Axolotl – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Bertolt Brecht Roadkill (Berliner Chronik in 6 Akten) http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/bertolt-brecht-roadkill-berliner-chronik-in-6-akten/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/bertolt-brecht-roadkill-berliner-chronik-in-6-akten/#comments Mon, 29 Nov 2010 10:59:42 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3245

1. Berlín, Pulquería

Vor ein paar Wochen lud mich Nikola Richter in ihre schöne Kreuzberger Wohnung zum Essen ein. Niko ist eine junge deutsche Frau, die, abgesehen davon, dass sie eine exzellente Schriftstellerin ist, Jazzgeige lernt und verschiedene kulturelle Projekte mit der Geschicklichkeit einer Logos-Athletin leitet.

Bevor wir uns an jenem Abend an den Tisch setzten, sagte ich zu ihr, dass Berlin sich – mit der Geschwindigkeit und der Gewalt eines Blitzes – in das Hätschelkind des Parnass meiner Lieblingsorte verwandelt hatte. Möglicherweise erschien Nikola diese Behauptung etwas frühreif, aber sie akzeptierte sie mit einem Lächeln, während sie die Zucchini in die vorgefettete Pfanne legte.

Die Nudeln waren ausgezeichnet, fast so gut wie das Gespräch. Wir haben über alles Mögliche geredet, von alternativen argentinischen Verlagen (wie Clase Turista) bis hin zu den intimen und aufschlussreichen Eindrücken, welche die verschiedenen Mitwirkenden von „Los Superdemokraticos“ bei uns hinterließen. Ja, ich stimme Luis Felipe Fabre zu: Es gibt nichts Schmackhafteres als literarische Gerüchte, so gingen wir ohne die Last des Gewissens zum Vergnügen über.

Die Nacht davor haben wir den ein oder anderen Mezcal in der „Pulquería“ Kreuzbergs getrunken, gegenüber vom Görlitzer Park. Ich hatte gerade eine fast 20stündige Reise hinter mir, mit Zwischenlandungen und Flughafen-Wartezeiten, aber ich beschloss, mich der lustigen Truppe anzuschließen und mich vor dem Schlafengehen zu betrinken. Das könnte ich gleich nutzen, so dachte ich, um allen das Amulett, das ich vor ein paar Wochen in Buenos Aires erstanden habe, zu zeigen: einen Plastik-Gorilla, der aus dem Mund Feuer spuckt und seinen Blick mit Infrarot-Licht entzündet.

Es war die totale Freude, als ich meinen neuen Freunden ihre Gauloises damit anmachte… Alle zeigten sich vom Feuer des magischen Affen in den Bann gezogen. Vor allem ein Mädchen, Aline-Sophia, die auch in Delfine verliebt ist.

2. Lucullus, der Prozess

Beim Schreiben vollziehe ich ein Crossover. Ich gehe von einer Sprache in eine andere über. Ich bin ein Geschichtenerzähler, der von seinen Lügen bis zum Text reist.

Auf der Seite sehe ich wie das, was ich vorher erfunden habe, stirbt. Und dieser Kadaver ist es, den einige Literatur nennen.

Wenn ich gefragt werde, warum ich zu schreiben begann, habe ich zwei, oder sogar drei Geschichten als Antwort parat. Es kommt darauf an, ob ich in einer Bar oder in einer Buchhandlung bin. Oder ob mich ein Journalist fragt. Ich wähle die Geschichte je nach meinem Umfeld und meiner momentanen Stimmung aus.

Der Ausgangspunkt für meine Liebe zur Poesie, so erzähle ich Nikola, während ich meine Gabel in der Zucchini-Pasta versenke, lag in einer Oper in gebundener Rede: „El proceso de Lúculo“ von Bertolt Brecht.

Mit 17 spielte ich als einer der Schauspieler das besagte Stück mit der Theatergruppe der Schule. Meine Rolle war die des „Schattens“, der mit fahler Stimme das Gewissen des römischen Generals Lucullus anklagt, der kurz davor steht in der Intra-Welt verurteilt zu werden. Die fahle Stimme, der Schatten, geschminkt im Stil von Brandon Lee in The Crow (Die Krähe), erklärt dem Publikum das Ausmaß des Schadens, den der Diktator seinem Volk zugefügt hatte. Die Figur spricht auf eine metaphorische Weise, elliptisch, und entfaltet eine dichte Aura des Mysteriums, während die anderen Figuren, die Mitglieder des intraweltlichen Gerichts, sich von einem triumphalen Fries lösen.

Es ist sehr witzig, sehr seltsam, aber niemand von meinen Bekannten hat jemals dieses Stück von Brecht gelesen. Nichtmal die Brechtischsten unter den Brechtischen. Es hat sogar schon mal jemand mir gegenüber angedeutet, dass die Regisseurin der schulischen Theatergruppe möglicherweise den Autor verwechselt hat und wir schlussendlich das Stück eines anderen inszeniert hätten. Eine befreundete Schauspielerin, die etwas dreister, skeptischer und misstrauischer ist, sagte zu mir, dass es sich unter Umständen um eine Farce handelte, etwas, das ja in der Welt des Theaters gar nicht so ungewöhnlich ist: ein Werk, das von genau der Regisseurin verfasst wurde, die zu uns aus einer seltsamen Mischung aus Schüchternheit, Opportunismus und Scham meinte, dass das Stück von Brecht sei.

Ich erinnere mich daran in den letzten Jahren öfter Google-Suchen gestartet zu haben, alle vergeblich. Ich gab „El proceso de Lucullo“ ein – nichts, kein einziges Ergebnis… Manchmal habe ich „El proceso de Lucuyo“ eingegeben und die Leere wurde noch unermesslicher. Es kam sogar so weit, dass ich dachte, das Stück hätte in Wahrheit nie existiert und mein Kopf habe es nur erfunden, um dem Moment meiner Initiation in die Kunst einen würdevollen Ursprung zu verschaffen. Nikola war von der Geschichte fasziniert und schlug mir vor das Brecht-Haus und sein Grab, das sich auf dem Friedhof genau gegenüber von seinem Wohnhaus, in der Chausseestrasse, befindet, zu besuchen. Mit Begeisterung antwortete ich ihr: Ja, das müssen wir machen, sobald es geht, dorthin gehen, fragen, Fotos machen, und es dazu nutzen, dass ich eine Chronik über die Suche nach diesem unbekannten Brecht-Stück schreiben könne.

Das wäre ein perfekter Text für Los Superdemokraticos!

3. Fotos im Görlitzer Park

Am Morgen des 12. November 2010, einem Freitag, hatte ich einen Termin mit dem Fotografen Ekko von Schwichow, im Görlitzer Park, zu einer Fotosession.

Die Nacht davor hatte ich meine Lesung auf der Latinale. Ich las verschiedene Gedichte, wahrscheinlich nicht diejenigen, die ich bevorzuge, aber ich kam mit einem blauen Auge davon. Obwohl ich eigentlich ein „alter Hase“ bei öffentlichen Lesungen bin, war ich diesmal wesentlich nervöser als sonst und brachte sogar die Reihenfolge der Seiten, von denen ich las, durcheinander, was mich dazu zwang, das Lesen meines wohl besten Gedichtes zu unterbrechen. Ich musste die Veranstaltung vor einem erwartungsvollen Publikum im Saal des Berliner Instituto Cervantes eröffnen.

Als er mich in den Park kommen sah, fragte mich Ekko wie es mir bei der Lesung ergangen sei. Ich zog es vor ihm, die Details nicht zu erzählen und fasste alles mit dem klassischen „Gut, sehr gut“ zusammen.

Ekko von Schwichow machte unter anderem schon Aufnahmen von Haruki Murakami, Susan Sontag, Jean Baudrillard, Umberto Eco und Henning Mankell, aber das wusste ich vor dem Shooting noch nicht. Das war für mich von Nutzen, denn es erlaubte mir voller Ungezwungenheit zu posieren, mich mit einer gewissen Verwegenheit durch die herbstliche Berliner Gegend zu bewegen (wenn man von meinem blutenden Kater absieht).

Als das Shooting vorbei war, erzählte mir Ekko von seiner Leidenschaft für das brechtsche Werk, einfach so, ohne ersichtlichen Grund. Das kam mir weder seltsam, noch mystisch vor… bedenkt man die Popularität, die der Dramatiker, vor allem in Deutschland, genießt. Brecht zu mögen ist fast schon natürlich, deshalb fragte ich Ekko, ob er das Theaterstück „El proceso de Lucullo“ kenne.

Wie alle anderen auch, verneinte er dies.

4. Rery, Superdemokratica

Die Vergangenheit ist ein Polaroid der Zukunft. Und die ewige Gegenwart ist die Bewegung der Fotografie in unseren Händen, während sie sich entwickelt.

Als ich Rery Maldonado (die andere Kommandantin von Los Superdemokraticos, neben Niko) kennen lernte, fühlte es sich an, als würde ich eine Bewohnerin meiner Zukunft und meiner Vergangenheit treffen, die sich in dieser Gleichzeitigkeit präsentiert. Der Archetyp der kämpferischen Frau in bolivianisch-deutscher Version, die einfach so auf mich aufpasst. Eine Süßigkeit, ein Bonbon aus anarchistischem Zyanid.

Rery ging nach Bolivien, gleich nachdem die Latinale vorüber war, und überließ mir deshalb leihweise ihre Wohnung, die auch in Kreuzberg liegt. Eine schöne Wohnung, geräumig und voller Bücher, in der ich begann, Werke von Brecht zu suchen, um mich dann von den verschiedenen Wundern ablenken zu lassen, die ich fand: von Drei traurige Tiger bis hin zur ersten Ausgabe von Entre la piedra y la cruz (Zwischen dem Stein und dem Kreuz) von Mario Monteforte Toledo.

Als ich mich bei Rery eingerichtet hatte, war das erste, versuchte ich als erstes, ins Internet zu kommen, wie ich es immer mache. Aus irgendeinem Grund konnte ich das WLAN nicht benutzen und musste deshalb den Computer meiner Freundin anschalten… Die deutsche Tastatur verursachte mir zu Beginn schwerwiegende Probleme, aber ich konnte sie mit Hilfe meiner Erfahrung mit der französischen Tastatur bändigen.

An jenem Nachmittag las ich die Mails und stieß auf diese Email von Ekko von Schwichow:

„Hallo Alan,

wie läuft deine Nachforschung? Das Stück von Brecht, das ursprünglich für das deutsche Radio geschrieben wurde, heißt: „Das Verhör (interrogatorio) des Lukullus“, 1951. Hast du sonst noch was gefunden?

Ich schicke dir als Anhang die Daten der Bilder – wenn sie dir gefallen, sag mir welche genau; ich hoffe du kannst die Nummern sehen??

Liebe Grüße

Ekko“

Als ich diese Mail las, wurde mir klar, dass ich aus einem einfachen Grund niemals Ergebnisse für den Prozess des Lukullus auf Google gefunden habe: ich hatte „Lucullo“ oder gar „Lucuyo“ in das Suchfeld geschrieben…

Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ein paar Buchstaben den Übergang in die unbekannte Dimension bilden können.

5. Berlin, Axolotl Roadkill

Vor einer Woche konnte ich, dank Johanna Richter (die übrigens nicht mit Nikola Richter verwandt ist) den touristischen Rundgang absolvieren und die Fotos machen, die ich mich immer weigere zu machen, wenn ich Reisen dieser Art unternehme. Ich hatte mich dazu entschlossen, da ich kürzlich in einem Artikel las, dass die touristischen Orte von den Snob-Reisenden vermieden werden, ohne dass diesen klar wird, dass diese Orte berühmt für etwas sind, dass es einen Grund für ihre Popularität gibt.

Im Fall von Berlin bestätige ich diese Behauptung. Die gesamte, für die Touristen bereitstehende Szenerie ist wirklich magnetisch. Eine Stadt, die die historische Erinnerung als Referenz für den Konsum von Bildern der Postmoderne benutzt: meta-historischer Tourismus.

Ich machte einige Bilder mit der Kamera von Johanna, die mit mir eine gekürzte, aber effiziente Tour durch die Zone, in der die Mauer stand und durch das Zentrum machte, mitten im aufkommenden Berliner Winter.

Die Konversation bei der Rückkehr nach Kreuzberg war eine wahre Freude: Johanna macht ihren Doktor in Literatur des 19. Jahrhunderts und sprüht vor Weisheit. Ein Teil unseres Gesprächs drehte sich um den aktuellsten und aufsehenerregendsten Fall von Plagiat in der deutschen Literatur: das Buch Axolotl Roadkill von Helene Hegemann. Es handelt sich um einen Roman (Bestseller), in dem die Technik der Montage verwendet wurde, Fragmente von Blogs und Büchern, welche die Autorin gelesen hatte, wurden darin wiederverwertet. Ausgehend von diesem Fall, diskutierten wir lange über die Grenzen der Urheberschaft, über die Gestaltung eines Buch in der heutigen Zeit, wie das Schreiben funktioniert, usw.

Wir haben auch unsere Nostalgie für Ezequiel Zaidenwerg geteilt, der nach dem Abschluss der Latinale Deutschland verlassen hat. Eze, wie wir Freunde ihn nennen, war zweifelsfrei die Offenbarung des Treffens lateinamerikanischer Poeten in Berlin, er zog das Publikum mit der Kraft und der Eleganz seiner Poesie in seinen Bann. Dieser geschätzte Freund und argentinische Dichter war gemeinsam mit der Puerto Ricanerin Mayra Santos Febres, die am stärksten leuchtenden Perlen der Veranstaltung.

Es bleibt nur nebenbei zu erwähnen, dass Mayra mir mit der Hilfe ihrer Orishas, während eines Abendessens, fast am Ende des Festivals, eine spirituelle Lesung abhielt. Den Nagel auf den Punkt treffend, sagte sie zu mir: „weißt du, du fühlst einfach genau das, was die anderen auch gerade fühlen“…

Und ja, das ist es was mit mir los ist.

6. Brecht, der Affe

Während wir auf einer wirklich, aber wirklich verrückten Party, ebenfalls in Kreuzberg, tanzten, erklärte ich Barbara Buxbaum, meiner Übersetzerin und Freundin, warum ich schlussendlich das Haus von Brecht doch nicht besucht hatte:

– Naja, weißt du, der Affe. Erinnerst du dich? Der, der aus dem Mund Feuer spuckt? Der hatte meine Seele all die Tage entführt, mir die Freiheit genommen… und mir nur erlaubt zu feiern – sagte ich.

– Ach, mein lieber Axolotl – antwortete Barbara und lachte laut auf.

– Aber wir waren auf einem Konzert von Brecht-Weill, mit Nikola – füge ich hinzu.

Bilder: Alan Mills

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Und schlussendlich wird man von einem Schwanzlurch-Besitzer als Domina gedacht! http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/und-schlussendlich-wird-man-von-einem-schwanzlurch-besitzer-als-domina-gedacht/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/und-schlussendlich-wird-man-von-einem-schwanzlurch-besitzer-als-domina-gedacht/#comments Thu, 04 Nov 2010 13:05:33 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3146 Es war hart und atemstockend, aufregend und heiß.

Fünf Monate fremde, unbekannte Texte übersetzen, bearbeiten, ermahnen, „bloggen“ – die für mich neue Technik. Ich kann sagen, ich habe gelernt. Sehr viel sogar.

Wireless, unter tunesischer Sonne, am Pool, fand ich es cool, zwischen bodenständiger Bespaßung behinderter Menschen komplexe kubanische Beiträge für Los Superdemokraticos zu übersetzen. Als ich dann in der Mitte des inexistenten Sommers an der Ostsee immer wieder die Frage hörte: „Wie, du willst jetzt noch arbeiten – nachdem du von acht Uhr morgens bis elf Uhr Nachts Gruppen von 14 Leuten koordinierst, und wir den ganzen Tag Achterbahnfahren waren?“, da wurde es härter. Allabendlich über dem Laptop einzuschlafen, ist eigentlich nicht mein Style.

Die wahre Herausforderung, mein persönliches reto, durfte ich in Ungarn erleben. Plattensee, Nebensaison, Deadzone: estaba jodida. Ich habe gelernt, wie lange man an einem Wort hängenbleiben kann, dessen Bedeutung man eigentlich zu kennen glaubte. Wie schwer das Alphabet doch ist, wenn man wieder old-school mit Wörterbuch arbeiten muss. Während die maximal fünf Menschen, die in diesem Ferien-Ort aus widrigen Umständen, wie den unsrigen, noch bleiben mussten, schliefen, und ich mich nachts, heimlich, aus dem Haus schlich, die Horror-Szenario-Kulisse einer Allee passierte, über vom Sturm entweihte Äste fuhr und versuchte, den hoffentlich katzenartigen Gestalten, deren Augen aus dem Dunkeln hervorglühen, auszuweichen.

Das alles nahm ich nur deshalb auf mich, um zu einem Hotel oder der ungarische Version von Paules Metal-Eck zu gelangen, in dem es Internet – Trommelwirbel: Wireless – gab. Dort versuchte ich, innerhalb der 18 Minuten, die mir mein Akku aus dem letzten Jahrhundert schenkte, einen Text im Sinne der Herausgeber_innen hochzuladen. Si, ya aprendí, dass diese Art der Arbeit doch schwerer ist, als ich sie mir vorstellte. Obwohl die Globalisierung, so der Axolotl, doch fortgeschritten sein müsste, und Europa, der alte Kontinent keinen Dschungel hat, in dem man Funklöcher erwarten könnte; obwohl die Virtualität den Alltag dominiert, gibt es sie, die Freiheit vom Internet – gut oder schlecht sei dahin gestellt. „Arme“, webunbelastete Landschaften existieren und da gibt es auch Menschen! Und sie wissen nichts von der Sucht, der Abhängigkeit, dem vermeintlichen Wohlstand und Luxus, alles googlen zu müssen und ständig mit allen auf Skype kommunizieren zu können. Dort, mitten im „Herzen“ Europas, in Ungarn, Mallorca, Friedrichshain, kommt manchmal die Surrealität der virtuellen Realität nicht an.

Gleichermaßen wird mir die Abhängigkeit bewusst, die Sinnfrage ist impliziert und verschwindet mit dem nächsten Schuss, nein, Klick!

Und dennoch wiegen mich die schönen Momente, die Freude, die mich erfüllt, wenn es doch – fast zufällig, schicksalshaft passt, das Wort, der Satz, der Sinn. Der Klick auf „Speichern“ und die Gewissheit: Wieder einmal konnte ich, ja ich, helfen, dass sich Menschen, die sich sonst nicht verstehen würden, die sich nie gesehen haben, nie sehen werden, nie interagiert hätten, vereint fühlen, in Lyrik und Prosa. In Tiergeschichten, Fragebögen und Marionettenspielen. Und ich erinnere mich an die Menschen, die mich begleitet haben, meine In-Kultas, denen ich nicht genug danken kann. An die Schwere der deutschen Sprache, die plump auf alles Sinnliche reagiert, unwissend in questiones de entregarse havariert, die Armut beweist, bei soziolektischen Lebensweisheiten wie pinche, son oder guey, und die einfach kein glückliches Wort für felicidad hat, vielleicht ist sie schon glücklich, wenn sie denn glücklich ist – was braucht man da schon ein Substantiv?

Wörter sind Kunstwerke, die richtige Wortauswahl ist eine Kunst, ganze Sätze sind ein Wunder! Egal in welcher Sprache, immer, wenn der Inhalt transportiert werden kann.

Eine wundervolle, Realitäten übersetzende Poetin sagte einmal: Ich hätte gerne einen Bildschirm auf meiner Stirn, damit ihr seht, was ich denke, was ich fühle und damit ihr es genauso sehen und fühlen könnt. Dem kann ich mich nur anschließen und hoffen, dass dieser Bildschirm irgendwann erfunden wird, kultur-, grenz- und sprachübergreifend!

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Axolotl Cyborg http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/axolotl-cyborg/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/axolotl-cyborg/#comments Thu, 16 Sep 2010 06:25:16 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1789

Axolotl. Foto: Ethan Hein, http://www.flickr.com/photos/ethanhein/

Ich bin mir sicher, dass sich niemand von euch jemals die Frage gestellt hat, wie die Globalisierung von einen Axolotl, der aus seinem natürlichen Lebensraum entführt wurde, wahrgenommen wird, und der nun in diesem Fischglas, das ich ihm mit viel Liebe hergerichtet habe, lebt.

Die erste Frage, die dem Tierchen bestimmt in den Kopf kommt, ist die nach dem Ursprung meiner Grausamkeit. Aus welchem Grund ich ihn wohl aus seinem wunderschönen Zuhause in der Lagune von Chapultepec, Mexiko, herausgerissen habe, um ihn an diesen kalten, geschlossenen Raum in Guatemala Stadt zu bringen. Er wird auch nie gänzlich diese Geräusche verstehen, die sich durch das Wasser schleichen und ein bisschen Wellengang verursachen. Er zieht es vor, wenn ich ganz laut ganz harte Musik aufdrehe, dann kann er kleine Kunststücke aus seiner Zeit als Surfer in den Pfützen aufführen. Bei Cannibal Corpse flippt er aus. Bei der nationalen Musik steht er auf Evilminded, auf jeden Fall.

Mein Akzent und der meiner Freunde kommt dem kleinen mexikanischen Salamander nicht ganz so fremd vor. Ab und zu benutzen wir den Ausdruck „pinche“ (mex. für unwichtig, scheiße) und es kommt sogar vor, das wir „buey” (mex. für Alter) als Abschluss des Satzes sagen. Auch Rancheras singen wir ganz gut. Und wenn auch nicht ganz so gut, dann wenigstens mit derselben Leidenschaft. Das machte den Umzug für ihn etwas weniger traumatisch. Hier schlagen Los Tigres del Norte auch ein. Klar, wenn wir dann sehr betrunken sind, wollen wir auch „Unseres“ wieder aus kramen und tanzen einen Danzón, zu irgendeinem Stück (das Land der schönen Frauen und der Marimba, sagt man) von Checha y su India Maya Caballero.

Dieser Axolotl ernährt sich von der Musik und der giftigen Strahlung, die der Tagebau in diesen Gebieten hinterlässt. Dank dieser hat er die Fähigkeiten Lesen und Im-Internet-Surfen entwickelt, ohne auch nur eine Tastatur zu benötigen. Ich lebe mit einem telepathischen Froschlurch und er liebt es, in meinen Emails herumzuschnüffeln. Meine Korrespondenz findet er sehr unterhaltsam, mit all ihren Verwirrungen und Leidenschaften. Er taucht in meinen Twitter und vertreibt sich die Zeit damit, die Texte zu lesen, die ich als Forschungsmaterial für den Roman sammle, den ich gerade vorbereite. Es begeistert ihn, alles bezüglich des Transhumanismus und dessen Möglichkeiten als Werkzeug zur Aktivierung einer neuen Form des globalen menschlichen Bewusstseins zu lesen. Er überdenkt und debattiert mit sich selbst ziemlich komplexe Problematiken: ob die Hypervernetzung zum Web der erste Schritt zur Entwicklung eines kollektiven Gehirns ist; ob er der erste Replikant einer neuen Rasse, Axolotl Cyborg, ist; ob ich in Wirklichkeit gar nicht existiere und lediglich ein Hologramm seines Bewusstseins bin.

Plötzlich blickt mir der Axolotl in die Augen, spielt eine Szene aus dieser Erzählung von Cortázar nach. Er fragt sich, ob mit uns dasselbe passiert ist, wie mit diesen Figuren, und ob ich jetzt in seinem Körper stecke und unter seiner so dünnen Haut denke. Ich stelle mir die gleiche Frage, während ich zusehe, wie er sich dreht und einen spektakulären halben Salto macht, der gefährlich nahe daran herankommt, das Universum wieder instandzusetzen. Ich atme ein und aus, und beruhige mich. Ich bin immer noch auf dieser Seite des Fischglases.

Für meinen fluoreszierenden Salamander ist die Sache mit den Sprachen nicht so ganz klar. Regelmäßig vergisst er die Sprache, in der er einen Text gelesen hat, der ihn dazu veranlasst zu denken, dass das Gehirn die Ideen in einem Code versorgt, der nicht notwendigerweise linguistisch ist.Vor kurzem wollte er ein paar farbigen Fischchen erzählen, dass die Poesie der historische (genetische) Mechanismus ist, den wir benutzen, um die Gestaltung dessen, was wir als materielle Realität wahrnehmen, in Frage zu stellen. Das wir uns durch sie, die Poesie, weiterentwickeln. Danach zitierte er elegant ein japanisches Haiku, das eine kleine Reihe von Blasen auslöste. Aber, echt, er hat all das in so einem ernsten und phlegmatischen Tonfall gesagt (wie ein deutscher Philosoph), dass mir das Desinteresse der Fische sehr lustig erschien. Diese Armen wissen ja kaum, ob sie im 21. Jahrhundert oder im Paläolithikum leben. Und, wo wir schon dabei sind, das Siglo de Oro oder die Romantik ist ihnen auch scheißegal.

Mein Axolotl Cyborg wurde durch zu viel Kabelfernsehen schlussendlich von der Werbung erobert.

Er hat sogar ein exzellentes Produkt entwickelt, eine Erfindung, etwas, das er gerne vermarkten würde: eine Serie von Bucheinschlägen von Thomas Pynchon, worin die farbigen Fische ihre Bücher von Paulo Coelho einbinden können. Damit können sie diese lesen, ohne der Diskriminierung der Hipster-Umgebung zum Opfer zu fallen. Ich informiere ihn darüber, dass seine Initiative in diesem Land nicht sehr erfolgversprechend ist, denn die Leute ziehen es sowieso vor, gar nicht zu lesen. Hier ist es hip, nichts zu wissen und zu Partys zu gehen, electroclash. Der Axolotl erschreckt sich, und ich muss ihm versprechen, dass er mich bei meiner nächsten Reise nach Buenos Aires begleiten darf, damit er durch die Buchläden planschen kann. Es gibt dort ein paar sehr gute, erzähle ich ihm.

Ja, dieses Tierchen hat sich langsam zu einem Zyniker und einem Frechdachs entwickelt. Aber die Wahrheit ist, ich akzeptiere ihn so wie er ist, mit all seinen Fehlern. Das ist das mindeste was ich tun kann, bei dem Schaden, den ich ihm zugefügt habe – ihn aus seiner idyllischen natürlichen Umgebung zu reißen (wo er mit Kaulquappen und Industriemüll zusammengelebt hat) und ihn hierher zu bringen, um in einer neuen Landschaft zu leben: in einem Habitat, das aus einem durchsichtigen Fischglas besteht und gegenüber von ein paar Bildschirmen aufgestellt ist.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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