Ciudad Júarez – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Männer weinen nicht http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/manner-weinen-nicht/ Wed, 17 Aug 2011 08:00:44 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4852 http://flickriver.com/photos/tags/mujeres+creando+bolivia/interesting/

Psychologische Gewalt, sexuelle Gewalt, physische Gewalt, häusliche Gewalt, soziale Gewalt, familiäre Gewalt, Gewalt gegen Frauen. Femizid. Ich hasse dieses Wort. Ich habe es 2003 zum ersten Mal gelesen und seitdem, von Zeit zu Zeit, von Monat zu Woche ja, die nächste auch: träume ich. Ich erinnere mich, dass ich es in einem Steckbrief gelesen habe, den ich per Mail bekommen habe, über einem Namen und einem Bild. Ich habe diesen Namen bewusst vergessen, obwohl ich den Typen kenne, ich habe in schon öfter (in meinem Leben) getroffen.

Ich lernte ihn im ersten Semester an der Fakultät für Philosophie und Geisteswissenschaften kennen. Wir kamen aus der Klosterschule und fühlten uns völlig verloren. Verloren in den Gängen der staatlichen Universität, in die Ecke gedrängt in den zwei kleinen Räumchen in der 10. Etage des Studiengangs Literatur, lernten wir die Bohème kennen. Wahrscheinlich der einzige Ort an der UMSA, an dem die Mehrheit aus privaten Schulen, Klosterschulen kam. Die wahre Mittelschicht Boliviens, mit ihren Überzeugungen und ihren Traumata, ihrem Modus Operandi und dieser verheerenden sentimentalen Erziehung, wir waren hauptsächlich Mädchen. In der Aula verkündeten die Mujeres Creando ihre Botschaft, und nicht viele von uns blieben stehen, um zuzuhören.

Die Geschichte der Bürgerrechte der Frauen in meinem Land ist seltsam. Einerseits dürfen wir seit den 30er Jahren transzendentale Entscheidungen treffen, etwa uns scheiden lassen, studieren und arbeiten gehen, seit 1952 dürfen wir wählen, viel früher als die Frauen in der Schweiz. Andererseits war es unerlässlich, dass die Demokratie wieder hergestellt wurde und dass in den 90er Jahren eine Organisation wie „la Plataforma de la Mujer“, die Plattform der Frau, entstand, damit die Regierung das Strafgesetzbuch reformiert. Bis 1995 wurde häusliche Gewalt nicht als Verbrechen anerkannt, außer wenn das Opfer Verletzungen erlitten hatte, die drei oder mehr Tage Krankenhausaufenthalt zur Folge hatten.

Schwangerschaftsabbruch ist weiterhin illegal und die Abtreibung ist weiterhin eine häufige Todesursache bei jungen Frauen. Abgesehen davon, dass Schwangerschaftsabbruch eine Todessünde ist und die soziale Ablehnung, die sie verursacht, DER scheinheilige Akt der Unterdrückung schlechthin. Und das in einer Gesellschaft, die Teil eines Subkontinents ist, der unter anderem diesen Neologismus verursacht hat: Femizid. Mexiko wurde 2009 zum ersten Land der Welt, das von einem internationalen Tribunal wegen dieses Verbrechens an der Menschheit verurteilt wurde.

Die Straffreiheit, mit welcher der mexikanische Machismo den Genozid in der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juarez belohnt, die über 10.000 Ermordeten, ist der plumpeste Ausdruck des veranschaulichten Frauenhasses. Ist er heimtückisch, dann findet man ihn unterlegt mit einer  destruktiven Redseligkeit, ist er brutal, dann ist er unterlegt mit einem Sadismus, den man mit Worten nicht beschreiben kann. Auch in Deutschland. Laut allen Untersuchungen kommen die Angreifer aus allen sozialen Schichten und aus jedem Bildungsniveau. Jeder könnte es tun, und was noch erstaunlicher ist: Das ist in allen westlichen Ländern der Fall. Die geringere Zahl der weiblichen Toten lässt sich im Wesentlichenb auf die soziale Kontrolle zurückführen und darauf, dass die Verbrechen verfolgt werden, dass ein durchsichtigeres Rechtsssystem existiert, dass sich die Frauen ihrer Rechte deutlicher bewusst sind und verantwortungsvoller mit der Erziehung ihrer Kinder umgehen. Vor allem ist auch wichtig, dass eine Infrastruktur existiert, die die Opfer beschützt. Und nicht so sehr die Tatsache, dass die Männer besser lernen sollen, ihre Instinkte zu kontrollieren. El Pronto, wie ihn die Spanier nennen. Laut der offiziellen Kampagne zur Vermeidung von Gewalt der Stadt Berlin wird deutlich, dass jede vierte Frau schon einmal häusliche Gewalt erfahren hat, möglicherweise ein weiterer Grund für den hohen Konsum von Antidepressiva. 2010 starben in Spanien 76 Frauen, in Bolivien 210.

Das letzte Mal, als ich mit der Schriftstellerin Daniela Camacho sprach, arbeitete sie an ihrem ersten Roman, lehrte an einem Institut und lebte mit ihrer Tochter und einer Freundin in einer WG. Sie hatte es geschafft, unabhängig zu werden, sie dachte, dass sie sich wieder verlieben könne. Und so will ich sie in Erinnerung behalten. Mit rot lackierten Fingernägeln, einen Tee trinkend, lachend: endlich selbstbewusst.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Daydream Nation http://superdemokraticos.com/themen/burger/daydream-nation/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/daydream-nation/#comments Mon, 06 Sep 2010 09:13:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1716 Ich bin betrunken nach Hause gekommen / total verloren in Überlandbussen der Nordroute / oder in beichtgelben Taxis um drei Uhr morgens / mit Fahrern, die im Auftrag  des Heiligen Christophers  sterben werden / und ihr Zellchaos durch die cantinas des Zentrums  schleppen werden //  Ich führe ein Schriftstellerdasein / ich verkaufe frittiertes Hühnchen, um mir die nachtragenden und bitteren Snacks zu kaufen / die  samstags um 2 Uhr nachmittags in Chalio’s Bar serviert werden / Ich bin ein Exemplar der mexikanischen Gattung / ich war ein mexikanischer Junge / Ich werde ein mexikanischer Greis sein // Meine Idole waren Santo und Blue Demon (berühmte Wrestling- Kämpfer; A.d.Ü) / im Ring oder auf der Leinwand des Laguna Kinos / während ich meinen Softdrink der Marke Pep trank // Ich habe es auf 44 Star Wars-Figuren geschafft / meine Lieblingsfigur war Han Solo // Ich verkaufte Kaugummis in den Campo Alianza Bussen / um mir Sandwiches zu gönnen, riesige Avocado-Sandwiches / auf dem ärmsten Markt der Stadt // Ich hatte eine wirre Kindheit / nachmittags kaufte ich ein Liter San Matías Tequila / für meine Großmutter, die seit ihrem 17. Lebensjahr  Alkoholikerin war //  ich bin in dem Alianza Markt groß geworden / wo sie eine pozolería (pozole ist ein typische Suppe mit Mais und Schweinefleisch, A.d.Ü.) hatte / ihre Kundschaft waren die Suffköpfe aus der cantina El mar rojo (das rote Meer) // Ich habe mich in der Wüste verschanzt  / um Peyote zu essen / und ich habe mir zwei Coyotes auf den rechten Arm tätowiert // Ich bin per Anhalter durch das Land gereist / gezwungen mir das endlose Gelaber zugedröhnter Lastwagenfahrer anzuhören // Ich bin als Bulle im Zug nach Ciudad Júarez mitgefahren / ich war kurz davor, mir in der Sierra von Chihuahua den Kältetod zu holen // Ich habe mir Salmonellen eingfangen / weil ich mich auf die Bauchfleisch-Tacos an der Ecke Matamoros und Acuña eingelassen habe / ich bin an Thyphus erkrankt / weil ich um zwei morgens mit Don Lolo tortillones (Maisfladengericht A.d.Ü.) gegessen habe // Ich spaziere gerne durch Straßen voller stillgelegter Fabriken / über die langgestreckte Allee hinter dem zentralen Busbahnhof // Auch ich bin zu Fuß die Bahntrasse lang gelaufen // Ich habe auf brachliegenden Grundstücken mit Unbekannten Bier  getrunken / Ich habe die schlechtesten Baseballspiele der Geschichte im Revolución Stadium gesehen // Ich habe ansehen können wie zum ersten Mal seit vielen Menschenleben das ausgtrocknetet Flussbett des Nazas Fluss sich mit Wasser füllte / ich habe dies von dem riesigen Christus aus gesehen, der auf der Spitze des Noas Berges  steht  // Ich bin durch alle cantinas der Stadt gewandelt / Bars, Tabledance-Kneipen und Schwulenclubs // Einmal wohnte ich mit einer Frau zusammen // Ich bin zum Schwänzen in die Billardsalons unseres Viertels gegangen // Meine Jugend war Daydream Nation //  Ich habe die Musik aller Norteño Gruppen gehört, die sich vor die Gota de Uva (Weintropfen) stellten // Ich habe auf den Bänken des Alameda Parks geschlafen // Ich habe mich in cantinas geprügelt / Ich habe mich schwarz angezogen / und Schnulzen von Cucu Sánchez gesungen // Was für Augen, was für Beine, was für Körper haben die Frauen meiner Stadt / Was für cantinas / die Perches, die Reforma, die Filomena / der Aguila de Oro  (Goldadler) / die Versalles / den Chava Club / El otro Paraíso (Das andere Paradies) //  Ich habe ein fremdes Auto angefahren // Ich weiß, dass ich an Krebs sterben werde / und es ist mir egal // Ich habe all die in die Klotüren eingeritzten obszönen Geschichten auf dem Júarez Markt gelesen / Ich habe ein paar davon selber geschrieben / und habe gelernt, dass Mexiko kein Land ist, in dem man an Verstopfung leidet/  Ich entziffere die Kabel der Telegrafenmasten / die Masten bilden das Skelett der Stadt / die Ampeln die Arterien // Ich höre die Heimat in den cantinas / in jeder nicht geöffneten Flasche // Ich lese aus der Innenfläche meiner Hand wie jemand der einen Toten einbalsamiert / im Amphitheater des Universitätskrankenhaus // Und ich glaube noch an die Liebe im Dunkeln // Ich habe gelitten wegen einer magersüchtigen Liebschaft  // Ich bin ein Mexikaner // Ich habe weder Visum noch Pass // Ich führe ein Schriftstellerdasein // Ich schreibe mit den Schlüsseln der Stadt in der Hand // Und vielleicht werde ich nichts erreichen / noch nicht einmal Eintrittskarten fürs Kino / und auch keine Schlaftabletten // Und vielleicht werde ich nirgendwo ankommen // Aber wie alle / werde ich mir mein Recht bewahren zu verschwinden.

Übersetzung: Anne Becker

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