieg demonstriert, habe alle linken Zeitschriften und Bücher von Revolutionären gelesen, die Dinge waren für mich sehr klar. Ich wollte dieses Land nicht mögen, ich wusste nichts über seine Geschichte oder seine Bevölkerung, und ich vermute, ich wollte auch nichts darüber wissen.

Aber die Dinge ändern sich. Nicht so sehr draußen, denn die Kriege und die Politik und die Folter bleiben dieselben, sondern in mir drin, auf einer privaten und sentimentalen Ebene. Das Leben zieht dich hinter sich her, öffnet dir den Mund und steckt dir den Finger hinein, es zeigt dir Dinge, die du nicht sehen wolltest. Ich lebe jetzt seit fünf Jahren hier und fühle mich zu Hause, auch wenn ich mich nicht „von hier“ fühle. Ich weiß nicht einmal, ob ich hier bleiben werde.

Aber mit der Staatsbürgerschaft könnte ich dort wählen, wo ich lebe und wenigstens Forderungen stellen, wozu die Steuern verwendet werden sollen, jene eingeschlossen, die wir Millionen von Einwanderern ohne Staatsbürgerschaft bezahlen. Ich könnte mich zumindest dafür einsetzen, dass die Bibliotheken erhalten bleiben, in die ich mich setze, um zu schreiben, die Universitäten, in denen ich studieren möchte und dafür, dass jene Menschen heiraten können, die heiraten möchten. Kurz und gut, um an der kollektiven Illusion der Demokratie und seiner Riten teilzunehmen. Und nun, ich vermute, es würde mir auch ermöglichen, für die Bundesregierung (der Vereinigten Staaten, Anm. d. Ü.) zu arbeiten, sollte ich irgendwann eine Spionin der CIA werden wollen.

Ich denke oft über die Staatsbürgerschaft nach, die ich heute habe, mit der ich geboren wurde, die costa-ricanische. Sie für eine andere einzutauschen, fühlt sich wie ein kleiner Verzicht an, auch wenn es keiner ist. Aber meine jetzige Staatsbürgerschaft ist die eines Landes, das es nur in meinem Kopf gibt. Das Leben erreicht mich nur, wenn ich die Tageszeitungen lese, ich im Internet herumhänge und wenn ich am Wochenende mit meinem Vater telefoniere. Jedes Mal, wenn ich körperlich da sein kann, gehe ich wählen, aber selbst so bringt es mir einen Dreck, weil das Land dort hingeht, wo es hingeht und nicht, wohin ich möchte, dass es geht. Die Staatsbürgerschaft hat sich für mich in ein vages Gefühl der politischen Zugehörigkeit zu einem Territorium verwandelt, in dem ich immer fremd sein werde, auch wenn ich nicht abwesend bin.
Ich hake fleißig die Kästchen des Formulars ab, das die nordamerikanischen Neurosen enthüllt: Nein, ich war nie Mitglied der Kommunistischen Partei, ich wollte niemals, außer in meinen tiefsten Träumen, mit Gewalt irgendeine Regierung stürzen, ich habe nicht zwischen 1933 und 1945 mit der Nazi-Regierung in Deutschland zusammen gearbeitet, ich war immer gut und wurde niemals verhaftet, ich habe weder die Prostitution noch die Bigamie ausgeübt, ich habe keine illegalen Wetten abgeschlossen, und ich weiß nicht, was sie damit meinen, wenn sie von einem Gewohnheitstrinker sprechen, aber vorsichtshalber werde ich das Nein ankreuzen.

Viele Menschen wünschen sich die Staatsbürgerschaft dieses Landes, einen legalen Status, der die Probleme von Millionen von Menschen lösen würde, die heute in der ökonomischen, familiären und persönlichen Ungewissheit leben. Nur die Privilegiertesten unter ihnen, wie ich, sind so einfältig, dass sie philosophische Erwägungen zu einem Problem anstellen, das sie nicht haben. Vielleicht ist es Teil des Spiels, vielleicht ist es gar nichts Großes, vielleicht hat es keine Bedeutung, aber ich habe das Gefühl, dass mir die Staatsbürgerschaft wenigstens erlauben würde, zu wählen, Einspruch zu erheben, den Respekt vor den Menschenrechten jener, die diese Entscheidung nicht treffen können, einzufordern.

Übersetzung: Marcela Knapp

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