Berlin – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Jahresende, Explosionen http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/jahresende-explosionen/ Sat, 31 Dec 2011 09:52:13 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6297 Die Zeit zwischen den Jahren, wie man auf Deutsch sagt, also die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr, sind ruhige Tage. Die Hauptstadt ist leer. Einzig Touristengruppen auf der Friedrichstraße am Checkpoint Charlie trauen sich in das nass-kalte Wetter. Die meisten Menschen ruhen sich  vom Festessen und Endjahresstress aus, schauen ein paar Blockbuster im TV, ordnen Geschenke in die Regale, telefonieren, schweigen, schlafen. Bis dann am letzten Tag des Jahres die Böller kommen. Sie kommen von vorne, von hinten, von oben, am 31. Dezember, wenn es dunkel wird, ist es schwierig, ihnen auszuweichen. Einmal habe ich ein paar Jungs, die gerade dabei waren, etwas zu zünden, zugerufen: „Hey, Jungs, ich hab einen Tinnitus, bitte wartet kurz mit eurem Knaller, bis ich vorbei bin.“ Und sie: „Klar, kein Problem, liebe Dame.“

Diese durch Explosionen immer wieder aufgeweckte Besinnlichkeit könnte ein Bild für den Literarischen Aktivismus sein, ein Verhalten, das wir uns von Superdemokraticos immer wieder auf unsere Fahnen geschrieben haben, dem wir das Monatsthema Dezember, aber auch eine Anthologie gewidmet haben, die für fünf Euro beim Verlag Milena Berlín zu kaufen ist, der sich gründete, nachdem die Verleger 2010 bei der Frankfurter Buchmesse einen Stand besetzten. Literarisch aktiv sein heißt nämlich, sich für die Literatur auch körperlich einzusetzen, nicht nur monetär. Für Autorinnen und Autoren, für Orte, an denen Literatur stattfindet. Heißt, Freiräume aufzusprengen, Aufmerksamkeit zu gewinnen, heißt, sich für etwas, jemanden zu entscheiden, heißt, eine Meinung zu haben, sich nach vorne zu stellen, mit Gesicht, mit Stimme, mit Mikro. Heißt, das Publikum zu schätzen, das mit den Füßen abstimmt. Mal sehen, wer heute kommt, ob jemand kommt…

Als ich 1999 nach Berlin umzog, mit Gedichten in meiner Tasche, lief ich von Lesung zu Lesung, um die anderen Dichter kennenzulernen. Die sollte es doch hier geben. Wo waren sie denn? Zunächst fand ich Veranstaltungsankündigungen in Zeitungen, dann fand ich Bekannte, Komplizen, Vertraute, Verrückte, war Mitglied verschiedener privater Lyrikkreise, die alle gemeinsam hatten, dass der Rotwein floss und die Luft aus Qualm waberte, dass die Egos aneinanderprallten, dass aber auch gemeinsame Publikationen erschienen. Ich organisierte mit anderen eine Lesebühne (visch&ferse), die sich jährlich auflöste und wieder neugründete, und einen mehrsprachigen Salon, den Hinterzimmer-Salon. Mal wurde ich eingeladen, mal lud ich ein. Mal stritt man sich, mal versöhnte man sich, manchmal las man sich nur noch auf Facebook. Da war etwas kaputt gegangen. Explosionen können gefährlich sein.

Aber zum Glück ist das Vertreten von Texten, die Text-PR, so emotional, so im- und explosiv. Neues entsteht, wenn Altes vergeht. In der aktuellen Ausgabe der Literaturzeitschrift Am Erker wurden gerade 13 Autorinnen und Autoren gefragt, ob zwischen Schriftstellern Freundschaft möglich sei. Allein diese Frage zeigt schon, wie vermint der Boden ist, auf dem sich Schreibende bewegen. Das Jahr ist zu Ende. Wir machen weiter. Weil wir daran glauben, dass nach dem Knall ein Nachhall bleibt. Wenn man zusammen an etwas glaubt und arbeitet.

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schluss mit dem wackelkontakt http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/schluss-mit-dem-wackelkontakt/ Wed, 28 Dec 2011 10:28:07 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6261 in einer stadt mit einer dichten dichte an dichterInnen dichten heisst dichten sprich schreiben sprich literatur(be)treiben aktiv sein schlechthin und das in einer stadt mit zweihundert nationalitäten davon hundertdreiundsechzig allein in meinem neukölln heisst ein zwischenspiel der vielen sprachen begegnen lesen übersetzen lesen und dann natürlich bierchen trinken das gehört dazu so könnte ichs mir vorstellen aber

leider bleiben die verschiedenen gruppierungen meist unter sich in dieser stadt obwohl man hats versucht ich denke an rage into the night im st. gaudy café oder ähnliche mehrsprachige lesungen im alten finanzamt oder eben auch der schöne samstagnachmittagliche hinterzimmersalon von einst oder eine schöne von lauter niemand bzw. no mans land veranstaltete schifffahrt an einem verregneten samstag im vergangenen sommer wo neben deutsch auch englisch und spanisch zu hören waren zumindest solange der wackelkontakt im mikrofon es zugelassen hat ja

das ist es vielleicht

den wackelkontakt aufzuheben der das gemeinsame literaturmachen stört sogar verhindert i have a dream

worin besteht denn meine ganz persönliche beteiligung in der literaturszene in dieser stadt? bekanntschaften und freundschaften unter schreibenden die lyrik und prosa schreiben sowohl englisch als auch deutsch ich gehe zu deren lesungen und treffe sie gelegentlich auch privat das könnte man nennen: passiver literaturaktivismus ich schreibe selbst lyrik auf englisch und übersetze deutsche lyrik vorwiegend von meinen freundInnen und bekannten ins englische übersetzungen die dann in zeitschriften erscheinen zum beispiel bei no mans land oder shearsman oder great works oder horizon review oder litter aber auch in einigen german poetry special features die in den usa erschienen sind – in der chicago review in der atlanta review in LITmag in shampoo und 2010 erschienen bei shearsman books auch meine übersetzungen von norbert hummelt im band berlin fresco dann noch zweisprachige lesungen unter anderem auch im poets corner im poesiefestival berlin oder in der lettretage gemeinsam mit andré jahn der meine gedichte ins deutsche übertragen hat aber auch auf besagtem boot an besagtem verregneten samstagnachmittag im sommer was man aktiver literaturaktivismus nennen könnte so habe ich sozusagen ein fuß in beiden lagern

im anglophonen lager ist mal mehr mal weniger los mit lesungen und regelmäßigen austausch mit anglophonen communities in prag paris amsterdam und mit kontakten auch zur insel denn jedes jahr im november gelingt es lyriker und lyrikerinnen aus großbritannien und anderen europäischen städten nach berlin zu locken um bei poetry hearings teilzunehmen unserem festival von anglophoner poesie in berlin habe ich prag erwähnt

denn

dort habe ich etwas erlebt was als vorbild dienen könnte wie man und frau die voneinander abgegrenzten literaturaktivismen in berlin zusammenbringen könnte i have a dream

it goes something like this

es wird gemeinsam in verschiedenen sprachen auf einer bühne gelesen – deutsch englisch spanisch französisch russisch und jede andere sprache in der in berlin geschrieben wird – und alle vorgetragenen texte werden vorher übersetzt in die jeweiligen anderen sprachen übersetzt und dann entweder mit vorgetragen oder projiziert

aber so was kann nur dann funktionieren wenn finanzierung gefunden wird um die übersetzungen zu bezahlen oder wenn engagierte menschen die übersetzungen unentgeltlich übernehmen wie ich so oft getan habe und soll das ganze denn an dem schnöden geld scheitern aber das wäre realer literaturaktivismus literarische integration

i have a dream

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Wozu ein Gedichteregen? http://superdemokraticos.com/laender/chile/wozu-ein-gedichteregen/ Wed, 21 Dec 2011 10:46:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6245

Der „Gedichteregen“ (Originaltitel: Bombardements mit Gedichten) ist ein Projekt des chilenischen Kollektivs Casagrande, bei dem 100.000 Gedichte von 80 zeitgenössischen Autoren aus Helikoptern auf Städte abgeworfen werden, die in der Vergangenheit Bombardements erleiden mussten. Dieses Projekt wurde bisher schon in Santiago de Chile (Chile, 2001), Dubrovnik (Kroatien, 2002), Guernica (Baskenland, Spanien, 2004), Warschau (Polen, 2009) und in Berlin (Deutschland, 2010) umgesetzt. 2012 folgt London.

Beim Nachdenken über den Film „Let the right one in”, den ich gerade gesehen hatte, fiel mir der ehemalige nordkoreanische Staatschef Kim Il Sung ein. Der Film hatte mich wegen seines mega-realistischen Fokus, den er auf das Genre Vampir-Film richtet, beeindruckt. Ich versetzte mich in die Rolle des Protagonisten, der ein Monster war, sympathisierte ich mit ihm und wünschte ihm, dass er die schrecklichsten Gräueltaten verüben möge. Es mag dumm klingen, aber während ich nach Hause ging, dachte ich lange über die moralischen Entscheidungen nach, die ich während des Filmes getroffen hatte, aus Angst, dadurch negative Aspekte meines Selbst preisgegeben zu haben. Vor allem wenn man bedenkt, dass die Geschichte erfunden war, meine Gefühle möglicherweise jedoch nicht. Ich kam zu keinem endgültigen Ergebnis, es kann schon sein, dass ich ein schlechter Mensch bin, aber wenigstens habe ich nach all den Jahren endlich eine Erklärung für die Bilder gefunden, welche von den Nachrichtenagenturen aus Nordkorea über den Tod von Kim Il Sung gebracht wurden: Dort gab es schreiende, weinende Menschen, die mitten auf der Straße Zuckungen und Anfälle bekamen oder ihre Köpfe gegen die Busfenster schlugen. Zu Beginn schienen mir alle verrückt zu sein, aber in Wahrheit (wie ich jetzt festgestellt habe), waren diese Menschen einfach nicht aus dem Kino herausgegangen. Ich dagegen konnte aufgrund der Freiheit, die ich besitze, die moralischen Kodexe, die mir ein guter Vampir-Film angeboten hatte, annehmen, aber sie auch wieder dort zurücklassen, und nach dem Verlassen des Kinosaals meine früheren Positionen wieder einnehmen. Diese Freiheit besitzen die Bewohner Nordkoreas nicht; sie leben innerhalb des Kinos.

Wie man weiß, sind die Filme, die die Regierungsparteien in Ländern ohne freie Wahlen zeigen, dazu bestimmt, um ihr Fortbestehen an der Macht zu rechtfertigen. Dank dessem wird die nationale Geschichte neu geschrieben, es entsteht ein Epos, der erzählt, wie die aktuelle Situation im Land entstanden ist, und es entstehen Riten zur Verehrung eines neuen Pantheons voller Helden-Darsteller jenes Epos. Als Resultat auf die Fiktion wird eine neue Realität geboren, die Menschen lernen, auf eine andere Art und Weise zu leben. Und wenn der „geliebte Führer“, das „verehrte Oberhaupt“ oder wie auch immer sich der verehrte Führer gerne nennen lassen will, stirbt, dann winden sie sich auf öffentlichen Straßen, als wären sie mit Chili vergiftet worden.

Die Fiktion kann auf viele verschiedene Arten Realität schaffen. Verschieden Studien haben gezeigt, dass beispielsweise die schulische Leistung zu einem großen Teil von der Erwartungshaltung der Lehrer abhängt. Ein Lehrer, der der Meinung ist, sein Schüler würde keinen Fortschritte machen, ist in der Lage diesen davon zu überzeugen und ihn zu einem mittelmäßigen Erwachsenen zu machen und umgekehrt ist es genauso möglich. Zusammengefasst heißt das, dass die Fiktion des Lehrers zur Realität des Schülers wird, als ob das Verhalten des einen die vorgeschrieben Umlaufbahn, in der sich der andere bewegt, definiert.

Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass sowohl Automobile als auch Himmelskörper vorgeschrieben Umlaufbahnen haben. Alles, was existiert und real ist, und somit auch die Fiktion, die ja nichts weiter als ein Vortäuschung der Realität ist, folgt einem Kurs, der vorhersehbar ist,  also an eine bestimmte Logik gebunden. Und es ist auch gut, dass das alles so ist, denn das erlaubt beispielsweise die Existenz des Lebens, welches ebenfalls vorhersehbar ist; man weiß ganz genau wann der Regen kommt und wann es sonnige Tage geben wird.

Die erlebte Erfahrung der Menschen während eines Gedichtregens ist ähnlich fiktiv; sie sehen nicht einfach eine Menge Papier aus einem Helikopter fallen, sondern etwas viel Tiefgründigeres. Und tatsächlich interpretieren sie jedes Gedicht, das vom Himmel gefallen ist und das sie auffangen konnten, als eine direkte und personalisierte Botschaft. Sie glauben bereits an die Botschaft, bevor sie diese erhalten haben.

Auf der anderen Seite beeinflussen die Gedichteregen durch die Anerkennung und die Legitimation des Schmerzes, den die Stadt erfahren hat, die Art und Weise in der sich die Bewohner dieses Orts mit der Stadt und ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. So wie mein Kollege Cristóbal Bianchi ein paar Jahre, nachdem wir dort Gedichte abgeworfen hatten, wieder nach Guernica reiste und ein paar Jugendliche befragte, wie ihre Erinnerung an das Bombardement sei. Ihm wurde eine Gegenfrage gestellt: „Welches der beiden? Das von 1973 oder das von 2004?“ In Guernica wird es niemals wieder ein Bombardement geben. Man kann sagen, dass die beiden Ereignisse, das eine als Trauma und das andere als Heilung, das eine als schreckliche und erfühlbare Realität und das andere als Simulation dieser Realität, aber als Fiktion im umgekehrten Sinn, dass diese zwei Ereignisse sind miteinander verbunden sind. Sie brauchen einander wie die beiden Pole eines Magneten.

Wir erschaffen, genau wie die Regierung in Nordkorea, eine Fiktion, wir erschaffen die Illusion, dass die Poesie, die vom Himmel herunter an einen Ort kommt, der mit Schmerzen verbunden ist, von absolut komplexem symbolischem Wert ist, aber wie auch der Regisseur eines jeden guten Vampir-Films zwingen wir die Menschen nicht, diese Fiktion außerhalb des Kinos zu akzeptieren. Natürlich sollten sie sie akzeptieren, aber sie sollten sich deshalb nicht auf dem Boden wälzen.

Übersetzung:
Barbara Buxbaum

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Hinter der Mauer, hinter Gittern http://superdemokraticos.com/themen/deutschland-themen/hinter-der-mauer-hinter-gittern/ Sat, 17 Dec 2011 00:16:45 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6214 Vielleicht lag es an unserer Unzufriedenheit. Uns war immer klar, dass Literatur keine Angelegenheit aus Papier ist, sondern eine gesellschaftliche Kraft. Mitte der achtziger Jahre betraf unsere Unzufriedenheit die Realität des osteuropäischen Sozialismus, der uns vorschreiben wollte, welche politischen Wahrheiten in unseren Texten zu stehen hatten und welche nicht. So entstanden die Leipziger Mittwochstreffen, auf denen wir in privaten Räumen Texte diskutierten, deren Publikation staatlich verhindert oder verboten worden war. Projekte wie das Unsichtbare Theater (das verschwiegene Themen in den Alltag der Großstadt Leipzig brachte) entstanden, und als die Staatssicherheit uns irgendwann einmal festnahm, lasen wir (die Dichterin Jayne Ann Igel und ich) beim Warten aufs Verhör in den Polizeifluren Gedichte vor, bis man uns die Bücher wegnahm – und wir mit all den Gedichten weitermachten, die wir auswendig kannten… Nicht zufällig gehörten etliche Besucher solcher literarischen Aktionen auch zu den ersten Leipziger Demonstranten im revolutionären Herbst 1989.

Mitte der Neunziger ging es in Berlin weiter: Neue Wirklichkeiten schufen neue Allianzen. Aus den Salons und Performances im familieneigenen Restaurant Walden entstanden neue Netzwerke literarischer Aktivisten. 2004 wurde die Berliner Literarische Aktion ein „eingetragener Verein“, was die Geldbeschaffung für Projekte zwar erleichterte, gleichzeitig aber viel Bürokratie (ohne Geld) bedeutet. Neben regelmäßigen Salons (unser Literatursalon am Kollwitzplatz ist ein Kontaktpunkt für Künstler aller couleur) sind diverse ungewöhnliche Projekte entstanden. Besondere Wirksamkeit entfaltet derzeit die Literatur hinter Gittern, bei der wir mit international bekannten Autoren in Gefängnisse gehen, um Lesungen und Workshops mit Gefangenen zu realisieren. Anfangs gingen wir nur sporadisch in die großen Männerknäste Berlins, später auch in die legendäre U-Haftanstalt Moabit, oder in kleinere Frauengefängnisse und in die Jugendstrafanstalt, was zunächst auf große Widerstände stieß. Daraus erwuchs ein Programm, das wegen der Nachfrage inzwischen das ganze Jahr läuft. Mancher skeptische Gefängnisbeamte erkannte den Sinn des Projekts allmählich an und gesellt sich heute selbst gern dazu, wenn wir international erfolgreiche Autoren in Kontakt mit diesem besonderen Publikum bringen. Die Energien, die bei einer Literaturveranstaltung im Knast fließen, sind so ungewöhnlich, dass unter den internationalen Autoren das Interesse im Gefängnis zu lesen mittlerweile so groß ist, dass wir gar nicht alle „Bewerber“-Wünsche realisieren können. Natürlich gibt es im Knast nichts zu verdienen als den Respekt der Gefangenen − und der organisatorische Aufwand für solche Veranstaltungen ist im Vergleich zu „freien“ Lesungen bedeutend höher. Mittlerweile ist unser Modell jedoch auch in Großbritannien, Nordirland, Italien, Spanien, Griechenland und Zypern gefragt und ist Teil europäischer Langzeitprojekte zur Kultur in Gefängnissen.

Bei all unseren Aktionen geht stets um eine direkte geistige Auseinandersetzung mit praktischen Folgen für alle Beteiligten: Dafür erfinden wir immer neue Formen. Literatur als Lebensmittel, als Triebmittel für die verflixte Kultur, in der wir leben… Es freute mich deshalb, als die chilenische Gruppe Casagrande aus Santiago mich neulich einlud, ein Geleitwort zum Buch über ihre Aktion Bombardeo de Poemas Sobre Berlin vom Sommer 2010 zu schreiben. Unter den 100.000 Gedichten junger deutscher und chilenischer Dichter, die aus einem Helikopter über Berlin Mitte abgeworfen wurden, war auch eines von Roberto Yañez (hier ein Text, den er für Superdemokraticos schrieb). Er ist der Enkel von Margot Honecker, jener berüchtigten ostdeutschen Ministerin, die uns damals in Leipzig das Leben so schwer machte. Dass Roberto heute als freier Dichter in Santiago lebt, ist ein großartiges Zwischenergebnis. Vielleicht liest er demnächst mal bei einer unserer Aktionen in Berlin?

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Rote Fahne http://superdemokraticos.com/trip-latino/rote-fahne/ Thu, 10 Nov 2011 14:31:17 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5776 Werbevideo!! Auf unserer Reise von Venezuela über Kolumbien und Bolivien bis Mexiko treffen wir auf die Autoren, mit denen wir seit 2010 für das zweisprachige Blog www.superdemokraticos.com, ein Pilotprojekt für intellektuelles Fairtrade zwischen Deutschland und Lateinamerika mit Essays über globale Fragen, arbeiten. Das Gedicht „Rote Fahne“ des deutschen Dichters Jörg Fauser mit den Stimmen unseres Berliner Teams und Publikums beschreibt die Situation in einem durch eine Ideologie getrennten Land.

Auf unserer Reise wollen wir andere literarische Aktivisten treffen, ihre Texte kennenlernen und Erfahrungen austauschen, wie es mit dem Schreiben im Cyperspace aussieht. Die Mikrophone der Superdemokraticos warten auf all diejenigen, die ihre Arbeit vorstellen wollen. Mit dabei haben wir als Geschenk die spanischsprachige Anthologie mit Gedichten von Berliner Dichtern, die als literarische Aktivisten unterwegs sind „El mecanismo de estar acá“ (Der Mechanismus des Hierseins), erschienen bei Milena Berlín.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=Bww-IkP5xIk[/youtube]

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Brief an die Kultursenatorin der Hansestadt Rostock http://superdemokraticos.com/themen/intellektuelle/brief-an-die-kultursenatorin-der-hansestadt-rostock/ Sun, 23 Oct 2011 07:00:41 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5365 Hansestadt Rostock
Kultursenat der Hansestadt Rostock
Frau Dr. Liane Melzer

Spielzeitheft 11/12 des Volkstheaters Rostock
Ihr Vorwort

Sehr geehrte Frau Dr. Melzer,

im oben genannten Spielzeitheft des Volkstheaters Rostock schreiben Sie, dass „das Theater Bildung vermittle und Kreativität fördere“. Dazu möchte ich gerne einiges ergänzend anführen und danke Ihnen vorab für Ihr freundliches Interesse:

Ihrer Wunschbetrachtung, das Theater als eine Bildungseinrichtung zu begreifen, kann das Theater aufgrund seiner Beschaffenheit nicht nachkommen. Das Theater ist keine Schule und auch kein schulisches Ergänzungsangebot, sondern ein Ort der Subjektivität. Der Spielplan des Theaters ist kein Lehrplan, sondern eine reine Befindlichkeit und Befindung. Anders als in Schulbüchern und Nachschlagewerken, liegen die Themen der Texte gerade nicht zur Entnahme bereit, sondern unter einer Textoberfläche verborgen, durch die zuerst die Kollegen vom Theater und schließlich die Zuschauer hindurch greifen müssen. Statt Bildung zu vermitteln, ist das Theater damit befasst, den Unterschied zwischen Bildung und Einbildung sichtbar zu machen. Dabei ist es zu keiner Zeit der Verwaltung oder sonst einer Ordnung verpflichtet, sondern ausschließlich seinen Figuren. Die Mittel des Theaters sind weder die Agitation, die didaktische Beeinflussung, noch die Bekundungen der Demokraten, sondern die Mittel der Literatur, insbesondere die Überhöhung, die Allegorie und die Abstraktion. Gerade aus dem Umgang mit diesen Mitteln ergibt sich ein Mehrwert an Information, ein anderer Blick auf die Dinge, wegen dem der Zuschauer in das Theater kommt. Nicht die Bildung treibt den Zuschauer dorthin, sondern sein Zweifel an ihr

Demnach ist das Theater kein Ort der Bildung, sondern ein Ort des Zweifels. Der Betrieb des Theaters ist nun kein Luxus für eine privilegierte Minorität, sondern ein Zeichen des Vertrauens der Administration an die Mündigkeit des eigenen Volkes und der Bevölkerung. Die Funktionstüchtigkeit des Theaters ist nicht über die Anzahl der verkauften Eintrittskarten und sonstige betriebswirtschaftliche Faktoren zu messen, sondern über seine Diskurskraft, die es in die Stadt hinausträgt. Nicht der wirtschaftliche Erfolg, sondern das Bereitstellen von Unruhe, Unordnung und Unsicherheit ist die tatsächliche Leistung des Theaters

Das Theater, das gerade noch Spiegel der Stadt war, wird nun durch die Stadt widerspiegelt. Es arbeitet, natürlich im Wissen um die Vergangenheit der Stadt und das Zustandekommen dieser Vergangenheit, nach vorne, also in die Zukunft gerichtet oder anders gesagt: eine Stadt, die ohne ein Theater auskommt, wobei es völlig unerheblich ist, ob das Theater in eine Schule, ein Sport- und Kongresszentrum ungewidmet, dem Erdboden gleichgemacht auf der Stelle vergessen wird, ist eine Stadt der Vergangenheit, in der die Bewohner dieser Stadt anstatt zu wachsen und wachsen zu können, mit jedem Jahr kleiner werden, bis sie schließlich nicht mehr da sind

Bevor ich nun meine Ausführungen beende, möchte ich noch kurz auf den Begriff „Kreativität“ eingehen. Dieser Begriff, der einmal als Synonym für einen ergebnisoffenen Versuch stand, ist durch eine inflationäre, nicht seinem Sinn entsprechende Benutzung sinnentleert und blöde geworden. Kreativität bedeutet heute nichts anderes als Dreck, miese Bezahlung und stumpfsinniges Arbeiten unter unerfreulichsten Bedingungen. Kreativ sein in Berlin, bedeutet Dreck sein in Berlin. Kreativ arbeiten, bedeutet unbezahlt für andere arbeiten. Die so genannte kreative Arbeit ist heute nicht mehr, als eine Beschäftigung. Schon die Bezeichnung „Kreativindustrie“, die für die Vermarktungsbranche Anwendung findet, zeigt auf, wie unbrauchbar der Begriff Kreativität für die Beschreibung von Kunst und künstlerischer Arbeit geworden ist. Wie die Kultur, ist die Kreativität evaluierbar und entsprechend durch jene, die diese Bewertung durchführen, zu beeinflussen. Die Kunst entzieht sich dieser Bewertung, sie ist unabhängig, worin ihr tatsächlicher Wert liegt.

Es grüßt Sie herzlich aus Berlin
Oliver Kluck

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Leerer Fischladen im Wedding http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/leerer-fischladen-im-wedding/ Thu, 29 Sep 2011 05:50:30 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5156

(c) Ulla Loge

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Das transtemporäre Schawarma http://superdemokraticos.com/laender/guatemala/das-transtemporare-schawarma/ Fri, 23 Sep 2011 06:29:15 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5099 In jener kleinen Straße in Kreuzberg gibt es einen ganz besonderen Schawarma-Laden. Ich werde euch die genaue Adresse nicht verraten, denn es ist einfacher sich der Entropie hinzugeben und einfach auf ihn zu stoßen.

Genau so habe ich ihn gefunden, aus blindem Zufall, nachdem ich drei Stunden lang verloren durch Berlin irrte und versuchte die Bibliothek des Iberoamerikanischen Instituts zu finden. Ich wollte dort ein bisschen über Zeitreisende nachlesen und in einigen brasilianischen Chroniken des deutschen Expeditionsteilnehmers Hans Staden recherchieren, aber schlussendlich besiegte mich am Ende der Hunger und die Verzweiflung, darum betrat ich den kleinen Schawarma-Laden.

Ich bestellte mir zwei.

Sehr lecker das erste Sandwich. Und dann das zweite, irgendetwas mussten sie mir hineingemischt haben, denn auf einen Schlag verstand ich, dass der Drehspieß, auf dem das Fleisch seine Runden drehte, in Wahrheit eine Vorrichtung sui generis ist, welche dimensionale Sprünge von Personen aus verschiedenen Zeiten und Orten ermöglicht. Ich schwöre, genau so ist es. Warum sollte ich euch auch anlügen? Das ist ein Artikel und keine Fiktion. Jedenfalls sah ich, während ich auf einem saftigen Stück Lammfleisch kaute, wie vor diesem Drehspieß ein Kubaner erschien, oder er erschien mir eben als solcher, dunkelhäutig, gekleidet genau wie ein Galan der 1950er, in Begleitung von drei Frauen, herausgeputzt für den Karneval von Rio.

Der Kubaner und seine Begleiterinnen erstrahlten im Glanz der Aale in Gewässern der Dunkelheit. Sie begannen Hegels Dialektik zu diskutieren und hauten sich gleichzeitig gegenseitig auf den Hintern. Sie sprachen perfektes Englisch und schienen wirklich aus einer anderen Zeit zu sein, denn mit keinem Wort erwähnten sie Fidel Castro. Das fand ich sehr gut. Cha Cha Chá: Der Drehspieß war ein einziger Lichtstrahl.

Nach kurzer Zeit sah ich ein neues Funkeln aufleuchten … ein Gesicht zeichnete sich ab, wie ein außerirdisches Poster an der Wand eines Teenager-Zimmers. Es war eine Albino-Frau. Ich würde sie ja blond nennen, aber das Wort würde ihr nicht gerecht werden. Weiß, wie die weiße Magie des Milchpulvers. Ihre Gesichtszüge hingegen waren die eines Menschen mit indio-amerikanischen Wurzeln. Aztekin, vielleicht. Das auffälligste an ihr war aber, dass sie einen Huipil, einen traditionellen Umhang aus präkolumbischer Zeit trug, mit all den typischen Färbungen, aber mit einem sehr modernen Hoody integriert als schillernden Federbusch. Sie sah mir direkt in die Augen und vermittelte mir ein telepathisches Wissen, das mich zum Weinen brachte. Die anderen Gäste dachten, meine Tränen rührten daher, dass ich zu viel Chili in meine Tacos getan habe.

Ich ging auf die Toilette und kam nach wenigen Minuten zurück.

Der Nächste, der erschien, war Muammar al-Gaddafi. Oder jemand, der ihm wirklich sehr ähnlich sah, etwa 15 Jahre älter. Ein Klon, der aus der Zukunft kam? Genauso gruselig und grausam, er wand er sich in einer Sprache an mich, von der ich annahm, dass es Griechisch sei: „Was guckst du, blöder Hund?“, keifte er. Und ich verstand es. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass er mir keine Angst gemacht hat, aber anstatt zurückzuschrecken konterte ich mit einer heftigen, politischen Tirade, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnere und die den libyschen Führer nicht einmal mit der Wimper zucken ließ. Er ging einfach weiter, sein Schawarma kauend, mit einer Afri Cola in der Hand.

Während ich verdaute, wurde mir bewusst: Das ist mein Berlin.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Gentrifizierung http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/gentrifizierung/ Mon, 19 Sep 2011 13:06:08 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5061

 

Einer der letzten Wohnblöcke von Berliner Einheimischen im Zentrum der Stadt … wurde renoviert.
… und sie werden nicht zurückkehren.

(c) Ulla Loge

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Mit unserer Berliner Schnauze… http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/mit-unserer-berliner-schnauze/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/mit-unserer-berliner-schnauze/#comments Thu, 01 Sep 2011 07:03:33 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5023 Ich beginne dieses Editorial mit dem körperlichen Drang, einen Spaziergang über ein Minenfeld machen zu wollen. Es liegt nicht daran, dass ich nicht genauestens definieren könnte, wie das Bild des typischen Deutschen im spanischsprachigen Raum, möglicherweise sogar weltweit, ist. Nein, ganz im Gegenteil, seit 14 Jahren beantworte ich immer wieder dieselben Fragen. Aber wenn alles so kalt ist, wie man denkt, so strikt, so rassistisch, wenn die Sprache unaussprechlich ist und den Deutschen jeglicher Sinn für Humor fehlt – warum tue ich mir das dann an? Warum bleibe ich? Warum lebe ich hier?

Die Welt, zumindest meine Generation, hat ein Bild von Deutschland, für das nicht die Deutschen selbst, sondern die US-Amerikaner verantwortlich sind. Deshalb ist „Heil Hitler“ wohl das erste, was ein Deutscher in meinem Land als Grußformel hören wird. Das liegt einerseits an der totalen Unkenntnis der deutschen Geschichte und andererseits an den Hollywood-Filmen, durch die dieses Klischee am Leben erhalten wird. In meinem Fall wird die Tatsache, mich in einer so verzwickten Sprache verständigen zu können, als eine hervorragende Leistung angesehen, da außer für Philosophiestudenten Deutsch in den meisten westlichen Ländern seit langem keine Weltsprache mehr ist.

Die Deutschen haben nicht gerade den Ruf freundlich zu sein, nicht einmal innerhalb Europas. Daher kommt es auch, dass sich bei der Zunahme an Inner-EU-Beziehungen, Englisch langsam als die Sprache unter den jungen Leuten aufdrängt, auch in den Straßen Berlins. Niemanden kann das spektakuläre Scheitern der „Blauen Karte“ verwundern, einer limitierten und bürokratischen Version der US-amerikanischen Green Card, mit welcher die Deutschen eine Zeit lang versuchten, das Profil der Migranten zu verbessern, die in die Bundesrepublik Deutschland kommen.

Hier in Deutschland wartet ein Großteil der Gesellschaft diskursiv darauf, dass ihre Migranten sich integrieren, aber die Mehrheit der darauf ausgerichteten Programme prallen auf dieses Gefühl der autarken Überlegenheit, die von Anfang an jegliche produktive Annäherung verhindert. Von der Regierung angebotene Sprachkurse sind hierfür das anschaulichste Beispiel: Sie sind nicht dazu gedacht, die Neugier derjenigen, die aus Interesse an der Kultur hierherkommen, zu stillen. Es scheint, als wäre es für die Deutschen absolut unbegreiflich, wie jemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, die Entscheidung treffen könne, dieses Land besser kennenzulernen, etwas darüber zu lernen. Die Integration auf dem Arbeitsmarkt zielt darauf ab, die Migranten in die Dienstleistungskette zu integrieren anstatt sie als Individuen zu akzeptieren. Es scheint so, als ob die Regierung oder die Gesellschaft selbst nicht in der Lage seien, den Intellekt der Neuankömmlinge anzuerkennen und zu akzeptieren, und das, obwohl unsere Generation hier auch weltoffen ist. Die Regierenden repräsentieren uns nicht.

Deshalb soll das Bild, das wir als Los Superdemokraticos über Deutschland zeigen wollen, das genaue Gegenteil der klassischen Klischees sein, die dieses Land und seine Traumata verfolgen. Los Superdemokraticos sind ein weiterer Beweis dafür, ebenso wie die Initiative junger mehrsprachiger Deutscher DeutschPlus oder der Zusammenschluss Neue Deutsche Medienmacher, dass sich Thilo Sarrazin und viele andere rechtspopulistische Politiker täuschen, wenn sie versuchen, uns davon zu überzeugen, dass die Integration gescheitert ist oder dass der eigentümliche deutsche Charakter unerschütterlich ist. Denn wenn das so wäre, würde Kreuzberg nicht existieren, aber es existiert. Unsere alternative deutsche Gesellschaft ist reich an Erfahrungen, an Facetten, an Akzenten und erfüllt von einer menschlichen Wärme, die jeden überrascht. In unserem Kontext existieren nur Bürger, die gemeinsam eine neue Gesellschaft erschaffen, in der Lachen zum Tagesgeschäft gehört und Deutsch unsere lingua franca ist.

Im September, im Monat der Wahlen in Berlin, schreiben unsere Autoren über die verschiedenen Aspekte des Deutschseins und des Bildes, das dieses Land inne hat. Damit wollen wir dazu beitragen, dass sich die Missverständnisse auflösen. Das Deutsch, das wir sprechen, ist intelligent und unterhaltsam, auch wenn es grammatikalisch nicht immer perfekt ist. Die „Berliner Republik“, die wir repräsentieren, ist jung, multikulturell und weltoffen. Sie hat Regierende verdient, die wacher und in der Lage sind,sie zu verstehen. Wir denken nicht daran, unsere Berliner Schnauze zu halten …

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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