ciudadano – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Die Zukunft der fehlenden Seiten http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/die-zukunft-der-fehlenden-seiten/ Sun, 30 Oct 2011 13:09:13 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5498 Eigentlich wollte ich diesen Text im Flugzeug schreiben. Über den Wolken. In einer Turkish Airlines Boeing, mit der ich von Berlin nach Istanbul gebracht wurde. Ans Goldene Horn. Dahin, wo Okzident und Orient zusammentreffen. Ich dachte mir, in diesem Luftgefährt kommen mir bestimmt geniale Ideen, die mein Leben in der deutschen Hauptstadt mit den touristischen Erfahrungen in der türkischen Metropole beschreiben. Ich würde neue Einsichten in das Europäische des 21. Jahrhunderts bekommen, aber auch in das Globale (so von oben auf die Welt geschaut), vielleicht auch den Zufall als Lehrmeister haben und neben einem klugen Traveller sitzen, einem Alltagsintellektuellen. Aber es kam anders. Ich schlief ein. Unter mir brummten die Düsen. Die Frau neben mir schlief ein. Das Mädchen neben ihr schlief auch ein. Müder alter Kontinent…

Ich hatte einen Traum.

In meinem Traum gab es keine Talkshows, keine Podiumsdiskussionen, auf denen irgendwelche scheinbar aktuellen Fragen von immer denselben Experten verhandelt wurden, keine Jetsetintellektuellen, da auch das Fliegen unbezahlbar geworden war. Regionale Denker hielten Vorträge, zu denen per Mundzumund-Propaganda eingeladen wurde. Das Fernsehen war abgeschafft worden, weil es keiner mehr schaute. Das Internet war kontrolliert, nur noch, wer zahlte, durfte Inhalte online stellen. Eine Stunde surfen pro Tag war kostenlos, danach galten Minutenpreise. Facebook kostete pro Post, Like und Message – die Monatsgebühr von 20 Euro hatte damals niemanden abgeschreckt, so dass Zuckerberg auf andere Zahlmodalitäten gekommen war. Da in die Bibliotheken schon lange nicht mehr investiert worden war, hatte der vollständige Bestand im Jahre 2011 aufgehört, danach hatte man den Katalog kosten- und platzsparend auf Ebooks umgestellt. Jetzt, im Jahr 2033, waren die Lesegeräte rar, mit denen man diese alten Daten hätte lesen können. Und auf Amazon und Google gabs nur US-amerikanische Klassiker günstig zu erwerben. Viele Autoren schrieben auf Englisch oder Chinesisch, weil der Markt nur nach diesen Sprachen fragte – kleinere Sprachen hielten sich auf Minimalniveau im Alltagsgebrauch, das Vokabular schrumpfte. Wer ein Wörterbuch besaß, war eine lokale Größe.

Wer etwas zu sagen hatte und dies nicht nur mündlich weitergeben wollte, musste eine der wenigen existierenden Druckereien aufsuchen und dort per Hand seinen Text setzen oder einen Kopisten, einen Abschreiber finden. Papier war teuer geworden, wie alle Rohstoffe, aber wer Kontakte hatte, konnte auf alte Reserven der Verlage zurückgreifen. Die meisten waren konkurs gegangen, weil sie verpasst hatten, relevante, eigenständige Programme zu entwickeln und sich immer stärker den Marketingabteilungen gebeugt hatten. Honorare für Buchcover waren höher gewesen als die Vorschüsse für die Autoren. Letztere waren daher vermehrt auf den Selbstverlag umgestiegen, so mussten sie nicht damit rechnen, dass ihr Buch sechs Monate nach Erscheinen Makulatur wurde. Wer kein Geld für ein gesamtes Buch zusammenbekam, war zufrieden mit Flugblättern und Kleineditionen, die dann meist durch viele Hände gingen. Ein einzelner Gedanke war wertvoll, weil selten. Da die Arbeitslosigkeit fast 100 Prozent erreicht hatte, setzte der Staat auf regionale, von Bürgern organisierte Bildungsangebote, Naturpflege und Sport, was gegen Vereinsamung helfen sollte. Einige erinnerte das an die 1930er Jahre in Deutschland, und sie sehnten sich nach dem Individualismus des späten 20. Jahrhunderts zurück. Aber der war unwiderbringlich verloren gegangen. Jetzt zählte ein neuer Verantwortungskollektivismus…

Ich schreckte auf, als mir ein dreigängiges Menü serviert wurde. What would you like to drink, M’am? Tomato Juice, please.

Und ich nahm eine gedruckte Zeitung zur Hand, den Herald Tribune, mit einem Porträt des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami, der darin von sich sagte, er sei zu 99 Prozent Autor und zu einem Prozent Bürger. Wenn er etwas Politisches zu sagen habe, dann würde er es deutlich sagen. Und somit war er eine der lautesten Stimmen, die sich in Japan gegen die Weiterbenutzung von Atomkraft aussprach. Ansonsten, schrieb der Journalist, lebte er wie ein Mönch, mit seinen 10.000 Schallplatten – aus der Zeit, als er noch in Tokio eine Jazzkneipe betrieb. Ein versteckter Staatsintellektueller. Auch er hätte den Nobelpreis verdient.

Please fasten seatbelts. Ready for landing.

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Wer hat denn schon die ganze Welt regiert? http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/wer-hat-denn-schon-die-ganze-welt-regiert/ Fri, 24 Sep 2010 07:04:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2256 Ich bin froh, dass ich im Augenblick nicht auf hoher See dahintreiben muss, um den Seeweg nach Indien zu suchen. Ich danke all den tapferen Seefahrern, Entdeckern und Abenteurern, dass mir diese Strapazen heute erspart bleiben können. Wenn mir Google Earth nicht immer wieder die Sachverhalte bestätigen würde, die wir alle in Geographie gelernt haben, würde ich vor Neugier platzen und am Ende selbst in See stechen müssen. Und wie schon der Titel eines Buches von Ilja Trojanow suggerieren will: Die Welt ist groß und Rettung lauert überall, ist die Welt in unsere Köpfe eingezogen und bietet uns unendlich scheinende Welten, in die wir reisen können. Migration verliert durch die Linse der Globalisierung betrachtet ihre ausländische Schattierung. Plötzlich scheinen wir alle Teil einer großen Fremde oder eines ganzen Planeten zu sein.

Doch die Erde hat für mich seltsame Flecken. Sie ist politisch segmentiert und zerfasert, und diese Fragmentation erinnert mich immer wieder daran, dass der Weltbürger ein Ideal und kaum real ist, denn jeder Bürger würde an Barrieren von Nationalstaatenpolitiken scheitern, noch bevor er Welt– oder Weltenbürger werden könnte. Und das schon seit Columbus. Die Welt ist groß? Nicht für jeden. Rettung? Kommt drauf an. Wer hat denn nun die ganze Welt regiert? – Niemand! Und das wird auch niemand, denn die ganze Welt passt nicht in einen einzigen Kopf. Selbst Geld gibt es nicht überall, also: Money doesn‘t rule the whole world, but just a part of it.

Wie könnte ich trotzdem noch Weltbürger im Geiste Humboldts werden? Würde es reichen, dass ich mehr als sechs Monate im Jahr in Flugzeugen verbringen würde und damit meinen ersten Wohnsitz in Deutschland verlöre? Ich bekäme Ärger und wäre gezwungen, mich auf einen Wohnsitz festzulegen – der Steuern wegen, denn Weltsteuern gibt es nicht. Wäre ich staatenlos, wäre ich verloren, keiner würde was mit mir zu tun haben wollen. Ich hätte horrende Einreiseprobleme, weil nicht klar wäre, wohin ich gehörte – ich könnte ein Feind sein! Der Status Frau von Welt ist da schon einfacher zu erreichen, da braucht man bloß ein bisschen zu reisen und viele exotische Geschichten zu erzählen. Dabei ist einem sogar das Internet behilflich. Weltbürger, mit allem was die Begriffe Welt und Bürger mit sich bringen, kann schon aus nationalstaatlichen Verfassungen heraus bis heute niemand werden. Der Begriff ist zu ideal, denn so rund ist die Erde schließlich auch wieder nicht, wie wir sie uns vorstellen.

Globalisierung ist ebenfalls ein Ideal, denn die politischen Asymmetrien auf diesem Planeten widerstreben ihr. Sie ist so ein Unbegriff wie universal oder total. Ideale sind Druckmittel, aber keine echten Zustände. Und unglaublicherweise konnte Humboldt nur das Ideal von Weltbürger werden, weil schon zu seinen Lebzeiten der Planet in den Köpfen vieler Leute globalisiert war. Seine Ideale sind aber bis heute Ideale geblieben. Globalisierung hat doch zum einen mit der Frage zu tun: Wie kommt die ganze Welt in meinen Kopf? Und die Antwort darauf kapituliert zumeist vor der Angst vor dem Verlust an kultureller oder sozialer Schwerkraft. Aber die Welt umfasst nun mal die ganze Erde, global gesehen oder nicht.

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Globalisierung: Für Kuba zutreffend? http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/globalisierung-fur-kuba-zutreffend/ Wed, 22 Sep 2010 15:14:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2057 Das Wort Globalisierung ist auf Kuba doppeldeutig. Wir haben sicherlich nicht diese in vielen Ländern vorzufindende hybride Wirtschaftsform, die ein allgemein anerkanntes Kennzeichen der Globalisierung ist. Eigentlich haben wir gar keine Wirtschaft. Auf Kuba war das lange ein verbotenes Wort. Zunächst einmal deshalb, weil in der von der Kubanischen Revolution geschaffenen Staatsform der Staat die Verantwortung für die Wirtschaft übernahm. Es ging darum, ein Modell für ein zukünftiges Land aufzubauen, oder besser gesagt, für eine zukünftige Welt. In diesem Modell war, wie in jedem Modell, die Wirtschaft grundlegend.

Die Konsequenz? Heute haben wir einen Expräsidenten, einen historischen Mythos und einen halbwegs linksradikalen Dinosaurier – Fidel Castro, jawohl – der in einem Interview zugibt, dass das Modell des kubanischen Sozialismus nicht sonderlich gut funktioniert. Auch wenn er später die Aussage zurücknahm, steht diese Erklärung doch sehr offensichtlich im Zusammenhang mit den neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen von Präsident Raúl, seinem Bruder, in denen zum ersten Mal seit 50 Jahren nicht nur das Privateigentum wertgeschätzt wird, sondern auch über Massenentlassungen Anreize für die private Akkumulation geschaffen werden. Wie spiegelt sich das im Alltag wider? Sagen wir mal so, dass die Globalisierung der Wirtschaft eine Legende ist, über die ich so viel gehört habe, dass ihr Einfluss auf die Wirklichkeit dem Einfluss der Legende vom Weihnachtsmann gleicht…

Ein weiteres Kennzeichen der Globalisierung: die Zunahme der Migrationsbewegungen. Im Fall von Kuba hat auch hier der nationalistische-kommunistische-sozialistische Staat (das waren die verschiedenen Bezeichnungen des revolutionären Prozesses) unter je unterschiedlichem Vorzeichen, in verschiedenen Kontexten und zu sehr umstrittenen Bedingungen massive Auswanderungswellen angestoßen. Zugleich wurden dem normalen kubanischen Staatsbürger Auslandsreisen verboten. Die Ausreiseerlaubnis – und die Einreiseerlaubnis für den emigrierten Kubaner – machten die Insel zu einem gigantischen Gefängnis, dessen Außenmauer das Meer war. Also, … das mit der Migration ist ein delikates Thema für jeden Kubaner und weit vom modus vivendi eines privilegierten Bürgers der Ersten Welt entfernt.

Zu guter Letzt betet die Propaganda der neuen, vom Norden gehätschelten Ideologie der – Globalisierung (welche andere hätte es sein können? ) – vor, dass jeder von uns ein Mosaik sei. Nun gut, von Lateinamerika aus betrachtet würde die Sache anders aussehen oder sieht sie anders aus… Die Befreiung unserer Länder von der Kolonialherrschaft wurde auf der Basis des Ausschlusses vieler Teile des kontinentalen Mosaiks errungen. Die Ureinwohner, Schwarzen und Chinesen und andere mehr wurden innerhalb jedes Landes an die Ränder einer kreolischen Gesellschaft gedrängt, die sich als weiß und europäisch verstand.

Gegen Ende dieses Prozesses fingen viele „Ethnologen“ an – auf Kuba haben wir Fernando Ortiz –, über Synkretismus, Transkulturalisierung, letztlich über kreuz und quere Mischungen zu sprechen. Jedoch hat dieses Bestreben, alle Teile des Mosaiks als Zutaten ein und der selben Suppe zu verstehen, etwas sehr Trügerisches und Vorgegaukeltes. Es handelt sich um eine Form des Einschluss ohne einzuschließen: Was schließen wir ein, wenn alles schon da ist? Die Entwicklungslinie dieses Denkens – welches positivistische Züge trug – reicht bis ins 20. Jahrhundert und fand Eingang in die Kubanische Revolution. Und zwar in dem Moment, als diese auf einzigartige Weise erklärte, alle Minderheitenorganisationen des Landes auflösen zu wollen und jede Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe zu verbieten, indem sie einerseits eine Politik der positiven Diskriminierung ins Leben rief und anderseits verlautete, dass ein Revolutionär nicht rassistisch sein könne. Es würde eine gute Lektion in Politik abgeben, würde man analysieren, wie die Kubanische Revolution die Differenz zwischen dem „Sollen“ und dem „Sein“ ideologisch gehandhabt hat: leider aber eine Lektion in Politik, die dazu führen würde, über den „Multikulturalismus“ zu sprechen, diese globalisierte Etikette.

Übersetzung: Anne Becker

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Mein genetisches Muster für Migration http://superdemokraticos.com/themen/burger/mein-genetisches-muster-fur-migration/ Thu, 09 Sep 2010 15:00:54 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1763

Doppelhelix - Wikipedia, GNU Free Documentation License

Wenn man – wie ich – mit Ende 30 auf einmal von einem Beamten im Berliner Senat offenbart bekommt, dass man durch die Eltern Migrationshintergrund habe und das im Antragsformular für ein Stipendium auch ankreuzen solle, wankt erst einmal gehörig das Selbstbild. Bis dahin hatte ich angenommen, einfach nur deutsch zu sein (in meiner Kindheit wurde ich nie wie ein Migrantenkind behandelt, weil die DDR diese historische Fußnote in den Lebensläufen meiner Eltern, die beide nach dem Krieg aus den Ostgebieten vertrieben oder umgesiedelt oder was weiß ich worden sind, lieber unter den Teppich kehrte). Aber auf einmal wurde alles viel komplizierter. Von da an brauchte ich für die Wiederherstellung meines kognitiven Gleichgewichts das Wort: Heterogenität.

Jo Schneider hat schon in seinem Essay auf die gerade in Deutschland geführte, leidige Debatte um Anstieg und Fall des gesamtdeutschen Intelligenzquotienten durch (muslimische) Migrantenfamilien aufmerksam gemacht. Nicht allein, dass eine solche Diskussion selbst schon lächerlich ist, aber geht sie mir (als frisch gebackene Deutsche mit Migrationshintergrund) an dem eigentlichen Problem vorbei: nämlich des verqueren politischen Selbstverständisses des „deutscher Bürger-Seins“ als scheinbar homogenes. Darin liegt nun auch eine Art von angenommener genetischer Vererbung des Deutschseins, dass latent in der momentanen Debatte mitschwingt, aber von der Seite in den Medien überhaupt nicht diskutiert wird. Wenn kein Gen den Fortbestand einer Nation oder Volksgruppe etc. maßgeblich bestimmt, dann auch nicht den der Deutschen. Somit schränkt ein Staat die Individualität seiner Bürger ein, wenn er ihnen einen Hintergrund bescheinigt, der ein Menschenrecht für jedes Individuum darstellt, denn jedes Individuum ist doch frei, sich von hier nach da zu bewegen, sich aus einem kulturellen Zusammenhang zu lösen und sich wieder in einen anderen einzufügen. Oder gilt die Globalisierung nur auf wirtschaftlicher Ebene?

Die Emsigkeit der deutschen Medien um Aufklärung zum Stand der aktuellen genetischen Forschung zeigt umso mehr: Deutscher Bürger kann jeder werden. Wenn deutsch zu sein heißt, gewisse Bräuche, einen distinktiven Habitus, die deutsche Sprache zu beherrschen und eine (weitgehend idealisierte) Bildung genossen zu haben, dann heißt das nur, durch das Wirken eines kulturspezifischen Musters (oder Umfelds meinetwegen) geprägt worden zu sein. Ich behaupte mal frech, dass viele so genannte „homogene Deutsche“, also die ohne Migrationshintergrund, es nicht selten an den einschlägigen Prägungen dieses Musters fehlen lassen. Die Bildungsmisere in Deutschland ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen politischen Versagens, Herumwurschtelns und fehlender Durchsetzungskraft auf diesem Gebiet und einer immer weiterführenden Abschiebung der Bildungsverantwortung in den Privatraum der Familie. Aber eine Bildungsverantwortung, die eine Volksgruppe prägt und sie überhaupt als eigenständige ausweist, sollte nicht auf den jeweiligen heterogenen und individual geprägten Campus der einzelnen deutschen Familien abgeschoben, sondern unabhängig von ihnen, von der bündelnden Systemkraft dieser kulturellen Gemeinschaft geleistet werden. Dazu müsste man diese Gemeinschaft aber erst mal als offene, individualisierte und vor allem heterogene und veränderliche begreifen und sich klar darüber sein, dass jeder zu Hause das sein kann, was er will – nämlich Individuum, mit welchem Kopftuch, mit welchem Haarschnitt oder womit auch immer er sich spirituelles Gleichgewicht verschafft. Deutschland ist per Grundgesetz ein säkulares Land, da sollte eine Religionszugehörigkeit in politischen Debatten eigentlich keine Rolle mehr spielen, es sei denn, wir machen uns hier alle etwas vor.

Meinen Migrationshintergrund und damit meine deutsche Heterogenität rechne ich mir zu meinem kulturellen Vorteil an. Ich bringe noch etwas mit, eine Farbe über dem Horizont. Wenn es mir finanziell möglich sein wird, mein Genom entschlüsseln zu lassen, werde ich das tun und sehen, ob sich bei mir ein spezifisches genetisches Muster für Migration nachweisen lässt, das ich vielleicht sogar an meine Tochter weitergegeben habe. Womöglich wird auch sie sich irgendwann in diesem Land anhören müssen, dass sie zur zweiten Generation einer Migrantenfamilie gehört. Vielleicht aber wenden wir dann aus besserem Wissen den Begriff nicht mehr an. Jetzt, da ich als Deutsche mit Migrationshintergrund bezeichnet werde, fühle ich mich auch so.

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Heute Bürger, morgen Fremder? http://superdemokraticos.com/themen/burger/heute-burger-morgen-fremder/ Thu, 09 Sep 2010 07:48:29 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1785

Cover, Sherry Yorke: Multicultural Literature. Foto: Linworth Books

Mein Land ist Kuba, aber heute bin ich zu Besuch in den USA, um genauer zu sein, in Miami. Eine erstaunliche Stadt, voller Latinos – Immigranten aus Lateinamerika – und mit einem Klima, das dem von Havanna ähnelt. Die Kategorie Latino scheint nur hier Sinn zu machen oder im Rest der USA und Kanada. Latino ist eine Etikettierung, die ich politisch sehr produktiv finde, da sie von den kulturellen Unterschieden und Ähnlichkeiten Zeugnis ablegt, das heißt, den Unterschiedlichkeiten und Ähnlichkeiten zwischen dem Nordamerikanischen oder dem, was als Gringo bezeichnet wird, und den verschiedenen Kulturen Lateinamerikas.

Es ist nicht so, dass alle Latinos in den USA denselben Umgang mit dem Nordamerikanischen führen würden, natürlich nicht. Die Kubaner, die Puertorikaner, die Mexikaner – die in Texas am zahlenstärksten sind – die Kolumbianer, die Menschen aus der Dominkanischen Republik, unter vielen anderen, eignen sich auf verschiedene Weise den american dream an. In Miami, zum Beispiel, scheinen die Kubaner tendenziell nach einem wirtschaftlichen american dream zu streben und ihn zu erreichen. Ich weiß von Puertorikanern in manchen Gegenden dieser Stadt, die in Vierteln wohnen bleiben, die als arm und schwarz gelten. Ersteres kann man dort mit eigenen Augen erfahren, zweiteres hat mit der Stellung zu tun, die bestimmte kulturelle Identitäten innerhalb der Vorstellung des Nordamerikanischen innehaben, die von dem Attribut „white people“ dominiert wird, was zugleich auf eine ethnische wie eine politisch-ökonomische Überlegenheit hinweist. Mit „white people“ meint man Angelsachsen oder deren Nachfahren. Alles, was da nicht reinpasst, fällt bezeichnenderweise aus der Kategorie Weiß heraus – was uns in Erinnerung ruft, dass die Kategorie Rasse zur Zeit der Kolonisierung Amerikas geboren wurde.

In einem informellen Treffen mit Studenten und Bibliotheksangestellten der Universität von Miami traf ich auf junge Leute, die aus Puerto Rico, Mexiko, Kolumbien, Haiti, Kuba… ausgewandert waren. Alle lebten schon seit Jahren in den USA, und ich hatte den Eindruck, dass sie von ihrem Ursprungsland wie von einer entfernten Vergangenheit sprachen oder wie von einem Ort, den man verlassen musste, weil die USA ein besserer Ort seien. Sie fragten mich, ob ich nicht lieber hier bleiben würde, statt nach Kuba zurückzugehen. Als ich verneinte, fragten sie mich, warum.

Warum würde jemand in ein Land zurückgehen wollen, in dem die wirtschaftliche und soziopolitische Lage instabil ist oder  gar einem Alptraum gleicht – in dem Sinne, dass sich das Land in einem Teufelskreis ohne sichtbaren Ausweg zu befinden scheint? Meine Antwort liefert keine Begründung, sie basiert auf Intuition. Auch wenn ich es für wichtig erachte, die Latino-Identität als ein Gegenmittel zur  unheilbringenden Ideologie der bis zu einem gewissen Grad hinfälligen nationalen Identität zu stärken, möchte ich zurückkehren. Denn ich erachte es für wichtig, sich in der Zivilgesellschaft jener Länder einzubringen, die zurück gelassen werden, wenn die Menschen auswandern. Ich finde es wichtig, Migration weniger als Auswanderung aufzufassen – Kuba und jedes andere  lateinamerikanische Land sind so an Abschiede und an durch Ozeane getrennten Familien gewöhnt – denn als ein Hiersein, während man dort ist und viceversa. Nicht gen Norden oder nach Europa als einem Vorbild zu schauen, sondern als ein Beispiel dessen, was wir nicht sind und nie sein werden. Ich schlage also das Reisen als einen Lernprozess vor. Damit meine ich nicht eine Auswanderung, um eine neue nationale Identität oder eine doppelte Nationalität zu erlangen, sondern den Versuch, die sich selbst überholte oder im Wandel begriffene – wann war das in Lateinamerika nicht der Fall? – nationale Identität  abzulegen und zu einer neuen Form der Idenität zu gelangen. In dieser Identität kreuzt sich das Erfahrungswissen, das Wissen, was aus nichts anderem als aus der Erfahrung gewonnen wird… , mit den eigenen und fremden kulturellen Praktiken.

Ich schlage vor, das Fremdsein als eine Form des bürgerschaftlichen Handelns zu praktizieren. Meine Heimat, meine Stadt, befinden sich vor allem an Schnittstellen. Und ich glaube, damit bin ich nicht die einzige…

Übersetzung: Anne Becker

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Mundo Paparazzi Mi Amore Chica Ferdy Parasol http://superdemokraticos.com/themen/burger/mundo-paparazzi-mi-amore-chica-ferdy-parasol/ Tue, 07 Sep 2010 07:35:49 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1706 Die Erde, vom Merkur aus gesehen. Ein heller Ball im schwarzen All, umgeben von einem kleinen, hellen Punkt.
(c) René Hamann
Mein Horoskop war ausverkauft. Zu viel Blausäure, zu viel Stimmungsschwankung, zu viel Weltall.

Gestern habe ich den perfekten Bürger gesehen. Er hatte goldenes Haar. Er war klug und belesen, unbefleckt, unschuldig und rein. Er strahlte Versonnenheit aus. Gegen ihn musste ich Merkur sein. Ein zerbeulter Planet. Oder Pluto, hinten irgendwo im Dunkeln, oder Jupiter, Neptun, die schwarze Seite der Galaxie. Die Antimaterie. Er konnte gar nicht ahnen, mit wie viel Ballast ich daherkommen würde. Er ahnt nichts von alldem. Er ist der perfekte Bürger. Kein verkrachtes Elternhaus, keine kreativen Allüren, keine Schnitte an den Oberarmen, kein ausgekotzter Schmerz, gar kein Schmerz, gar nichts. Eine Sehschwäche, höchstens.

Die Erde, vom Merkur aus gesehen. Fotografiert von „Messenger“.
Eine Sonde, die sich in die Umlaufbahn eindrehen wird nächstes Jahr.

Ich schreibe für Geld, ich schreibe für Liebe, ich schreibe fürs Glück.
Sie bezahlen mich mit Gift.
Ich lebe zur falschen Zeit am falschen Ort. Zu viel Weltall.
Der perfekte Bürger, ein akkurater Rasen, eine Besonnenheit. Jemand von der Lichtseite.

Sobald man ein Objekt beobachtet, verändert es sich. Unschärferelationen.
Ich fühle mich wie ein Teenager, jeden Tag verliere ich mich aufs neue.
- Wusstest du, dass Gauloises in Frankreich eine Prollmarke ist?
- Nein, wusste ich nicht.
- In Russland auch. Da sind diese schmalen Zigaretten schick.

Zu viel Ich, auch. Eine Welt, die verspiegelt ist. Kennst du das?
Als wenn das Gehirn glüht. Prolongiert. Ein ferner Punkt.
Und ich sitze traurig neben meinen Wunschmaschinen. Die Wunschmaschinen am Strand unter dem Himmelszelt. Sie laufen alle ins Leere.

Der perfekte Bürger fragt nicht nach Geld, er lässt sich einladen. Er gibt mir Gifte. Ich sehe die Fabriken, in denen sie hergestellt werden. Die Fabriken sind uneinnehmbar. Sie werden durchlaufen. Sie sind in einer anderen Zeit.

Ich suche nach den gemeinsamen Frequenzen, ich finde sie nicht.
Was wir reden, ist codiert.

Verspiegelt wie ein Aufzug. Eine verspiegelte Welt, in der ich mir eine Gauloises anstecke.
Immerhin umarmen wir uns zum Abschied.

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Im Wahl-Lokal http://superdemokraticos.com/editorial/im-wahl-lokal/ Sun, 29 Aug 2010 15:32:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1355 Wenn meine Eltern wählen gehen, ziehen sie sich etwas Festliches an, wie früher die Menschen auf dem Dorf für den Kirchgang, und gehen ehrfürchtig schweigend ans Ende unserer Straße, in das Wahllokal in einer Grundschule, einem Betonbau der 1960er Jahre. Damit zeigen sie, dass die Artikulation ihrer Stimme für sie nicht nur eine Pflicht, sondern ein Ritual darstellt, das jeden Bürger überhaupt erst als Bürger definiert. Ich erinnere mich daran, wo ich das letzte Mal gewählt habe (aber nicht daran, was ich anhatte), und zwar in einer Volksabstimmung in Friedrichshain-Kreuzberg, dem Berliner Bezirk, in dem ich wohne. Es ging darum, dass ein langer Uferstreifen der Spree, der von Standbars, alten Lagerhallen und Grünflächen besiedelt ist, von der Stadtverwaltung an Investoren verkauft worden war. Hier sollen sich in Zukunft große Medienunternehmen ansiedeln, die den Zugang zum Wasser verbauen und privat nutzen wollen – und damit dem Bezirk einen menschenfreundlichen öffentlichen Ort wegnehmen. Die Volksabstimmung sprach sich mit 87 Prozent der Stimmen gegen die Investorenpläne aus, aber in den weiteren Bauverhandlungen wurde dieses Ergebnis einfach ignoriert.

Ich bin immer noch wütend darüber. Mir wurde klar, wie wenig heute demokratische Abstimmungen und breite Bürgerbewegungen politischen Einfluss haben; dass wir in einer „Postdemokratie“ leben, wie der britische Politologe Colin Crouch es nennt. Ökonomische Eliten, Lobbygruppen und so genannte Berater treffen die Entscheidungen, weil sich der Staat immer mehr aus der Fürsorge um den Bürger zurückzieht. Crouch fordert, es müssten sich neue Bürgeridentitäten herausbilden.

Wie könnten diese aussehen? Emma Braslavsky schlägt die tägliche aktive Positionierung als „Bürger-Individuum“ vor, das sich durch Anpassung und Widerstand auszeichnet. Lizabel Mónica fühlt sich aufgerufen, in René Hamanns Text die „politisch inaktiven Sätze“ zu analysieren. Wir brauchen also eine permanente Bewusstseinserweiterung. Erst wer die Realitäten, in denen er lebt anerkennt und angemessen beschreibt, kann sie verändern, seien es Megacities, wie bei Leo Felipe Campos und Carlos Velázquez, oder „magische Objekte“ (Fernando Barrientos), mit denen er sich selbstbestimmte imaginäre Orte erschafft und somit in einer Feedbackschleife in die Wirklichkeit eingreift. Ein Buch in die Hand zu nehmen, diese Wahl haben wir.

Wenn der „Bürger“ ein verbrauchtes antikes Konzept ist, eines, das ja schon in seiner Urform elitär war, weil nur herrschende Männer in der Polis wählen durften, müssen wir den Bürger recyclen; das sage ich jetzt mal so als Deutsche, die immer alles recyclen will. Wenn wir uns denkend zusammentun, könnte aus dem heute oft sehr virtuellen „Nicht-Ort“ (Karen Naundorf), an dem sich das Subjekt frei fühlt, aber auch „ständig abwesend“ ist, eine Stammkneipe werden. Damit meine ich nicht eine Rückkehr in Stammeskultur, sondern in Gemeinschaftskultur. Wir brauchen alle unser Lokal in der augmented reality, wo wir ganz bourgeois über Klatsch und Tratsch (Luis Felipe Fabre) sprechen und unsere Haltungen einbringen. Denn wir sind unsere eigenen Repräsentanten.

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Bitte wählen Sie den Titel für diesen Essay selbst! http://superdemokraticos.com/themen/burger/bitte-wahlen-sie-den-titel-fur-diesen-essay-selbst/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/bitte-wahlen-sie-den-titel-fur-diesen-essay-selbst/#comments Thu, 26 Aug 2010 15:01:24 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1176

(R)evolution (c) by Emma Braslavsky

Ich habe mich immer gesträubt, mich einer Bewegung, einer Partei oder einer sonstigen Gruppe anzuschließen. Ich verabscheue Massenveranstaltungen und Gruppenausflüge. Fragt man mich nach meiner politischen Haltung, dann antworte ich: autodynamisch. Fragt man mich nach meiner religiösen Zugehörigkeit, sage ich: autoerotisch. Auf die Frage, welchen Einfluss ich als total autonomes Individuum auf die Lage meines Landes nehmen könnte, müsste ich zugeben: keinen umwälzenden, solange ich nicht zugleich eine materielle Kraft à la Berggruen oder Albrecht entfaltete. Materie entwickelt Anziehungskraft, sagte mein Physiklehrer und erklärte uns anhand eines 5-Mark-Scheins und eines 100-Mark-Scheins, wie unterschiedlich stark die Anziehung der Teilchen bei beiden ausfallen wird. Für die Romantiker unter den Lesern des Blogs sage ich deshalb: Mein Leben bestimmt das Erzählen, das Schreiben und die Liebe. Für die Realisten unter euch gebe ich zu, dass mein Leben von meiner Familie, vom Kampf mit dem Berliner Bildungssystem und der Bewältigung des bürgerlichen Selbstverwaltungsaufwands bestimmt wird, da ich meiner selbst leibeigen und selbständig bin und für alles die Verantwortung übernehmen möchte und muss. Und für die Materialisten unter euch gestehe ich ein, dass mein Leben seit Jahr und Tag von abwechselnden Geldnöten und Geldsegen, von Währungsreformen und Enteignungen geprägt und diesbezüglich abgehärtet ist.

Huxley beglückte den Leser mit dem Zitat

Kluge Menschen suchen sich die Erfahrungen selbst aus, die sie zu machen wünschen.

Wenn er damit Recht hätte, hätten einige von uns doch eine Wahl gehabt haben müssen, sich den Auswirkungen dieser Finanz- und Politikmisere zu entziehen? Aber Huxley unterliegt wie die meisten von uns dem Trugschluss, dass eine Wahl immer ein Akt wahrer Selbstbestimmung sei. Denn auf das, woraus du wählen kannst, hast du meist keinen Einfluss. Die Wahl als demokratisches Grundrecht eines jeden mündigen Bürgers ist für mich nicht zugleich die Rechtfertigung für Demokratie und Mitbestimmung. In Restaurants, beispielsweise, darf ich aus einem Angebot wählen. Wenn ich Glück habe, kann ich die Kartoffeln für Reis tauschen. Du bist auch nicht gern gesehen, wenn du zuviele „Umstände“ machst. Zuviel Mitbestimmung ist für die meisten zu anstrengend.

Wenn „Bürger“ und „Individuum“ aufeinandertreffen, entsteht nicht unbedingt eine Liebesbeziehung. Anarchistische Zungen würden sogar behaupten, beide schlössen einander aus. Aber Hand aufs Herz: Wer von uns hat schon Lust, den ganzen Tag mit dem Megaphon durch die Gegend zu rennen und „das System“ aufzumischen? Wer von uns möchte 24 h jeden Tag alles von A-Z selbst bestimmen? Ein Kennzeichen von Leben ist die Symmetrie von Anpassung u n d Widerstand. Das könnte man ruhig auch auf Gesellschaften übertragen. Individuum zu sein heißt doch nichts anderes, als mutig eigene Positionen im Leben einnehmen zu können und diese Positionen auch ebenso mutig wieder verlassen zu können. Ein Individuum ist nackt. Ein Bürger ist nie nackt. Er bekennt Farbe, verhält sich und steht in Beziehung zu einem größeren Gefüge. Ein Bürger-Individuum kann sich aus dem einen Gefüge herauslösen und in ein anderes einfügen. Und es kann jedes Gefüge zugleich genießen und ablehnen. Im nächsten Essay folgen die Analyse und praktische Anwendung aus dem Leben dazu. Übrigens, in der „Überwindung“ von Widerständen liegt sogar eine Art von Sublimation. Überwindung in der Bedeutung von: sie ertragen und sie besiegen. Wem das gefällt, der kann ruhig den Titel für diesen Essay selbst wählen. Wem nicht, der sollte das erst recht tun.

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Bürgerin von zwei Katastrophen http://superdemokraticos.com/themen/burger/burgerin-von-zwei-katastrophen/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/burgerin-von-zwei-katastrophen/#comments Fri, 20 Aug 2010 07:17:09 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=966 Meine zwei Länder sind zwei Katastrophen. Deshalb lebe ich jeden Tag mehr an einem imaginären Ort. Oder sagen wir besser: an einem virtuellen Ort. Meine gesellschaftliche Teilhabe als Bürgerin ist gleich Null, da ich eine unperfekte Bewohnerin bin, die weder von hier ist noch sich dort befindet. Ich habe keine Stimme, um über Venezuela zu urteilen, weil ich nicht dort bin – wird mir gesagt.

Ich kann nichts zu Israel sagen, weil ich Ausländerin bin – denke ich. Aus diesem bürgerschaftlichen Limbo heraus fühle ich mich annulliert und gehe den Schwierigkeiten, so gut ich kann, aus dem Weg. Die Gesetze von hier wie von dort haben Auswirkungen auf mich, doch sie wissen nicht, wie sie mit mir verfahren sollen. Damit meine Kinder nach Venezuela einreisen konnten, musste ich für sie die argentinische Staatsbürgerschaft beantragen – die ihnen väterlicherseits zustand. Es war kaum von Bedeutung, dass sie meine Kinder waren: Wenn sie mit israelischem Pass reisen, können sie in das Land nicht einreisen, in dem ich geboren bin und in dem ich bis vor kurzem lebte. Jedes Mal, wenn ich mich dem Schalter irgendeines Beamtens nähere, muss ich erläutern, wie ich hier gelandet bin. Jedes Mal, wenn ich eine Flughafen betrete, muss ich erklären, warum ich dort hin fahren möchte. An dem Tag, an dem meine Kinder die argentinische Staatsbürgerschaft erhielten, sind wir ein Steak in einem argentinischen for export-Restaurant essen gegangen, um zu feiern. Die Musik, mit der wir in diesem möchte-gern-gaucho-artigen Simulakrum empfangen wurden, spielte gerade jenes alte Tränendrüsenlied mit den Zeilen no soy de aquí, ni soy de allá (ich bin nicht von hier, noch bin ich von dort“.

Keine der Fahnen behagt mir. Falls im Nahen Osten das Wasser ausgeht, kehre ich nach Venezuela zurück. Falls ein neuer Krieg ausbricht, falls ich ein Attentat aus nächster Nähe erlebe, falls das Mittelmeer vor Medusen brennt, falls die so sehr versprochene Atombombe endlich auf dieser Seite landet, kehre ich nach Hause zurück. Aber mein Zuhause ist nicht mehr mein Zuhause, sondern ein Schlachtfeld, auf dem die Gewalt und die Verbrecherbanden mit großen Abstand über jede gute Absicht siegen. Mit Venezuela geht es den Bach hinunter dank seiner Irrfahrt mit Kurs auf ein Ziel namens „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ oder trotz dieses Unterfangens. Eine vorgeblich neuartige Doktrin, die aber auf uralten Konzepten und Worten aufbaut.

Seit zehn Jahren ist der Staat damit zugange, die Namen der Ministerien, der Institute, der Abteilungen, der Banken, der Fernsehanstalten, der Währung zu ändern. Alles muss einen Namen erhalten, der der neuen politischen Realität entspricht. Ich weiß von nichts mehr, wie es heißt. Währenddessen hält uns die Titelseite einer Auflage starken Tageszeitung eine schmerzhafte Realität vor Augen: Auf dem Foto sieht man die verhüllten Körper  von einem Dutzend Toten in einem Leichenschauhaus, die aus Platzmangel auf irgendeinem Flur aufgetürmt wurden. Alle wurden an einem x-beliebigen Wochenende in Caracas von Kriminellen ermordet. Körper, die verwesen, ohne dass jemand ihnen die Augen schließt und für das Begräbnis (ein Massengrab, natürlich) zurecht macht. Ein Krieg. Wenn irgendjemand sagt, dass er oder sie es nicht mehr aushält, mit so viel Gewalt zu leben, findet ein Minister das lustig. Vielleicht bezichtigt er diese Tageszeitung der Eschatologie und veranlasst ihre Schließung, um sich so von seinem riesigen Lacher zu erholen.

Dasselbe Lachen, mit dem sich eine Soldatin der israelischen Armee umringt von gefesselten palästinensischen Gefangenen mit verbundenen Augen portraitieren lässt. Die beste Zeit ihres Lebens – schreibt sie auf ihrer Facebook-Seite, auf der sie das heute berühmte Foto veröffentlicht, mit dem sie sich sofort einen Namen machte.

Wie es aussieht, gibt es in meinen zwei Ländern dieses Lachen in Hülle und Fülle. Und die Kadaver. Und die Entführungen. Und die Festgenommenen. Und die politischen Gefangenen. Und die Kriege. Und die Guerillas. In Venezuela gibt es mehr Hunger, das schon. Und ein tausend Jahre altes Elend, das niemanden schmerzt.

Meine bürgerschaftliche Teilhabe ist gleich Null. Ich lebe in meinem imaginären Land, meinem virtuellen Land, meinem Atom-U-Boot, meinem Asteroid B612. Wenn Krieg ist, schließe ich die Fenster, um ihn nicht zu hören. Ich recycle keinen Müll, ich spare kein Wasser, ich hoffe, dass das Ozonloch groß genug ist, um all die Ungerechtigkeiten zu verschlingen. Ich demonstriere nicht für irgendeine Minderheit, denn ich bin die Minderheit der Minderheiten. Niemand würde für mich auf die Straße gehen, genauso wie niemand denkt, dass meine politische Meinung irgendeinen Wert hat, da ich ja so weit weg bin, da ich ja so ausländisch bin.

Übersetzung: Anne Becker

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Ninja-Metamorphose http://superdemokraticos.com/themen/burger/ninja-metamorphose/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/ninja-metamorphose/#comments Thu, 19 Aug 2010 07:16:23 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=941 Vor ein paar Monaten begann ich mit meiner zaghaften aber entschiedenen Verwandlung in einen Ninja. Und nun werde ich versuchen, meinen Freunden, den Superdemokraticos, die Gründe dieser Metamorphose zu erklären:

Erstens, die wirtschaftlichen Bedingungen. Die eiserne Disziplin, der sich ein Ninja unterwirft, erlaubt es ihm nur an wenigen Stunden in der Woche, sich dem Laster hinzugeben: Wein, Bier und anderen Substanzen erhalten einen bestimmten Platz. So wird ihr rituelles Wesen wiederhergestellt. Auch dem Sex, dieser kostspieligen Angewohnheit, wird ein Platz zugeteilt, aber anstatt nach Quantität zu suchen, besinnen wir uns auf seine mystische Qualität. Geld ist nicht weiter ein Feind, damit es wie Energie fließen kann.

Zweitens, wahre Freundschaften werden gepflegt. Ein Ninja hat diese falschen Freunde nicht nötig, von denen es nur so wimmelt, wie Fliegen, die sich auf einen Teller Milch stürzen. Man lernt, auf den allerersten Blick zu erkennen, welche Seelen unserer Verbündeten im Kampf, den Himmel zu erleuchten, sein werden. Der moderne Ninja von heute akzeptiert die spirituelle Bruderschaft, welche die Menschen mit all den tierischen, pflanzlichen und mineralischen Spezies verbindet, eingeschlossen Chihuahua-Hunde und Axolotl-Schwanzlurche. Wenn ihr genau hinschaut, könnt ihr erkennen, dass der Axolotl eine Art Ninja des Wassers ist, von dem er denkt, es wäre Luft. Sein amphibisches Naturell erlaubt es ihm, die Vergangenheit und die Zukunft zu bewohnen.

Die unsichtbaren Gegner bestraft ein Ninja mit Schweigen und Missachtung. Er widersetzt sich Beleidigungen, Verleumdungen und übler Nachrede durch lange Meditationssitzungen vor der aufgehenden Sonne. Wir lösen uns aus dem feindlichen Szenario und hinterlassen lediglich eine Wolke der Poesie.

Drittens, das Thema fashion. Manche sagen uns, dass das Äußere nicht wichtig ist, aber wir wissen genau, dass sie lügen. Wie müssen erfinderisch sein und Klamotten wie eine Sprache benutzen. Kleidung ist eine Textualität, deshalb kommen der Orden oder der schwarze Anzug mit Maske (verankert in der Populärkultur) niemals aus der Mode. Es ist die Zusammenfassung des Mysteriums und eine Ermahnung für das, was noch geschaffen wird.

Viertens, der Gewalt wird die Eleganz gegenübergestellt. Während sich in diesem Land alle kreuz und quer umbringen, ziemlich blutrünstig und würdelos, schlagen wir modernen Ninjas lieber mentale Kämpfe vor, die an den heiligen, präkolumbinischen Stätten ausgetragen werden sollten. Dieser allegorische Vorschlag impliziert nicht, dass wir verleugnen würden, dass der Ursprung der aktuellen (und realen) Gewalt in der sozialen Ungleichheit, der Korruption und der Straffreiheit zu findet ist, die während der gesamten Geschichte Zentralamerika verwüstet haben.

Ein fünfter Grund, warum man Ninja werden sollte, ist die Gesundheit. Ein Ninja ernährt sich gesund und äußerst maßvoll. Die körperliche Ertüchtigung ist für ihn lebensnotwendig. Spaziergänge im Wald und im Dschungel sind grundlegend, um sich fit zu halten. Auch das Fliegen zwischen den Häusern der Stadt ist eine weitere, sehr unterhaltsame Trainingsübung.

Und – last but not least – die Teleportation. Ein Ninja zu sein, erlaubt es mir, in ein anderes Land zu kommen, ohne mich von meinen Lieben trennen zu müssen.Guatemala ist ein wunderschönes Land, aber gleichzeitig stellt es ein Trainingscamp dar: den idealen Ort, um die Überzeugung und die tatsächliche Berufung eines Schriftstellers auf die Probe zu stellen. Hier reicht es nicht einmal, den Nobelpreis verliehen zu bekommen, damit einem Autor Ruhm erwiesen wird, was auch Miguel Ángel Asturias schon lernen musste … Etwas, das in jedem anderen Land in der Gegend sogar dazu geführt hätte, dass eine Provinz umbenannt wird, löst hier lediglich weiter Groll, Argwohn, Ärgernisse oder völliges Desinteresse aus.

Die Moskitos sind die einzigen, die würdevoll während des Klatschen sterben, predigt das japanische Bildungswesen. Wer es also in diesem Land tatsächlich anstrebt, Literatur zu schreiben, muss von einer inneren Wahrheit besessen sein, die unbedingt und entgegen alle Hindernisse offenbart werden muss. In meinem Fall manifestiert sich diese innere Wahrheit in einem Schreiben wie das eines Ninjas, der mit den Händen fantasiert. Ein Ninja, der die Kalligraphie wie eine Vorbereitung auf den Kampf praktiziert, der versucht, den nationalen Himmel zu verändern, in dem er verbale Sterne versprüht.

(Leer: Manifiesto de la Literatura Ninja)

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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